Rempp / Andreas-Salomé / Weber Drei Briefe an einen Knaben
1. Auflage 2011
ISBN: 978-3-937211-03-9
Verlag: Welsch, Ursula
Format: PDF
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 119 Seiten
ISBN: 978-3-937211-03-9
Verlag: Welsch, Ursula
Format: PDF
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Das Leben der Lou Andreas-Salomé, die am 12. Februar 1861 in St. Petersburg geboren wurde und am 5. Februar 1937 in Göttingen verstorben ist, umfasst die Emanzipation vom zaristischen Russland mit Hilfer eines sehr scharfen und sich keinerlei Zwängen beugenden Verstandes, die finanzielle Unabhängigkeit mit Hilfe der Schriftstellerei und die bereitwillige umfassende Akzeptanz des psychoanalytischen Prinzips in Bewunderung ihres Gründers. Die Stadien dieses Lebens könnten auch betitelt werden mit den Namen der Weggefährten jener Zeiten - Friedrich Nietzsche, Rainer Maria Rilke und Sigmund Freud -, man wird damit jedoch diesem selbstbestimmten Frauenleben nicht annähernd gerecht. Eine ausführliche Lebensbeschreibung findet sich in: 'Lou Andreas-Salomé. Wie ich dich liebe, Rätselleben. Eine Biografie' von Michaela Wiesner-Bangard und Ursula Welsch, die als Taschenbuch bei Reclam Leipzig erschienen ist. Sie auch auch als E-Book erhältlich - erweitert um ein Kapitel zur psychoanalytischen Theorie und Praxis von Lou Andreas-Salomé.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1;Editorische Notiz;5
2;Zu Lou Andreas-Salome;6
3;Weihnachtsmärchen;7
4;Antwort auf eine Frage;29
5;Geleitwort;50
6;Anmerkungen;81
7;Nachwort von Inge Weber und Brigitte Rempp;83
8;Zeittafel;111
(S. 6-7)
Göttingen, im Dezember 1907.
Lieber Bubi, liebe Schnuppi!
> S. 7 Seitdem ich gehört habe, daß Mutts jetzt manchmal noch nach Eurem Schlafengehen zwischen Euren Betten sitzt und Euch was vorliest, läßt es mir gar keine Ruhe mehr, bis ich Euch auch was erzählt habe, und zwar, was mir gestern geschehen ist: am Goldenen Sonntag, nach vier Uhr. Ich war von unserer Höhe in die Stadt hinunter gestiegen, um Kerzen zu besorgen für den Weihnachtsbaum. Da unten gab es keinen solchen Trubel von Wagen und Pferden und sich abhetzenden Menschen wie vor Festtagen bei Euch in der Hauptstadt. Aber in diesen stillen, engen Straßen und am winkeligen Marktplatz beim Rathaus, dessen schwache Beleuchtung jetzt nur etwas verbessert wird durch den vielen hellen Christbaumschein hinter den Ladenfenstern, könnte man sich dafür um so eher vorstellen, daß ein Knecht Ruprecht heimlich auftaucht zwischen den herumstehenden Kindern, sich Kinderwünsche notiert, hier oder dort verstohlen
> S. 8 sich was aus den Schaufenstern langt, es in seinen großen Sack tut und irgendwo hinter den Verkaufsständen von Tannenbäumen ebenso unbemerkt wieder verschwindet. Mit meinen Kerzen in der Tasche ging ich aus der Stadt hinaus und bergan; denn ich wollte längs den Waldungen auf dem Hügelland zurückkehren. Nach blauen und sonnigen Tagen war es seit Mittag wolkig und windig geworden, manchmal sprühte ein feiner Regen herunter. Mir fiel es deshalb durchaus nicht auf, als ich Jemanden sah, der sich seine Mantelkapuze tief über den Kopf gezogen hatte; einen großen, alten Mann mit viel weißem Haar und buschigen, weißen Augbrauen, seinen Knotenstock in der Hand und einen grünen Rucksack über dem faltigen grauen Mantel, dessen Taschen, vollgestopft, weit abstanden.
Was mich wunderte, war auch nur, daß der Kapuzenmann in einiger Entfernung von mir da auf einer Bank zu sitzen schien, wo ich mich nicht erinnern konnte, je eine Bank gesehen zu haben.