Rettinger Die Klasse
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-552-05868-2
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Thriller
E-Book, Deutsch, 480 Seiten
ISBN: 978-3-552-05868-2
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dominik W. Rettinger, geboren 1953, ist Drehbuchautor, Filmregisseur und Autor. Er schloss die Staatliche Hochschule für Film, Fernsehen und Theater in Lódz ab und studierte Regie an der Kunsthochschule Berlin-Weissensee. Die Klasse, sein erstes Buch, erschien 2014 in Polen und 2017 auf Deutsch.
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Kozlowski sprach fließend Polnisch, aber mit einem starken amerikanischen Akzent; seine Stimme klang verärgert: »Man kann doch nicht über anderthalb Milliarden transferieren, ohne Spuren zu hinterlassen!«
Hilarewicz breitete die Arme aus. »Die Überweisung ist über mehrere Banken gelaufen.«
»Du hattest doch schon eine Spur von Lasota.«
»Wir finden ihn, das ist nur noch eine Frage von Stunden. Versprochen.«
Kozlowski steckte sich eine Zigarette in den Mund. Nina holte sofort ein Feuerzeug hervor und zündete sie ihm an. »Ich will als Erster mit ihm sprechen«, sagte Kozlowski, den Rauch einsaugend.
»Natürlich.«
Der Generaldirektor der East Fund drehte sich um und betrat den Aufzug. Nina ließ Hilarewicz vor. Die Tür schloss sich hinter ihnen, der Aufzug fuhr nach unten.
»Ich wünsche ein Treffen mit dem Innenminister. Und mit dem Bankdirektor. So schnell wie möglich«, forderte Kozlowski.
»Ja, Herr Direktor.« Nina nickte eifrig.
Kozlowski wandte sich zum Spiegel an der Kabinenrückwand um und brachte seine von den Hubschrauberrotoren zerzausten Haare in Ordnung.
»Wenn das Geld und Lasota sich nicht innerhalb von ein paar Tagen finden, werden Köpfe rollen«, sagte er mit Nachdruck. »Haben wir uns verstanden?«
Hilarewicz wollte antworten, doch nach kurzem Zögern beschloss er, den Mund zu halten. Er hatte längst gelernt, dass schweigende Menschen sich des größten Respekts erfreuten, besonders in schwierigen Situationen.
»Ich habe Ewas Gesprächspartner identifiziert«, sagte Bozena leise, ohne den Blick vom Bildschirm ihres Laptops zu heben.
»Sag.« Stefan sah sie neugierig an.
»Wlodek Kolosa, zweimal verurteilt, Betrug und Raubüberfall. Hat Kontakte zum kriminellen Milieu.«
»Verdammt!« Stefan sah Ewa an, die gerade die Halle betrat.
»Wirst du Karol Bescheid sagen?«, fragte Bozena.
»Klar. Wir müssen feststellen, was sie an diesen Kolosa weitergeleitet hat. Und wann«, sagte er mit unterdrückter Wut. »Installiere einen Filter auf ihrem Computer. Alles, was sie wegschickt und bekommt, soll über mich gehen. Ich ordne die Observierung von Kolosa an, und wir nehmen ihn fest, wenn wir genug wissen.«
»Und sie? Sollten wir sie nicht ausschließen? Oder auch festnehmen?«
»Ganz ruhig, dafür haben wir noch Zeit.«
Bozena nickte kurz, ihre Finger hämmerten energisch auf die Tastatur. Der Laptop an Ewas Arbeitsplatz schaltete sich ein, der Bildschirm blitzte hell auf. Stefan erhob sich und ging in die Wohnecke des Hangars, unterwegs schloss er den Deckel des leuchtenden Laptops.
Ewa stellte gerade eine Espressokanne auf den Herd. Stefan schob ihr Handy in die Tasche ihrer Jacke.
»Da hast du es wieder, aber schalt es besser aus.«
Sie lächelte dankbar. »Kommt nie wieder vor.«
»Klar.«
Stefan ging an ihr vorbei und trat auf den Gang. Er schloss die Tür hinter sich und wählte auf seinem Handy eine Nummer. »Karol? Möglicherweise haben wir den Maulwurf gefunden.«
Adam und Agata lagen im Bett, die Gesichter einander zugewandt; sie sahen sich direkt in die Augen. Sie hatten gerade ein leises Gespräch über Damian und Klaudias Forderung beendet. Adam hatte versprochen, Piotrs Fall nicht weiterzuverfolgen. Und gemeinsam hatten sie beschlossen, am nächsten Morgen zu Freunden zu fahren, die in den Masuren wohnten.
Adam fühlte sich ruhig und entspannt. Er rückte näher an Agata heran und begann, ihre Lippen und Augen zu küssen. Sie gab sich seinen Zärtlichkeiten hin, ihr Atem wurde schneller, genau wie seiner. Dann schlüpfte sie aus ihrem Nachthemd und schmiegte sich mit nacktem Körper an ihn.
Da klopfte es an der Tür. Adam erstarrte und wich ein wenig zurück. Agata beruhigte ihren Atem und nickte.
»Ja?«, rief er.
Rafal steckte seinen Kopf herein. »Schlaft ihr?«
»So ist es.« Adam hatte keine große Hoffnung, dass das genügen würde.
Rafal zögerte. »Sorry, Papa. Ich möchte, dass du dir etwas ansiehst.«
Adam bemerkte im Halbdunkel Agatas Lächeln. Sie wusste, dass er Rafal nichts abschlagen konnte.
»Jetzt? Bist du etwa mit dem ganzen Assassin’s Creed durch?«, fragte er mit ironischem Unterton.
Die Zeit, die sein Sohn für Computerspiele vergeudete, war die einzige Quelle ihrer Auseinandersetzungen.
»Ach komm, ich würde dich wegen so einem Blödsinn doch nicht stören«, protestierte Rafal.
Adam seufzte. »Warte, ich komme gleich.«
»Danke.«
Rafals Kopf verschwand hinter der Tür. Adam blickte in Agatas lachende Augen. »Schlaf nicht ein … Wir haben noch etwas zu erledigen …«
Agata hob den Kopf und küsste ihn auf den Mund. »Das hoffe ich. Beeil dich, ich warte.«
Adam betrat in Jeans und T-Shirt das Zimmer, das Rafal bezogen hatte. In Wahrheit machte es ihm Spaß, die Wünsche seines Sohnes zu erfüllen. Das war schon immer so, von dem Moment an, als er ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Er hatte zu schwache Nerven, um bei seiner Geburt anwesend zu sein, außerdem brachte ihn Agata per Kaiserschnitt zur Welt. Die Krankenschwester kam mit dem in eine Decke eingewickelten Neugeborenen auf den Gang hinaus. Der Junge öffnete plötzlich die Augen und sah Adam an. Einige Sekunden lang betrachteten ihn die dunklen Pupillen mit dem aufmerksamen Blick eines reifen Menschen. Adam war geschockt.
Später beschrieb er seinen Freunden dieses Gefühl: »Als hätte mich eine alte Seele angesehen und gesagt: Aha, du bist also mein Vater. Na gut.« Dann schlossen sich die Augen, und der Junge schlief ein. Als er sie am nächsten Tag wieder öffnete, waren es schon die normalen Augen eines Neugeborenen, vernebelt und ohne Kontakt zur Umgebung. Die alte Seele begann das Leben eines Kindes zu führen.
Von diesem Augenblick an bekam Adams Leben einen neuen Sinn. Er beschloss, seine Arbeit und seine Karriere einem Ziel unterzuordnen: Rafal würde alles bekommen, was in seiner eigenen Kindheit gefehlt hatte – Liebe, Freundschaft, Verständnis, Akzeptanz, Toleranz. Und eine erstklassige Ausbildung.
Agata protestierte, wenn er Rafal verhätschelte, er hingegen fand, dass sie ein gutes Team bildeten – er in der Rolle des toleranten Vaters, sie die strenge Mutter. Er wollte nicht wahrhaben, dass seine Rolle sehr viel angenehmer war.
Dann fing er an, Karriere zu machen. Schnelle, wichtige Gespräche wurde sehr populär, und er zählte auf einmal zu den Promis, obwohl er diese Bezeichnung nicht leiden konnte. Er kam abends müde nach Hause, zu müde, um sich noch auf die Angelegenheiten seines Sohnes zu konzentrieren.
Agata warnte ihn davor, dem Druck des Erfolgs zu sehr nachzugeben und zunehmend aus Rafals Leben zu verschwinden. Während ihrer nächtlichen Gespräche gab er ihr recht und versprach, etwas zu ändern. Doch dann ließ er sich wieder vom Sog der Termine, Interviews und Partys mitziehen.
Wie weit hatte er sich in den letzten Jahren von Rafal entfernt? Oder war das vielleicht ein ganz natürlicher Prozess? Ein Satz, den mal ein Professor der Psychiatrie gesagt hatte, fiel ihm ein: »Um frei zu sein, muss man seine Eltern töten.«
Er öffnete die Tür und sah Rafal über seinen Laptop gebeugt. Also geht es doch um ein Computerspiel oder irgendeinen Quatsch aus dem Internet, dachte er leicht irritiert.
Rafal drehte sich um, seine Augen glänzten. Adam kam näher, warf einen konzentrierten Blick auf den Laptop und zuckte vor Erstaunen und Unruhe zusammen. Auf dem Bildschirm sah er den Code, den Piotr auf dem U-Bahn-Ticket notiert hatte: »I. Vorname – 2, 4, 3, 2, 1, 6, 3, 3; II. Nachname – 1, 3, 2, 4, 3, 5, 1, 3, 5, 4; III. Spitzname – 1, 2, 4, 5, 6, 3, 1, 1.«
Rafal musste den Zettel, auf den er sich den Code zusätzlich notiert hatte, von seinem Schreibtisch genommen haben. Der verdammte Zettel – er hatte ihn völlig vergessen! Vielleicht hatten auch die Gangster ihn gefunden, die in ihrer Wohnung gewesen waren?
»Hast du etwa auf meinem Schreibtisch rumgeschnüffelt? Wo ist der Zettel mit dem Code?«, fragte er in scharfem Ton.
Rafal nahm ein zusammengerolltes Stück Papier vom Tisch und gab es seinem Vater.
»Entschuldige, Papa. Ich wollte ihn zurücklegen, aber dann ging das Ganze los, und ich habe es vergessen …« Rafals Stimme klang unsicher. »Ich wollte den Tacker von deinem Schreibtisch nehmen, und der Zettel lag ganz oben … Und davor hatte ich dein Gespräch mit Mama gehört.«
»Okay, das reicht. Gut, dass er nicht in die Hände der Gangster gefallen ist. Ist das alles? Lösch den Code aus deinem Computer und geh schlafen. Wir fahren morgen früh wieder.«
Adam atmete erleichtert auf, zerzauste Rafals dichtes Haar und machte einen Schritt in Richtung Tür.
»Die römischen Zahlen eins, zwei und drei bedeuten die Bankreihen in eurer Klasse«, sagte Rafal. »Die arabischen, zwei, drei, vier oder sechs, das sind die Nummern eurer Plätze in diesen Reihen. Wer saß also auf Platz zwei, vier, drei in der ersten Reihe. Wer auf Platz eins, drei, zwei, vier und wieder drei in der zweiten Reihe. Und so weiter, bis zum Ende des Codes – sechsundzwanzig Plätze. Wenn wir wissen, wer wo saß, haben wir die Vornamen, Namen und Spitznamen dieser Personen. Manche wiederholen sich …«
Adam drehte sich um und starrte wieder auf den Bildschirm. Wie war es möglich, dass er...