E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Renz Grenzerfahrung Gott
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-451-82685-6
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dem Geheimnis nahe in Leid und Krankheit
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
ISBN: 978-3-451-82685-6
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Viele Schwerkranke Menschen und Menschen in Not machen intensive spirituelle Erfahrungen. Gotteserfahrung ist Grenzerfahrung: Sie ereignet sich bald im Durchstehen innerer und äußerer Krisen, bald im Loslassen, bald im tiefen Finden seiner selbst. Gnadenerfahrung von Berufung, Sinn, Liebe, Heimat. Monika Renz berichtet eindrücklich aus ihren Erfahrungen an Kranken- und Sterbebetten und ihrer Begleitung von Menschen mitten im Leben. Sie zeigt Wege moderner Gottsuche auf, und erzählt, was Menschen dabei erleben. Gott wird ganz von der Erfahrung her erahnt: als Sein oder Kraft, als Bundespartner und Beziehung. Mit vielen Beispielgeschichten und einem Überblick über spirituelle Erfahrungen. Ein ergreifendes Buch.
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1. Gotteserfahrung – Erfahrung von Gnade
1.1 Ist Gott erfahrbar?
Ob es Gott gibt oder nicht, diese Frage erhitzt die Gemüter nicht mehr. Die Meinungen sind weitgehend gemacht, zumindest in Westeuropa. Gott ist weder beweisbar noch widerlegbar. Unter den Nägeln brennt die Frage nach Spiritualität und der Erfahrung. Ist Gott, ist das Göttliche erfahrbar? Kann man solchen Erfahrungen Glauben schenken? Haben sie einen Einfluss auf unser Leben? Immer wieder werde ich von kranken wie gesunden Menschen im Nachgang einer vielleicht eindrücklichen oder gar fast nebensächlichen Erfahrung oder eines Traumes gefragt: „War das eine Erfahrung von Präsenz, von Transzendenz, von Gott“? Es folgen drei Beispiele: Ein Erlebnis wurde mir persönlich vor Jahren zum Initialzünder im Thema Gottnähe und Spiritualität. Es begann mit folgendem Traum: „Ich sitze in einem kleinen Auto. Es ist mein Wagen und doch sieht er anders aus. Plötzlich steht daneben ein riesiger Bär, zehn Meter groß. Er ist im Begriff, mich mitsamt dem Auto zu verschlingen. Es gelingt ihm nicht. Dreimal dasselbe Geschehen, derselbe Schreck. Haarscharf am Tod vorbei, bin ich schlussendlich gerettet. Neben mir steht das zerstörte, glänzend gewordene Auto. Ich sage resolut: „Jetzt ergreife ich das Steuer“. – Tags darauf fliege ich zu einem Kongress, Thema: Spiritualität. Im Anschluss an meinen Vortrag werde ich, wie nie zuvor, mit Fragen bestürmt: Ob ich persönlich an die Möglichkeit von Gotteserfahrung glaube? Ob das, was Menschen dann erleben, wirklich Gott sei? Nach dem Kongress werde ich in einem kleinen Auto auf der dreispurigen Autobahn im Abendverkehr zum Wiener Flughafen chauffiert. Plötzlich fährt bei Höchstgeschwindigkeit rechts neben uns ein anderes Auto auf uns zu. Schleudern – nach links, nach rechts, nach links … dann ist nur noch Licht, blendendes Licht da. Endlich kommt das Auto zum Stehen, halbwegs quer zur Fahrbahn. Ein Bus donnert auf uns zu und vermag gerade noch zu bremsen. Unser Auto ist noch fahrtauglich. Ich steige vom Rücksitz aus und sage: „Jetzt fahre ‚ich‘.“ Wie ich mich am Flughafen verabschiede, schaue ich nochmals zum Auto zurück und erschrecke: So ähnlich hatte das Auto im Traum ausgesehen. – War das eine Erfahrung mit Gott? Was soll ich damit anfangen? Wie kann ich meinen Traum im Vorfeld dieses Ereignisses verstehen? Mich schauderte über Tage. Eines weiß ich seither: Spiritualität hat mit einem in menschlichen Ordnungen nicht fassbar „Großen“ (Traumbild riesiger Bär) zu tun. Und der Umgang damit setzt vonseiten des Menschen Autonomie (Traumbild Auto) und ein steuerungstüchtiges Ich voraus. Und ich überlege: Ich wäre töricht oder eine verbissene Atheistin, würde ich nicht an meine Erfahrung und an Gott dahinter glauben. Umgekehrt wäre ich sektiererisch, würde ich mir nicht auch meine Zweifel und eine nüchterne Distanz erlauben. Norbert Noth, ein Sterbender Mitte 50, weiß nicht, ob er sich selbst als Christ oder als Buddhist verstehen soll. Er hat sich von allen verabschiedet und stirbt doch nicht. Zwei Wochen ist er da, einfach um da zu sein, wie er einmal sagt. Monochordklänge berühren ihn. Er begreife nicht, was ihm da geschehe. Eigentlich sei da ja nichts als Ton. Aber dieser Ton habe ihn erschüttert wie Meereswogen. Er habe Musik sonst nie so sinnlich einfach gehört. Es war die Musik und doch viel mehr: „Mit der Musik war etwas da. Wie wenn ich die Atmosphäre schwingen höre.“ – „War eine Präsenz spürbar?“, frage ich vorsichtig. Tage studiert er dieser Frage nach und versinkt immer mehr in einen anderen Bewusstseinszustand, ist manchmal kaum erreichbar. Ein zweites Mal berührt ihn diese Musik. Kommentar: „Die Töne mit den Obertönen sind wie ein Himmelszelt, in welches ich hineinfalle oder -fliege. Ob fallen oder fliegen, spielt keine Rolle mehr, ist dasselbe. Ob Christ oder Buddhist auch nicht. Nur eines ist wichtig: Präsenz! Etwas ist da, und ich bin da, aber bald nicht mehr.“ Immer schweigsamer wird Herr Noth, immer dichter die Atmosphäre um ihn herum, in die er schließlich still hineinstirbt, das Geheimnis um seine letzte Identität mitnehmend. Karin Kaufmann, einer kinderlosen, kirchenfernen Akademikerin, geht es von Tag zu Tag schlechter. Unsere ersten Gespräche handeln von Beziehungsproblemen und ihrer Schwierigkeit, sich berühren zu lassen. Jetzt liegt sie mit aufgesperrten Augen, Schmerzen, Atemnot und panischer Angst vor der Intensivstation da. Ich rege sie in einer Klangreise dazu an, imaginativ ein Licht durch ihren Körper führen zu lassen. Sie solle sich zuschauen, wo das Licht aufgenommen werde, wo weniger, wo es angenehm sei, wo nicht. Religiöse Worte fallen keine. Die Erfahrung beschreibt sie als dicht: „Das war Engelnähe. Das Licht wurde größer, kam von außen und war wie Jesus, der mir sagte: Du überlebst es, lass es zu.“ Nach einem weiteren Eingriff sagt sie: „Das Licht war auch auf der Intensivstation da, wie eine Nahtoderfahrung.“ 1.2 Ein Phänomen – verschiedene Namen
Transzendenzerfahrung, spirituelle Erfahrung, Gotteserfahrung sind drei Begriffe, die Ähnliches meinen und doch in je eigener Nuance. Transzendenzerfahrung kommt vom lateinischen Begriff transcendentia (= das Übersteigen). Sie verweist auf etwas, was durch Erfahrung ausgelöst wird und zugleich über sie und die Realitäten dieser Welt hinausweist. In den eben genannten Beispielen waren die Menschen erschüttert oder durchströmt, ein Licht brach in ihr inneres Dunkel ein, sie hatten ein Aha-Erlebnis im Glauben, das auf die andere – göttliche – Dimension hin öffnete. Der Begriff Transzendenzerfahrung wird in der Palliative Care vor allem für spirituelle Erfahrungen von Atheisten (McGrath, 2005) verwendet. Dieser eingeschränkte Blickwinkel wird im Folgenden nicht übernommen. Gotteserfahrung bringt Gott ins Spiel. Auch das Absolute, Gewaltige, aber auch das Unbequeme der Erfahrung. Vor dem Ausdruck Gotteserfahrung schrecken viele Menschen zurück, die einen, weil gefangen in Aversion, die andern aus Respekt, weil sie dieses letzte Wort vor dem Verschweigen (vgl. Rahner, 1969) lieber Geheimnis sein lassen. In diesem Buch tritt noch ein dritter Grund für das Zurückschrecken hervor: hinter vermeintlichen Allergien liegt oft eine menschliche Urerfahrung mit dem Numinosen, die als unbedingt, hautnah und darin als zutiefst überfordernd vorgestellt werden muss. Ein kleines Ich begegnet (im entferntesten Sinn des Wortes und doch bisweilen fast leibhaftig) dem, was wir Gott nennen. Gott ist dabei immer auch als das riesige, unendliche Ganze zu begreifen. Mein eigenes oben erwähntes Beispiel sprach von einem überdimensioniert großen Bären und von einem blendenden Licht. Andere Menschen träumen von einem Elefanten, der übrigens im Indischen ein heiliges Tier darstellt. Der Begriff Gotteserfahrung rückt den Aspekt der unmittelbaren Begegnung ins Zentrum und gleichzeitig den unüberbrückbaren Unterschied zwischen dem kleinen wehrlosen Menschen und dem unfassbar großen Gegenüber. Dieses wird bald schützend, rettend, lebenspendend, bald bedrohlich bis überwältigend erfahren. Angesichts eines solchermaßen Bedrohlichen entstand vor Urzeiten ein „Tabu Gott“. Tabuisiert ist der erfahrbare Gott selbst. Das Tabu wird immer neu durch entsprechend schauerliche Erfahrungen am Rande des Unbewussten genährt. Über Jahrhunderte wurde Gottes unmittelbare Erfahrbarkeit aus den kirchlichen Lehren ausgeklammert und nur von Mystikern in ihren randständigen Positionen eingebracht. Heute nicht minder verdrängt ist auch der Aspekt der Verbindlichkeit. Wo von Gotteserfahrung die Rede ist, ist der Mensch ungleich stärker angebunden und zur verantwortenden Haltung herausgefordert als dort, wo allein vom Göttlichen, vom Kosmos oder vom großen Sein gesprochen wird. Nur die wenigsten Menschen sind schlicht offen für ganz unterschiedliche Gotteserfahrungen, solche, die dem jüdisch-christlichen Gedankengut entsprechen neben ganz anderen. Spirituelle Erfahrung: Im Wort „spirituell“ wird das Phänomen sehr offen erfasst. Der Begriff wird heute unterschiedlich verwendet, im weiten Spektrum zwischen ganzheitlichem Well-being, Bewusstseinserweiterung und Mystik. Peng (vgl. Vögeli, 2021) definiert Spiritualität als Offenheit für das Transzendente (S. 10). Begriffsgeschichtlich betont das Wort Spiritualität die Erfahrung mit Gott, mit dem Göttlichen. Derweil Religiosität auch die je eigene Überzeugung und Einstellung meint, steht das Wort Spiritualität für die Erfahrungsdimension von Religion. „Spiritualis“ ist das lateinische Wort für das griechische „pneumaticos“ und meint „geistgewirkt“. Das Verb pneo heißt: atmen, wehen, riechen. Der Ausdruck „spiritualis“ stand im 2. Jahrhundert nach Christus für die hochgeistige innere Erfahrung, die ein erwachsener Täufling bei seiner Taufe machen durfte – oder auch nicht. Aus der Erfahrung erwuchs geistesgeschichtlich betrachtet mehr und mehr eine jeweilige, spezifische Haltung und Frömmigkeit. Spiritualität stand sodann für ein Leben aus dem Heiligen Geist. Mönche, Wüstenväter, Mystiker berichteten davon. Nach 1700 tauchte im Französischen das Wort „spiritualité“ auf. Es drückte die persönliche Beziehung des Menschen zu Gott aus. William James war der Begründer einer auf Erfahrung beruhenden Religionspsychologie. James sprach von persönlicher religiöser Erfahrung, die ihre Wurzeln und ihr Zentrum in mystischen Bewusstseinszuständen habe (vgl. 1902/1979, S.?358). Nachfolgend wird das immer selbe Phänomen bald...