E-Book, Deutsch, Band 14, 217 Seiten
Retzlaff Zwangsstörungen von Kindern und Jugendlichen
2. Auflage 2019
ISBN: 978-3-8497-8203-0
Verlag: Carl Auer Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 14, 217 Seiten
Reihe: Störungen systemisch behandeln
ISBN: 978-3-8497-8203-0
Verlag: Carl Auer Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Rüdiger Retzlaff, Dr. sc. hum. Dipl.-Psych.; Psychotherapeut, Kinder- und Jugendpsychotherapeut; Vorstand und Lehrtherapeut am Helm Stierlin Institut, Studienleiter der Approbationsausbildung Systemische Therapie, Leiter der Weiterbildung Systemische Kinder- und Jugendpsychotherapie; Lehrtherapeut für Systemische Therapie und Systemische Therapie mit Kindern und Jugendlichen, Lehrender Supervisor, Lehrender Coach; Supervisor für Psychodynamische Therapie, Verhaltenstherapie und Hypnotherapie; niedergelassen in eigener Praxis in Heidelberg; Ehrenmitglied der Systemischen Gesellschaft (SG); Gutachter für Systemische Therapie bei der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Veröffentlichungen u. a.: 'Einführung in die systemische Therapie mit Kindern und Jugendlichen' (2013), 'Zwangsstörungen von Kindern und Jugendlichen' (2019), 'Systemische Therapie - Fallkonzeption, Therapieplanung, Antragsverfahren. Ein Leitfaden' (2021).
Zielgruppe
Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten
Kinder- und Jugendlichenpsychiater
Systemische Therapeuten und Berater
Erziehungsberater
Familienhelfer
Kinderärzte
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Medizinische Fachgebiete Kinder- & Jugendpsychiatrie
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychotherapie / Klinische Psychologie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychotherapie / Klinische Psychologie Systemische Beratung & Therapie
Weitere Infos & Material
1Einleitung
1.1Zwänge im Leben von Kindern und Jugendlichen
Bei Zwangsstörungen gibt es in der Regel eine ausgeprägte interaktionelle Einbettung der Symptomatik, was sie für systemische Therapeuten besonders interessant macht.
Einer der ersten Patienten, den ich überhaupt gesehen habe, war ein Mann mit einem auffälligen Waschzwang. Er wurde in einer psychosomatischen Klinik behandelt, in der ich zu Beginn meiner Tätigkeit als Psychologe hospitierte. Seine Frau konnte er nur berühren, wenn er sie zuvor mit Sagrotan desinfiziert hatte. Rasch fiel mir auf, dass es ihm keinerlei Schwierigkeiten bereitete, jüngeren Mitpatientinnen nahezukommen und sie in den Arm zu nehmen. Trotz der einzeltherapeutischen Orientierung der Fachklinik war es offensichtlich, dass seine Zwänge nicht allein innerpsychisch zu verstehen waren, sondern eine Metapher für Besonderheiten seiner Partnerschaftsbeziehung darstellten. Bei Kindern wirken Zwangssymptome zunächst meist recht harmlos – die Schuhe werden exakt »geparkt«, ein Schüler macht seine Hausaufgaben super genau und benötigt für deren Erledigung sehr lange, oder ein Mädchen besteht auf einem ausführlichen Gute-Nacht-Ritual, das sich lange hinzieht. Verständlicherweise sind viele Eltern zunächst der Auffassung, diese Verhaltensweisen würden sich mit der Zeit von alleine legen. Manchmal werden allerdings schon jüngere Kinder von Zwängen sehr gequält:
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Zwangskrankheiten chronifizieren leicht. Sie können das gesamte Leben des Kindes prägen und eine erhebliche Belastung für das Familienleben darstellen. Wenn Zwänge lange bestehen, fallen sie mitunter sehr drastisch aus und dominieren den Alltag:
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Für viele Kinder sind ihre Symptome schambesetzt. Sie fürchten, nicht normal zu sein, und verschweigen die Inhalte ihrer Zwangsbefürchtungen, weil diese anstößig sind (»Du könntest jemanden verletzen wollen«, »Du könntest mit Kindern Sex haben wollen …«). Nicht selten offenbaren Kinder oder Jugendliche ihre Zwänge deshalb erst mit großer Verzögerung.
In extremen Fällen dominieren die Zwänge das Leben des Kindes und seiner Familie fast vollständig. Aus Furcht, sich zu verunreinigen, wird das eigene Zimmer nicht mehr verlassen, das morgendliche Reinigungsritual in der Dusche nimmt mehrere Stunden in Anspruch. Oder ein Kind verharrt regungslos auf dem Weg in die Schule, weil es nicht weiß, ob es den rechten oder den linken Fuß vorsetzen soll. Manche Kinder üben regelrecht Terror aus, wenn sich Eltern oder Geschwister nicht an die vom Zwang vorgegebene Ordnung halten – wenn etwas »falsch« auf den Tisch gestellt wird, wenn der kleine Stiefbruder das Handy oder die Mütze anfasst oder der Vater bei der Heimkehr nicht beim Gehen leise genug auftritt und mucksmäuschenstill läuft. Manchmal wird lautstark damit gedroht, handgreiflich zu werden, wenn die Zwangsordnung von den Familienmitgliedern nicht akribisch befolgt wird.
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Intensivere Zwangssymptome schränken das Leben betroffener Kinder bzw. Jugendlicher und ihrer Angehörigen erheblich ein und verursachen ein hohes Ausmaß an Leid. Obwohl diese Verhaltensweisen von außen absurd erscheinen, fühlen sich das Kind oder der Jugendliche und seine Angehörigen genötigt, den »Tanz um das Symptom« fortzusetzen.
Ein problem- bzw. symptomorientierter Betrachtungsfokus wäre zu eng gewählt: Zwänge sind mehr als der Ausdruck eines innerpsychischen Geschehens oder ein fehlgeleitetes Verhalten; sowohl der Personen- als auch der Ortskontext sind von Bedeutung. Zwänge sind häufig ortsgebunden oder treten in Anwesenheit bestimmter naher Angehöriger auf. Wie andere Symptome auch lassen sie sich besser unter Berücksichtigung des interpersonellen Kontextes verstehen, innerhalb dessen sie auftreten (Combrinck-Graham 1989; Wachtel 1987).
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An anderen Orten oder in Anwesenheit bestimmter Personen gelingt es dagegen sehr viel leichter, das Zwangsverhalten zu lassen. Bei günstiger affektiver Rahmung – wenn man sich sehr wohl fühlt, weil der Freund oder ein Elternteil da ist, zu dem eine gute Beziehung besteht, oder wenn man einer Lieblingsaktivität nachgeht und man sich entsprechend gut fühlt – verliert der »Zwang« oft seine Macht. Der Faktor Zeit ist für das Verständnis von Zwangsymptomen ebenfalls bedeutsam: Bei manchen Kindern fluktuieren die Zwänge, sind während der Ferien fast vergessen, melden sich aber mit Beginn der Schulzeit in alter Stärke wieder. Bei anderen jungen Patienten verschlechtert sich die Symptomatik über die Zeit, anderen gelingt es, sie eine Zeit lang wegzuschieben. Aus therapeutischer Sicht ist es spannend zu erfahren, wann es Ausnahmen vom »Zwangs-«Verhalten gibt und was dazu beiträgt, stärker zu sein als die Symptome.
Die Inhalte von Zwangsgedanken und -handlungen variieren. Gemeinsamer Nenner der verschiedenen Symptome ist eine geringe Toleranz für innere Anspannung und unliebsame Gefühle. Ausgeprägte Zwänge mögen für Außenstehende befremdlich wirken. Sie basieren jedoch auf nachvollziehbaren psychologischen Prozessen, die allen Menschen potenziell gegeben sind.
Um scheinbar »abweichendes«, »psychopathologisches« Verhalten verstehen zu können, hilft es, allgemeine Grundsätze der Entwicklungspsychologie zu beachten. Bei Kindern im Alter von vier bis sechs Jahren lässt sich beobachten, wie sie mit großer Begeisterung Bauklötze, Legosteine und andere Objekte sortieren und nach Formen und Farben ordnen, was ihnen eine große Befriedigung verschafft. Ein Legostein mit der »falschen« Farbe fühlt sich nicht gut an und wirkt fehl am Platz. Vielleicht kann dieses Verhalten als ein Relikt aus der Zeit der Jäger und Sammler verstanden werden, in der unermüdliches Sammeln von Beeren, ohne aufhören zu können, einen Überlebensvorteil hatte.
Kinder lieben kleine und große Alltagsrituale: das abendliche Vorlesen beim Zubettgehen mit Gutenachtkuss, das allwöchentliche sonnabendliche Baden mit anschließendem gemeinsamen Anschauen des Samstagabendfilmes, spirituelle Rituale wie Gebete und Fürbitten und natürlich jahreszeitliche Rituale. Diese ritualisierten Abläufe vermitteln ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit und wirken Kinderängsten entgegen. Vor einer wichtigen Klassenarbeit, einem Referat oder bei einer Verabredung mit einem Jungen oder Mädchen ziehen Jugendliche gerne ihre Lieblingskleidung an, einfach weil...