- Neu
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Reul / Mendlewitsch Sicherheit
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-455-02054-0
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Was sich ändern muss
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-455-02054-0
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Herbert Reul, geboren 1952, ist seit 2017 Innenminister von Nordrhein-Westfalen. Zuvor war er einige Jahre im Europaparlament tätig. In seine Amtszeit als Innenminister fallen etliche Maßnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus, Cyber- und Clan-Kriminalität sowie Kindesmissbrauch. Privat ist er ein Familienmensch, hört gerne Musik und versucht wann immer möglich die Spiele von Bayer 04 Leverkusen im Stadion zu verfolgen.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Cover
Titelseite
Widmung
Kapitel
Eine kleine Träumerei
1 Eine Art Spezialfall: Clankriminalität
2 Das Schlimmste, was es gibt: Kindesmissbrauch
3 Eine neue Kategorie: Cybercrime
4 Bedrohliche Entwicklung: Gewalttaten
5 Das Erstarken der Ränder: Extremismus auf dem Vormarsch
6 Was sich ändern muss
Kurze Fragen – schnelle Antworten
Anmerkungen
Über Herbert Reul
Impressum
Was ist eigentlich Clankriminalität?
Bei der Bekämpfung von Clankriminalität gibt es eine Menge Hürden. Die erste ist ganz grundsätzlicher Art, nämlich die Frage: Gibt es so was wie Clans überhaupt? Ich meine, ja. Die offizielle Definition, die die Polizeien aus Bund und Ländern gemeinsam entwickelt haben, besteht aus zwei Teilen. Zum einen beschreibt sie einen Clan als »informelle soziale Organisation, die durch ein gemeinsames Abstammungsverständnis ihrer Angehörigen bestimmt ist«.[2] Der Verband ist hierarchisch organisiert, das Zugehörigkeitsgefühl ausgeprägt. Zum anderen fördert diese Zugehörigkeit das Begehen der Tat sowie die Behinderung der Aufklärung bei kriminellen Delikten von Clanmitgliedern. Die eigenen Normen und Werte werden über die Rechtsordnung gestellt. Das klingt vielleicht ein bisschen soziologisch, ist aber eine gute Arbeitsdefinition.
Nur mal ein Beispiel für diese »eigene« Regelung und den Zusammenhalt selbst verfeindeter Familien. Im Oktober 2023 gab es in Essen eine gewalttätige Auseinandersetzung zwischen zwei türkisch-arabischstämmigen Familien. Beteiligt waren rund 40 bis 50 Personen. Zeugen berichteten, dass Baseballschläger und Äxte zum Einsatz kamen, Autoscheiben zu Bruch gingen. Als die Polizei eintraf, war die Schlägerei schon beendet. Aber die Kollegen konnten vier Verletzte in den umliegenden Krankenhäusern ausfindig machen. Es wurde ein Ermittlungsverfahren wegen Landfriedensbruch, gefährlicher Körperverletzung und Sachbeschädigung eingeleitet. Fünf Durchsuchungsbeschlüsse führten dazu, dass zwei Fahrzeuge und sechs Mobiltelefone sichergestellt wurden. Also eigentlich eine gute Ausgangslage für ein ordentliches Gerichtsverfahren. Aber dazu kam es nicht. Warum? Weil die – immerhin krankenhausreif geschlagenen – Verletzten nicht bereit waren, eine Aussage zu machen. Es mag mehrere Gründe dafür geben, doch zusammengefasst ist es einfach so: Die regeln das unter sich und unter sich. Das ist eine durch nichts legitimierte Paralleljustiz.
Clanbegriff als Diskriminierung?
Es gibt viel Kritik an der Tatsache, dass wir überhaupt von Clans reden und ihnen bestimmte Merkmale zuordnen. Allein das führe schon dazu, dass man eine Menge Menschen in einen Topf wirft und ihnen unterstellt, kriminell zu sein, sie damit also stigmatisiert. Da haben die Kritiker recht, das darf nicht sein. Ich nehme diesen Einwand auch sehr ernst und wische ihn keineswegs leichtfertig vom Tisch. Nur weil jemand in eine bestimmte Familie hineingeboren wird, ist er noch kein Straftäter, wird es vielleicht auch nie. Wir dürfen also nicht jeden verdächtigen, der den Namen einer Clanfamilie trägt. Das tun wir aber auch nicht. Aus ethischen Gründen nicht, aber auch ganz praxisbezogen. Wenn wir pauschal alle Mitglieder für verdächtig hielten, kämen wir auf ein paar Zigtausend. Das entspricht aber nicht dem, was wir rein mengenmäßig an Delikten sehen. Wir wissen, und ich bestätige es hier noch mal ausdrücklich, dass nur ein Bruchteil der Clanmitglieder kriminell ist.
Wenn wir in unserem Lagebild von Clans und Clankriminalität sprechen, dann meinen wir damit, dass wir ein Raster anlegen, um bestimmte Strukturen zu erfassen beziehungsweise im Detail zu betrachten. Es ist eine Arbeitshypothese, mit der wir Muster erkennen können. Klingt trocken, ist es aber nicht. Clankriminalität und organisierte Kriminalität treten oft gemeinsam auf, sind aber nicht dasselbe. Richtig ist: Clans betätigen sich in kriminellen Geschäftsfeldern organisiert und planvoll. Doch außerdem fallen viele ihrer Mitglieder auch durch Alltagskriminalität auf. Das ist beispielsweise ein Unterschied zur Mafia. Ein weiterer besteht darin, dass Clans eben familiär verbunden sind, was sie auch von anderen kriminellen Vereinigungen unterscheidet, etwa Rockern. Noch mal: Längst nicht jeder Clanangehörige mit einem bestimmten Familiennamen ist kriminell. Und nicht alle sind bis in die kleinsten Verästelungen direkt miteinander verwandt. Die weit verzweigten kriminellen Kontakte und Verflechtungen stützen sich bei der Clankriminalität allerdings häufig auf verwandtschaftliche Beziehungen oder auf solche, die so verstanden werden. Das Vertrauensverhältnis untereinander und die vollständige Abschottung nach außen spielen dabei eine große Rolle. Die soziale Organisation eines Clans zeichnet sich häufig durch eine hierarchische Struktur, ein ausgeprägtes Zugehörigkeitsgefühl und ein gemeinsames Normen- und Werteverständnis aus.
Typisch für kriminelle Clans ist, dass sie in Großstädten aktiv sind. Besonders betroffen sind die Bundesländer Nordrhein-Westfalen, Bremen, Niedersachsen und Berlin. Ein Grund dafür ist der Niedergang der Industrie in einigen dieser Regionen in den 1980er-Jahren. Insbesondere im Ruhrgebiet standen als Folge viele Wohnungen und Häuser leer oder waren sehr billig zu haben. Deshalb haben sich dort viele Flüchtlinge niedergelassen und natürlich andere nachgezogen. Das ist ja logisch: Als Migrant geht man möglichst dorthin, wo man jemanden kennt. Weil einem das Netzwerk hilft, in der Fremde Fuß zu fassen. Viele Bundesländer haben so gut wie kein Problem mit Clans. In der Innenministerkonferenz hören mir die Kollegen der anderen Länder immer sehr interessiert zu, haben aber den Eindruck, dass es sie nicht betrifft. Wir stellen unsere Erkenntnisse zur Verfügung, und wer meint, es könnte sich lohnen, mal genauer draufzuschauen, ist herzlich willkommen.
Die Hauptgeschäftsfelder der Clans sind Drogenhandel, Zwangsprostitution und Menschenhandel, Geldwäsche und illegales Glücksspiel – mit internationalen Verbindungen. Der Kampf gegen diese Kriminalität wurde als sicherheitspolitisches Ziel im Koalitionsvertrag damals, als ich Minister wurde, festgelegt, und auch bereits vor dieser Regierung gab es Debatten über dieses Problem. Ich fand, dass man es nun anpacken müsse.
Als ich begann, mich damit zu beschäftigen und mir zu überlegen, was man unternehmen könnte, erhielt ich eine Menge wohlmeinende Ratschläge. Die überwiegende Mehrheit lautete zusammengefasst: »Lass das lieber, es ist ein heißes Eisen, und du kannst nicht viel gewinnen dabei. Kriegst nur Ärger.« Ja, das kann man so sehen, und der Ärger ist tatsächlich auch nicht ganz gering. Als mir die Fachleute vom Landeskriminalamt (LKA) die Dringlichkeit des Themas erklärten, wiesen sie mich auch auf die Risiken hin. »Man wird Ihnen vorwerfen, dass Sie ganze Familien stigmatisieren, und am Ende gelten Sie außerdem als ausländerfeindlich.«
Mir war aber klar, dass man gar nicht erst anzufangen brauchte, wenn man das Problem der Clankriminalität nicht beim Namen nannte. Denn die Existenz dieser Strukturen und Delikte ist exakt das, was das Vertrauen in den Staat unterminiert. Das ist etwas anderes als ein »normaler« Krimineller, der sich persönlich bereichert und den wir erwischen oder blöderweise eben nicht. Das kommt halt vor, dafür hat jeder Verständnis. Doch die Waffen strecken vor systematischen Vergehen, vor der totalen Missachtung der staatlichen Autorität – damit würden wir den Rechtsstaat aufgeben. Wir würden akzeptieren, dass sich hier jemand den Prinzipien und Werten unserer Gesellschaft überlegen fühlt und seine eigenen Regeln befolgt. Das wäre das Ende des Rechtsstaats. Deshalb ist es mir so wichtig zu zeigen: Wir gucken nicht weg, wir lassen uns das nicht gefallen, wir unternehmen was dagegen.
Auf der Suche nach einem Muster
Wir – das heißt die Beamten und Spezialisten im Landeskriminalamt und ich – haben also geschaut, wo man anpacken kann. Wir haben festgestellt, dass uns eine Auswertung auf Grundlage von Staatsangehörigkeit oder Geburtsort nicht weiterbringt, weil häufig Dokumente fehlen, Identitäten unklar bleiben und Staatsangehörigkeiten aufgrund der Migrationsgeschichte stark variieren. Um den zu analysierenden Personenkreis einzugrenzen, haben wir deshalb zur Identifizierung solche Familiennamen gewählt, die den Erkenntnissen aus der Polizeiarbeit zufolge typisch sind. Die Namensliste wird fortlaufend aktualisiert, im Lagebild 2023 sind 118 Familiennamen identifiziert. Es sind die Namen von türkisch-arabischen Familien, manchmal mit unterschiedlichen Schreibweisen, aber alles in allem etwas über hundert Familien. Zehn von diesen Namen beziehen sich auf ungefähr die Hälfte der Tatverdächtigen (46,3 Prozent).[3]
Ich muss es noch mal betonen: Nicht jeder, der einer dieser Familien angehört oder einen entsprechenden Nachnamen trägt, ist ein Krimineller. Aber eine relevante Anzahl von Vergehen kann man einigen wenigen Namen zuordnen.
Ich habe anfangs gezögert, das so deutlich auszusprechen, denn natürlich kann es passieren, dass jemand zu Unrecht verdächtigt oder ganz allgemein stigmatisiert wird, weil er halt den Namen einer Clanfamilie trägt. Kinder werden in der Schule gemobbt, die Arbeitssuche wird erschwert oder was auch immer. Das ist schlecht. Von einer genetisch begründeten Kriminalität eines Menschen gehe ich wirklich nicht aus. Ich musste jedoch abwägen und habe mich dafür entschieden, ein Lagebild Clan-kriminalität zu erstellen, das tatverdächtige Personen mit von den Ermittlungsbehörden als clanrelevant definierten Familiennamen in Beziehung bringt. Es geht nur um Großfamilien, die Bezüge zur Bevölkerungsgruppe der Mhallamiye oder zum Libanon aufweisen. Es ist eine Methode, die nicht optimal ist, aber die Alternative wäre, dass ich gar nichts tue. Wir hängen diese Namen auch nicht an ein öffentliches Schwarzes Brett, nicht mal im...