E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Renz Meine Hoffnung lass' ich mir nicht nehmen
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-451-83670-1
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wege der Erlösung und der Spiritualität heute
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
ISBN: 978-3-451-83670-1
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Monika Renz, Dr. phil. Dr. theol., Musik- und Psychotherapeutin, Psychoonkologin am Kantonsspital St. Gallen. Aufgrund ihrer praktischen Erfahrung und ihrer Forschungstätigkeit in den Bereichen Sterben, Spiritualität und tiefenpsychologische Exegese gilt sie als Pionierin der Spiritual-Care-Bewegung. Ihre Veröffentlichungen finden international Beachtung.
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1.Im Letzten ist das Ganze – Grundannahmen und äußerste Befindlichkeiten
1.1Im Ursprung und im Ende eine andere Wirklichkeit
Biologisch und medizinisch betrachtet, wissen wir heute einiges über die Anfänge menschlichen Lebens und dessen Woher. Über die Anfänge des Menschen als geistbegabtes und spirituelles Wesen fast nichts. Was war im Anfang? Was floss vielleicht als Urerfahrung oder Lebensvorgabe mit ins Werden des Menschen ein? Manche glauben, andere nicht, dass es über die messbaren und sichtbaren Vorgaben hinaus eine letztlich verborgene Wirklichkeit gibt, mit der wir in Beziehung oder in Abwehr verbunden sind. Etwas ganz anderes, das alles menschliche Wissen und Forschen transzendiert – Ursprung allen Lebens.
Als Vorstellungshilfe mag eine Legende aus dem Indianischen dienen, die mir ein alter Mann aus einem Reservat vor vielen Jahren erzählte. Hierfür müsse man sich im Sinne eines Vorwissens vor Augen halten, dass es über hundert Begriffe für »grün« gebe. Das Grün einer alten Tanne sei ein anderes als jenes der danebenstehenden jungen Tanne und ohnehin ein anderes als jenes des frischen Laubbaumes. An den vielen Grün würden sie sich orientieren und den Weg von A nach B finden. Der Legende nach sei es so gewesen, dass die Ältesten einst nach dem ›Ursprung allen Lebens‹ fragten, was denn hinter allem stehe. Die Männer seien in einem großen Zelt zusammengesessen und hätten gewacht. Eine Nacht, eine zweite Nacht und eine Übernacht (dritte Nacht) lang. Am dritten Morgen sei klar gewesen: Was hinter allem sei: Woraus wir kommen und wohin wir gehen, sei »GrünGrün«. – Die Legende hat mich nie mehr losgelassen.
Was/wo war der Mensch, bevor er Mensch wurde? Der in diesem Buch vorgestellte Denkansatz geht von einem ungeteilten (non-dualen) Zustand als erste und letztliche, seelisch-geistige Realität des Menschen aus. Das Wort ›ganz‹ umschreibt dies so: Im Ganzen ist alles enthalten, nichts fehlt, nichts bleibt außen vor.
Nahtoderfahrungen und Erfahrungen von Sterbenden geben uns eine Ahnung solchen Seins im Ganzen. Ihnen zufolge fühlt es sich hier überglücklich an, Raum und Zeit sind aufgehoben, die Atmosphäre ist besonders: einladend, ergreifend, heilig. Gott oder die Ganzheit sind irgendwie gegenwärtig, der Mensch fühlt sich einfach wohl, getragen und geliebt. Beschreibungen sind unterschiedlich und doch erstaunlich ähnlich: Dieses andere Sein ist unbeschreiblich schön, ewig. So schön, dass das Wort viel zu flach ist, um den Zustand wiederzugeben. Es geht um eine Schönheit, die nicht wertet. Dieses Sein ist innerhalb der uns bekannten Kategorien nicht denkbar. Ein oft auftretendes Bild, das in heiligen Schriften verschiedener Religionen und Völker auftaucht, ist das Paradies. Weitere Motive Sterbender sind etwa ein Licht, ein schöner Raum, Farben, eine kosmische Ordnung wie der Sternenhimmel oder eine wunderschöne Musik.
Gemäß den hier vorliegenden Grundannahmen entwickelte sich der Mensch einst aus diesem paradiesischen Zustand heraus: als Einzelner und – menschheitsgeschichtlich betrachtet – auch als Gattung entlang der Evolution. Und in diesen überglücklichen Zustand stirbt der Mensch am Ende seines Lebens wieder hinein.
Ein ›Endzustand‹ scheint – wenn ich die Botschaften nicht weniger Sterbender ernst nehme – nochmals anders zu sein als ein Urzustand (vgl. auch Kap. 7.2–7.4). Er wird bald mehr als ein Sein umschrieben, bald mehr in Bildern von Fest, Krönung, Ernte und Friede oder in Gefühlen von Glück und Erfüllt-Sein. Die deutlichste Sprache in den letzten Minuten irdischen Daseins ist atmosphärisch: Viele Sterbende strahlen vor oder während dem Verscheiden einen unbeschreiblichen Frieden, eine Freiheit und ein Einverständnis aus, sodass es auch die Umstehenden ergreift. »Freiii«, sagten zwei Menschen unmittelbar, bevor sie starben. »Ohh« war ein staunendes Wort anderer. Wie der Urzustand, so scheint auch der Endzustand außerhalb von Raum, Zeit, Körperlichkeit und Kausalität zu sein und uns völlig zu übersteigen. Was hingegen in letzten Erfahrungen anders ist: Da findet – nicht immer, aber doch oft – auch Beziehung oder Sinn statt (vgl. Kap. 7).
Mühsam hervorgebrachte letzte Worte oder Traumbilder, die auf eine Beziehung hinweisen, besagen: »Ich bin ›nicht verloren‹«, »ich bin ›gut‹ (würdig)«, »ich werde gelobt«, »ich bin in Ordnung« oder ganz einfach »Jaa«. »Der Spiegel (mit dem eigenen Spiegelbild) ist schön, er wird glanzvoll gemacht.« Es geht um Barmherzigkeit, Wahrheit und Würdigung in einem. Ein Endzustand oder Zielzustand gleicht vielleicht am ehesten dem Himmelreich, so wie Jesus dies immer wieder zu umschreiben versuchte. Sterbende stammeln, stottern und verstummen, sie setzen mehrmals an und schaffen es doch nicht, zu beschreiben, was sie innerlich sehen oder ahnen. Trifft jedoch eine Rückfrage ins Schwarze, bestätigen sie dies so deutlich, dass die Umstehenden fast erschaudern. Manchmal bin ich erinnert an den biblischen Ausdruck Gericht und denke dann obige Eigenschaften hinzu. Auch dort, wo es bei Sterbenden in irgendeiner Form um Würde geht, so geschieht dies nicht im Sinne von selbstbestimmtem Dasein im Ich, sondern von etwas Größerem, Personalem: Da ist eine Beziehung zu einer würdigenden Instanz spürbar.
Zwischen dem Anfang und dem Ende von Leben liegt die einzelne menschliche Entwicklung – und menschheitsgeschichtlich betrachtet: die Evolution. Der Mensch stirbt als der, der er geworden ist, und mit allem, was er einbringt und Gott, dem Göttlichen oder Ganzen zurückbringt. »Das Ich stirbt in ein Du hinein« – ein Vortragstitel, zu dem ich viele wichtige Rückfragen bekam. Zahlreiche Bilder und Anschauungen über ein solch erstes und letztliches Sein sind denkbar – nur eine Aussage widerspricht ihm völlig: die Aussage, alles sei Zufall und ohne Sinn.
1.2Was Sterbende erahnen – Beispiele
Das Ganze ist als Ganzes nicht erfahrbar. Es ist sinnenjenseitig und bleibt Geheimnis. Und doch können Sterbende bisweilen in einer Vision, einem Traum oder über ein prophetisches Wort, über ein Bild, eine Berührung oder eine Musik so tief bewegt werden, dass innere Verspannungen und Abwehrkräfte gleichsam überwunden scheinen. Auch Menschen, die tagelang, selten sogar wochenlang kein Wort mehr hervorbrachten, sagen plötzlich klar und deutlich jenes eine, letzte und oft erlösende Wort, um danach innerhalb von Stunden oder gar Minuten sterben zu können. Oder eine Unruhe geht über in Ruhe. Andere sind stundenlang, selten tagelang in einer mystischen Befindlichkeit und sterben dann. Dies kommt bisweilen und doch nicht nur in Einzelfällen vor und meist bei Menschen, die schon im Vorfeld aufbauende religiöse bis spirituelle Erfahrungen machen durften. Im Folgenden versuche ich, letzte Aussagen, Visionen oder Gnadenmomente wiederzugeben.
»So schön« – stammelte ein Sterbender und gestikulierte nach oben rechts. Er war selbst durch den Pressluftbohrer von nebenan nicht mehr gestört in dem, was er offenbar sah.
»Ein Licht, so schön! Daneben gibt es nichts anderes.« – Mehrere Sterbende sahen ein Licht.
»Ein Lichtnetz. Ahhh.« Beim Nachfragen: Das Netz war angeordnet wie ein Spinnennetz. Es gehe durch den Raum hindurch und darüber hinaus.
»Eine blau-violette Aura. Ein Himmel voll Blau … weit.«
»Rund. Ein (runder) Platz. – Weihrauch.«
»Grün, grün – frische grüne Hügel.«
»Die grüne Wiese«, formulierte eine sterbende Muslimin. Sie starb in die Wiese hinein.
»Blumen, Blumen – viele Blumen.«
»Warum bin ich denn jetzt wieder zurückgekehrt?«, fragte ein Mann. »Es war doch soooo schön … Farben, Regenbogen.« Nach einer nochmaligen Unruhe verstarb er still.
Ein sterbender Physiker zeichnete Formeln in die Luft. Es gebe DIE EINE Formel, versuchte er zu stammeln. Darin gehört, verschied er.
Aus einem brockenhaften Gespräch mit einem Mathematiker über das, was er innerlich schaute und mir mit letzter Kraft beschrieb: Nicht dreimal schöner als unsere Welt sei das Geschaute (1:3), nicht 10-mal schöner … sondern: »tau-se-nd« (1 : 1000).
Unruhig sagte ein sterbender Mann mehrfach: »hinüber, hinüber«. Er zeigte diagonal nach schräg oben. Die Ehefrau und die Pflegenden wollten ihn umlagern. Nachdem das nicht half, kam mir der Gedanke »Übergang in die andere Welt«. Ich sprach dies aus, wohl wissend, dass er meine Worte mit der Vernunft nicht verstehe. Und ich erklärte, dass dieses Hinübergehen einem Übergang oder Überstieg gleichkommen könne, »wie diagonal«. Mit diesem Wort entspannte er sich völlig, blieb es und starb. Seine Frau war beeindruckt.
Eine Frau, unruhig und mit Zuckungen, wurde plötzlich erfasst von einer Ruhe. Ihr Körper richtete sich gerade, sie strahlte und sprach: »ohh«. Ihre Töchter begriffen: »Jetzt stirbt sie«. Und sie atmete zum letzten Mal aus.
»Die Erfahrung war’s dann …«, stammelte Hans-Rudolf Utzinger in seinen letzten Atemzügen und starb. Gemeint war eine Gebetserfahrung, die den unruhigen Sterbenden für den Rest seiner Tage völlig zur Ruhe brachte. Er, nicht religiös und enttäuscht von Gott, erahnte dabei die Mächtigkeit Gottes, in dessen Gegenüber er ja nur »ein Wurm« sei. Und dann, neuartig gebetet, erfuhr er sich – nicht als Herr Utzinger, sondern als Hans-Rudolf – diesem Absoluten gegenüber weder als Wurm...