E-Book, Deutsch, 149 Seiten
Renard Ein Mensch unter den Mikroben (Science-Fiction-Klassiker)
1. Auflage 2016
ISBN: 978-80-268-6920-7
Verlag: e-artnow
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
One of the First Locked-Room Mystery Crime Novel Featuring the Young Journalist and Amateur Detective Joseph Rouletabille
E-Book, Deutsch, 149 Seiten
ISBN: 978-80-268-6920-7
Verlag: e-artnow
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dieses eBook: 'Ein Mensch unter den Mikroben (Science-Fiction-Klassiker)' ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Ein Mensch unter den Mikroben zählt zu den besten phantastischen Romanen der französischen Literatur. Maurice Renard (1875-1939) war ein französischer Schriftsteller und Jurist. Renard gehörte zu den Schriftstellern des 'Goldenen Zeitalters' der französischen Science-Fiction-Literatur.
Autoren/Hrsg.
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Erstes Kapitel
Das Kapitel eines Hutes
»Saint-Jean de Nèves«, Sitz einer Unterpräfektur, ein kleines Nest am Fuße des Hochgebirges, glich einer vor Urzeiten niedergegangenen Erdlawine, auf der nach und nach die Kultur erblühte.
Den Mittelpunkt der Ortschaft bildete ein freier Platz mit einem Brunnen von schlichter Monumentalität, den die allegorische Figur der Republik, ein Weih mit riesigen Brüsten, krönte.
Dort wohnte Pons, der junge Dr. Pons, zwischen einem Perückenmacher und einem Notar, in einem echt savoyardischen Häuschen, dessen Front völlig unter Glyzinien verschwand, und dessen großes Dach alte Ziegel deckten. Ein Schriftsteller von gestern oder vorgestern würde zweifelsohne seine Geschichte damit beginnen, die große Enttäuschung Dr. Pons' zu schildern, als er bei seinem Schulaustritt von einem seiner Lehrer erfuhr, sein gesundheitlicher Zustand würde es nicht erlauben, daß er in Paris oder in einer anderen Großstadt die ärztliche Kunst ausübe, beziehungsweise daß er sich dort, wie er es wünschte, dem Studium ruhmvoller klinischer Forschungen hingebe, was zur Folge hatte, daß Dr. Pons nach »Saint-Jeanwo nur zwei Kollegen waren, die ihn hochschätzten, weil er sich sehr wenig aus Patientenzulauf machte.
Ein etwas modernerer Schriftsteller, wenn auch kein viel modernerer, würde seine Erzählung mit der Ankunft Fléchambeaus, eines Freundes von Dr. Pons, bei diesem beginnen; er würde berichten, daß Fléchambeau, Amtsnotar beim Pariser Obersten Gerichtshofe, ursprünglich nur ein paar Wochen in »Saint-Jean-de Nèves« zur Erholung und zum Vergnügen bleiben wollte, nach drei Monaten aber noch immer dort war, und zwar dank des unwiderstehlichen Eindrucks, den Fräulein Olga Monempoix, älteste Tochter des Herrn Emil Monempoix, Präsidenten des Zivilgerichts, und dessen Gattin, geborene Sanson-Darras, auf ihn gemacht hatte.
Wir dagegen gehen ohne lange Umschweife in medias res. –
»Viel Glück, Alter!« sagte Pons.
Sie standen in der Halle. Durch die offene Tür sah man auf den Platz hinaus, auf die vollbusige Brunnen-Marianne und gerade gegenüber auf das Haus des Herrn Präsidenten Monempoix.
Fléchambeau schüttelte seinem Freunde die Hand.
Lang wie ein Besenstiel – maß er doch von der Sohle bis zum Scheitel einen Meter sechsundneunzig Zentimeter –, zeichnete sich Fléchambeau noch durch brennrotes Haar aus – »Haar à l'a Crécy«, wie Pons sich im Spaße auszudrücken pflegte. Er war so hoch gewachsen, daß er zwanzig Sekunden brauchte, um das Kreuzzeichen zu machen, und wenn er den Hut auf sein flammrotes Haupt setzte, glich er einer brennenden Kerze, die sich selbst auslöscht.
Momentan trug er einen wundervollen blitzenden Zylinder. Sein tadellos geschnittenes Jackett von schwarzer Farbe stach vorteilhaft von dem rosenholzfarbenen Beinkleid ab. Lackschuhe Nr. 47 bekleideten die Füße des Riesen, und das Leder seiner Handschuhe (Nr. 9[3/4]), die er über die dicken Finger gezogen hatte, glänzte wie frische Butter. Drei Nelken, die Fléchambeau sich ins Knopfloch gesteckt, glichen im proportionalen Verhältnisse einer einzigen.
Das Monokel ins Auge klemmend und sich den gestutzten Schnurrbart – ein rotes Zahnbürstchen – wischend, schnitt der Goliath ein Gesicht wie ein Schwimmer, der gerade in zu kaltes Wasser hinabtaucht, und meinte:
»Ich zieh' mich in meine Haut zurück, mein Alter!«
Nichtsdestoweniger verließ er das Haus und dirigierte sich langsam nach dem Heim des Herrn Präsidenten Monempoix, so langsam, daß ihn Dr. Pons erst drüben anläuten sah, als er selber nach seinem Laboratorium, das im zweiten Stock lag, zurückgekehrt war. Dabei hatte sich Pons Zeit gelassen, als er, tief in Gedanken versunken, die Treppe emporgestiegen war.
Breites Fenster. Ein Meer von Licht. Laboratorium neuesten Modells. Denn Dr. Pons verzichtete durchaus nicht darauf, daß man von ihm rede. Er hatte nach einem Studium gesucht, das seine Zurückgezogenheit nicht abträglich zu beeinflussen imstande sei und ihn in Saint-Jean-de Nèves beschäftigen könne, und das Studium der Parasitologie gewählt, nämlich, um mich Damen und Kindern verständlicher zu machen, die Wissenschaft der Parasiten.
Aber die Parasitologie befriedigte ihn nur mäßig und war für seinen Eifer ein recht unproduktives Betätigungsfeld.
Und doch war das Laboratorium geradezu ein Schmuckkästchen. Weiße Schränke, blitzende Vitrinen, angefüllt mit blauen, roten, gelben, grünen und noch andersfarbigen Phiolen und Gläsern, drei Mikroskope, die wie Strandbatterien scharf ausgerichtet nebeneinander standen, und drei vernickelte Tische, auf denen ein ganzes Arsenal von Pinzetten, Coupellen, Fläschchen und optischen Kästchen standen, ebenfalls in Reih' und Glied, gleich Soldaten in Paradestellung.
Noch immer in Träumereien versunken, streichelte Dr. Pons mechanisch mit der Hand die Glasglocken, mit denen die Mikroskope bedeckt waren. Als dies die Hauskatze »Maria-Stuart«, die ihm nachgeschlichen war, sah, rieb sie ihre Nase an seinen Beinen, um auch etwas von diesen Zärtlichkeiten abzubekommen.
Er nahm sie in die Arme.
Dreifarbig und die schmachtenden Augen umrändert, schielte sie ein wenig, weshalb sie ihr Herr »Maria-Stuart« getauft hatte, zum Andenken an die unglückliche Fürstin, die, wie allbekannt ist, auch geschielt hat.
Fast wäre einmal aus dem guten Tier ein Kaninchenfrikassee geworden. Ein gütiges Geschick hatte ihm diese posthume Verwandlung erspart. Es hatte sich zu Pons geflüchtet.
»Maria-Stuart« verdiente ehrlich ihren Ruheposten. Wie ein ostasiatisches Porzellanding, aber aus Pelz, schmückte sie die Gesimse der Bücherregale und nahm dabei Stellungen ein, denen wir einen besonderen Ausdruck unterschieben. Sie zeigte sich, wie es sich gebührt, myophag und kynophob, das heißt, sie fraß gern Ratten und haßte das Hundegeschlecht. Sich sauber haltend wie ein Grisettchen, strich sie sich unaufhörlich ihr Muffpelzchen, an welchem man sich die Hände wärmt, schnurrte – das »inwendige Lachen« der Katzen –, rollte sich mit graziösem Wohlbehagen von der einen auf die andre Seite und stieß dabei mit umflortem Blicke rauhe Schreie aus, tanzte auf den Hinterbeinen Mücken nach und ging auf heimliche Abenteuer aus, ohne das Haus davon zu benachrichtigen, so daß man sich ängstigte, Sorge hatte und sie suchte, und erschien dann wieder, als sei gar nichts los gewesen, plötzlich und wie durch Hexerei, zusammengerollt beim Ofen, oder auf einer Tischdecke hockend, mit eingezogenen Pfoten und Schweif, das Auge halb geschlossen und schläfrig. Dann wiederum bevölkerte sie zur Belustigung des Hauses das Heim mit einer Schar junger Kätzchen, die sich höchst komisch gebärdeten und »Entrées lustiger Clowns« zum Besten gaben. Das eine springt mit allen vier Pfoten zugleich in die Luft, das andre kommt schief daher, gesträubt das Buckelhaar und die Rute senkrecht aufgerichtet, widerborstig wie ein »Samurai« auf japanischen Kakemonos. Zur Belustigung aller stürmt ein drittes jäh vorwärts, daß es sich schier den Kopf an der Mauer einrennt, ein viertes verfolgt mit dem Blicke seiner wasserblauen Augen irgend etwas Unsichtbares, das im All herumfliegt. Zwei umstricken sich auf der Erde, bohren sich eines in den Bauch des andern ein und strampeln mit den Hinterpfoten, daß es zum Brüllen ist. –
»Komm,« sagte Pons, »du, die mir leben hilft! Komm, Muni, komm!« und er schickte sich an, sie zu necken, indem er der Katze mit Altweiberstimme die bekannte Phrase sagte: »Was für ein komisches Kaninchen? Man könnte es für eine Katze halten!« Da bemerkte er erst, daß »Maria-Stuart« sich in den Friseurladen gegenüber begeben hatte. Dieser Nachbar war nämlich mit einer Horde Rangen behaftet, für die – es ist ganz unerklärlich, wieso – die Katze geradezu schwärmte.
Oft kehrte sie von dort mit einer bunten Masche um den Hals oder irgendein Flitterwerk hinter sich herschleifend zurück. Die Fratzen staffierten sie aus, ohne daß sie dagegen Widerspruch erhob. Heute hatten sie ihr den Kopf einpomadisiert, um ihr einen Scheitel zu ziehen. Sie roch auf hundert Schritte nach Heliotrop.
Als Pons dies wahrnahm und roch, expedierte er sie unter Spott und Hohn zur Türe hinaus und versprach ihr zum xten Male, sie nach ihrem Hinscheiden ausstopfen zu lassen.
Er war eine Type für sich, dieser Pons. Gutes, numismatisches Profil; auch von vorn war sein Gesicht schön, aber in ganz andrer Art. Wenn er sich umdrehte, war man immer erstaunt, weil man sich ein anderes Gesicht erwartet hatte. Nur die Augen blieben sich immer gleich – diese dunklen Augen, aus denen ein finsteres Feuer hervorloderte, und die so tief in den Höhlen lagen, daß sie mitten im Schädel zu stecken schienen, der sich durch eine derartige Größe auszeichnete, daß er auch die allerweitesten Hüte ausfüllte.
Pons kehrte zu dem von der Sonne überfluteten Fenster zurück. Zuvor aber hatte er mit raschem Blicke festgestellt, daß die Wanduhr ihre Pflicht und Schuldigkeit tat, mit dem Daumen die beiden Zeiger des Barometers übereinander ausgerichtet, den Thermometer und Hygrometer konsultiert und den Kalender inspiziert. Bei ihm gab es keine Nachlässigkeit. Alles war stets auf dem Posten, auf die Stunde, auf den Tag, bei jeder Witterung.
Die Glyzinien umrahmten mit ihren lila Blütentrauben den »Platz der Republik«. Liebesdürstend wie junge Witwen, die noch kaum in Trauer sind, erschauerten die Blumen nervös und lebenshungrig bei dem Flügelschlage der Vögelchen, die so klein waren, daß man sie im Fluge kaum sah.
Pons betrachtete das Haus des...




