Rennefanz | Frauen und Kinder zuletzt | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 144 Seiten

Rennefanz Frauen und Kinder zuletzt

Wie Krisen gesellschaftliche Gerechtigkeit herausfordern
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-86284-513-2
Verlag: Christoph Links Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Wie Krisen gesellschaftliche Gerechtigkeit herausfordern

E-Book, Deutsch, 144 Seiten

ISBN: 978-3-86284-513-2
Verlag: Christoph Links Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



In Krisen zeigt sich, wie eine Gesellschaft funktioniert: Wer setzt sich durch? Wer bleibt zurück?

Corona hat nicht nur die Gesundheit der Menschen angegriffen, sondern unsere Gesellschaft auf die Probe gestellt. Am Anfang hieß es: Wir sitzen alle im selben Boot. Doch von Solidarität war bald nichts mehr zu spüren. Die im Grundgesetz verankerte Gleichheit aller wurde über Bord geworfen. Wieder einmal zeigte sich: Krisen gehen zu Lasten von Frauen und Kindern. Welche Ursachen sind dafür verantwortlich? Warum geraten unsere Werte so leicht ins Wanken? Was läuft falsch in der Politik? Sabine Rennefanz wertet aktuelle Studien aus, nimmt politische Einordnungen vor und erzählt von eigenen Erfahrungen als Frau und Mutter zweier Kinder. Ein aufrüttelndes und wegweisendes Buch - für gesellschaftliche Gerechtigkeit, Solidarität zwischen den Generationen und eine nachhaltige Politik für Kinder.



Sabine Rennefanz, 1974 in Beeskow geboren, arbeitet als Journalistin u. a. für Der Spiegel, Tagesspiegel und Radio 1. Sie war langjährige Redakteurin der Berliner Zeitung und wurde für ihre Reportagen und Essays mit dem Theodor-Wolff-Preis und dem Deutschen Reporterpreis ausgezeichnet. 2013 erschien ihr Bestseller 'Eisenkinder. Die stille Wut der Wendegeneration'. 2015 folgte der Roman 'Die Mutter meiner Mutter', 2019 'Mutter to go. Zwischen Baby und Beruf' und 2022 'Frauen und Kinder zuletzt. Wie Krisen gesellschaftliche Gerechtigkeit herausfordern'. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.

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BAZOOKA VERSUS WASSERSPRITZPISTOLE


Eine Einleitung

Dieses Buch ist an fünf verschiedenen Schreibtischen entstanden. Schreibtischen, die andere Frauen großzügig für mich freiräumten und mir damit den Raum und die Zeit gaben, die ich zum Schreiben brauchte. Ich bin nicht die Einzige, für die es seit Beginn der Coronapandemie schwierig ist, einen ruhigen Ort zu finden, um zu arbeiten. Vielen Frauen, die Kinder haben, geht es genauso. Zuletzt saß ich an einem wunderschönen alten Holztisch mit Blick auf den Arkonaplatz in Berlin-Mitte. Auf dem Fensterbrett stand eine Briefwaage. Es war ein schwarzer Magnet mit einer silbernen Aufschrift daran befestigt. »Never, never, never give up« stand darauf.

Am Anfang der Pandemie im März 2020 schien es, als müsste man das gesellschaftliche Leben lediglich für eine gewisse Zeit herunterfahren. Es war, als handele es sich um eine vorübergehende Unannehmlichkeit, wie einen Stromausfall, den man mit Kerzen schnell überbrückt und die Dunkelheit auch ein bisschen romantisch findet. Danach schaltet man das Licht wieder an, und alles geht weiter wie bisher, eine kleine, kurze Unterbrechung der Normalität. Dann verging Woche für Woche, ohne dass sich etwas änderte. Das heißt, alles veränderte sich, nur das Licht blieb aus.

Im Mai 2020, die Schulen und Kitas waren seit März geschlossen, es wurde gerade über die Öffnungen von Friseuren und Möbelhäusern diskutiert, warnte die Soziologin Jutta Allmendinger in der Talkshow von Anne Will vor den Folgen der Pandemie: »Die Frauen werden eine entsetzliche Retraditionalisierung erfahren. Ich glaube nicht, dass man das so einfach wieder aufholen kann und dass wir von daher bestimmt drei Jahrzehnte verlieren.« Drei Jahrzehnte: Das wäre Anfang der 1990er Jahre. Damals waren in Westdeutschland gerade mal die Hälfte der Frauen erwerbstätig, es gab kaum Kindergärten und Krippen. Vergewaltigung in der Ehe war kein Straftatbestand. Anfang der Neunziger – das war vor allem für ostdeutsche Frauen eine Zeit der Rückschritte. Um Frauen aus dem Arbeitsmarkt herauszudrängen, wurden nach 1990 Horte und Kitas geschlossen, Betreuungszeiten gekürzt, Elternbeiträge erhöht.

Jutta Allmendinger stützte sich auf eine gerade erschienene Studie, die zeigte, dass sich die Zahl der Frauen, die sich ausschließlich um die Kinder kümmern, im ersten Lockdown von acht auf 16 Prozent verdoppelt hatte. Jede vierte Frau gab im April 2020 an, wegen der Kinderbetreuung ihre Arbeitszeit zu reduzieren, bei den Männern taten das nur 13 Prozent. Ihre Aussage löste eine Debatte aus, die aber bald im Sand verlief. Mütter und Väter erhielten im Herbst 2020 einen Kinderbonus in Höhe von 300 Euro. Schweigegeld, wie es die Autorin Mareice Kaiser nannte.

Wie die Hoffnung auf eine rasch vorübergehende Unterbrechung der Normalität, gab es am Anfang der Pandemie auch die Hoffnung, dass die Coronakrise zu mehr Egalität führen könnte. Zwischen Frauen und Männern, Arm und Reich, Alt und Jung. Es war eine Zeit, in der viele dachten, wir würden uns auf die wirklich wichtigen Dinge besinnen durch die allgemeine Bedrohung, die vor niemandem Halt macht. Die Krise, so die Vorstellung, könnte bestehende Unterschiede, wie zum Beispiel bei der Verteilung der Sorgearbeit, abbauen. Wenn nun durch die Pandemie alle gleichzeitig zu Hause seien, würden Väter sehen, wie viel Arbeit im Haushalt zu erledigen ist, und sich stärker einbringen. Die Krise als Gleichberechtigungsbeschleuniger. Eine schöne Geschichte.

Es muss irgendwann zwischen Frühjahr und Herbst 2020 gewesen sein, als klar wurde: Die Krise würde nicht zu mehr Egalität führen. Ganz im Gegenteil, sie würde die mühsam errungenen Fortschritte gefährden.

Ich habe beim Schreiben dieses Buches meine Mutter vermisst. Als ich meine anderen Bücher schrieb, lebte sie noch. Meine Mutter hatte keine Berufsausbildung. Sie war Hausfrau. Sie las viel, verpasste keine politische Talkshow im Fernsehen. Als ich im Alter von 16 Jahren anfing, kleine Artikel für die Lokalzeitung zu schreiben, war sie meine eifrigste Leserin. Sie hat mir das Vertrauen in meine eigenen Worte gegeben. Ich konnte mit ihr über alles reden, sie war meinungsstark, aber offen für Argumente. Ihr Wissen, ihr Blick auf die Welt fehlen mir. Ich denke daran, wie sie immer in ihrem Wohnzimmer saß, zwischen den alten Möbeln. Und auf dem Tisch stapelten sich Zeitungen und Bücher. Was würde sie zu diesem Buch sagen?

Wir waren oft nicht einer Meinung. Als ich einmal in einer Kolumne über die Schwierigkeit der Vereinbarkeit von Beruf und Familie schrieb, meinte sie: »Ihr wollt zu viel und so schnell, ihr seid so ungeduldig.« Ihr, das war meine Generation. Ich hätte gern mit ihr über Olaf Scholz’ Bazooka diskutiert. So nannte der ehemalige Finanzminister und heutige Bundeskanzler das Konjunktur- und Krisenbewältigungspaket, das im Juni 2020 verabschiedet wurde. Es umfasste Maßnahmen mit einem finanziellen Gesamtvolumen von 167,4 Milliarden Euro. Die Politikwissenschaftlerin Claudia Wiesner hat das Konjunkturpaket für das Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft durchforstet und festgestellt, dass 73 Prozent der Gesamtausgaben an Branchen gegangen sind, in denen mehrheitlich Männer arbeiten. Nur 4,2 Prozent des Gesamtfinanzvolumens entfallen auf Branchen und Bereiche, in denen überwiegend Frauen vertreten sind. Die Arbeit von Männern wurde als systemrelevant angesehen, aber nicht die von Frauen. Während für Männer die Bazooka herausgeholt wurde, gab es für Frauen eine Wasserspritzpistole. Oft nicht mal die.

Weltweit haben Frauen allein im Jahr 2020 800 Milliarden Dollar an Einkommen verloren. Das hat die Entwicklungshilfeorganisation Oxfam vorgerechnet. 800 Milliarden Dollar, das ist das Nationaleinkommen von 98 Ländern. In Brasilien hatten im April 2020 weniger als die Hälfte der Frauen einen Job, das war der niedrigste Wert in 30 Jahren. In Australien verloren zehn Prozent der Frauen ihre Stellen. In Japan wurde doppelt so vielen Frauen wie Männern gekündigt. In den USA gaben zwischen März und April 2020 3,5 Millionen Frauen mit Kindern im Schulalter ihren Job auf. Im September 2021 nannte der Wirtschaftsdienst Bloomberg die Coronakrise »den größten Rückschlag für die Gleichstellung seit einhundert Jahren«. Im Englischen spricht man von einer »She-Session«, einer weiblichen Rezession.

Auch in Deutschland belastet die Krise Frauen stärker als Männer, wirtschaftlich, psychologisch, mental. Laut der Studie des Leibniz-Informationszentrums Wirtschaft erleiden Frauen stärkere Erwerbseinbußen in der Pandemie als Männer – und das, obwohl sie schon vor der Krise quer durch alle Branchen rund ein Fünftel weniger verdienten.

In den Bereichen, in denen es viele Minijobs gibt, Gastronomie, Einzelhandel, Tourismus, Kultur, arbeiten vorwiegend Frauen. Die Minijobs fielen durch die Schließungen während des Lockdowns weg, und es gab für sie auch keinen Ersatz. Nirgendwo arbeiten so viele Frauen wie im Gesundheitswesen, 77 Prozent der Beschäftigten sind weiblich. Das Pflegepersonal wurden zwar am Anfang beklatscht, daraus folgte aber wenig. Mittlerweile haben Zehntausende den Beruf verlassen.

Wollen wir zu viel? Will ich zu viel? Ich wollte immer mehr als meine Mutter. Sie war es, die mich dazu ermutigte. Meinem Bild einer emanzipierten Frau entsprach sie nicht. Heute weiß ich, dass sie mir als Kind Struktur und Halt gab. Sie füllte mein Leben mit Gerüchen, Geschmäckern und Energie. Am Ende ihres Lebens bekam sie 272, 34 Euro Rente. Ich bin weicher geworden ihr gegenüber, mein Blick auf sie hat sich verändert, durch ihren Tod, aber auch durch das Schreiben dieses Buchs. Ich habe darin gesellschaftliche Verhältnisse reflektiert, aber auch meine eigenen. Die Frage, inwieweit man sich selbst von traditionellen Rollenmustern gelöst hat, spielt in einem der Kapitel eine zentrale Rolle.

Ich habe mit einigen Menschen über dieses Buch gesprochen, als ich es plante. Manche waren nicht überzeugt, dass es so ein Buch braucht, wie beispielsweise der Beamte eines Bundesministeriums, den ich über meine Arbeit als Journalistin kennengelernt hatte. Die Pandemie habe ihm, wie er mir bei einem Mittagessen sagte, hervorragende Arbeitsbedingungen geboten. »Ich habe so viel geschafft wie nie, weil es keine Ablenkungen gab, man konnte jeden Tag bis Mitternacht arbeiten.« Andere Menschen haben mich unterstützt, gaben wichtige Hinweise, Anregungen und ihre Erfahrungen weiter. Marion, eine Kinderkrankenschwester, die in Brennpunktvierteln Frauen und Kinder betreut, zählt dazu. Ohne sie wäre das Kapitel über diejenigen, die in der Krise Hilfe am allernötigsten brauchen, nicht möglich gewesen.

Ich habe ein Kapitel über gesellschaftliche Solidarität geschrieben. Als ich Kind und Jugendliche war, brach die Gesellschaft, in der ich aufgewachsen bin, zusammen. Die Folgen beschäftigten Deutschland in den...



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