Rempp / Andreas-Salomé / Weber Drei Briefe an einen Knaben
1. Auflage 2011
ISBN: 978-3-937211-03-9
Verlag: Welsch, Ursula
Format: PDF
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 119 Seiten
ISBN: 978-3-937211-03-9
Verlag: Welsch, Ursula
Format: PDF
Kopierschutz: 0 - No protection
Die "Drei Briefe an einen Knaben" sind ein spannendes Dokument ihrer Zeit - einer Zeit, in der die psychologisierende Innensicht und das Ansprechen und Verarbeiten von sexuellen Tabus in der kulturellen Elite ein wichtiges Thema war.
Sie sind auch ein Werk an der Grenze zwischen Literatur und Essay, zwischen Fiktion und Realität und für Lou Andreas-Salomé selbst auch an einer Schwelle ihres Lebens: Denn mitten im zweiten Brief findet der Übergang von der literarisch-philosophischen in die psychoanalytische Sichtweise statt.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1;Editorische Notiz;5
2;Zu Lou Andreas-Salome;6
3;Weihnachtsmärchen;7
4;Antwort auf eine Frage;29
5;Geleitwort;50
6;Anmerkungen;81
7;Nachwort von Inge Weber und Brigitte Rempp;83
8;Zeittafel;111
WEIHNACHTSMÄRCHEN (S. 6-7)
Göttingen, im Dezember 1907.
Lieber Bubi, liebe Schnuppi!
> S. 7 Seitdem ich gehört habe, daß Mutts jetzt manchmal noch nach Eurem Schlafengehen zwischen Euren Betten sitzt und Euch was vorliest, läßt es mir gar keine Ruhe mehr, bis ich Euch auch was erzählt habe, und zwar, was mir gestern geschehen ist: am Goldenen Sonntag, nach vier Uhr. Ich war von unserer Höhe in die Stadt hinunter gestiegen, um Kerzen zu besorgen für den Weihnachtsbaum. Da unten gab es keinen solchen Trubel von Wagen und Pferden und sich abhetzenden Menschen wie vor Festtagen bei Euch in der Hauptstadt. Aber in diesen stillen, engen Straßen und am winkeligen Marktplatz beim Rathaus, dessen schwache Beleuchtung jetzt nur etwas verbessert wird durch den vielen hellen Christbaumschein hinter den Ladenfenstern, könnte man sich dafür um so eher vorstellen, daß ein Knecht Ruprecht heimlich auftaucht zwischen den herumstehenden Kindern, sich Kinderwünsche notiert, hier oder dort verstohlen
> S. 8 sich was aus den Schaufenstern langt, es in seinen großen Sack tut und irgendwo hinter den Verkaufsständen von Tannenbäumen ebenso unbemerkt wieder verschwindet. Mit meinen Kerzen in der Tasche ging ich aus der Stadt hinaus und bergan; denn ich wollte längs den Waldungen auf dem Hügelland zurückkehren. Nach blauen und sonnigen Tagen war es seit Mittag wolkig und windig geworden, manchmal sprühte ein feiner Regen herunter. Mir fiel es deshalb durchaus nicht auf, als ich Jemanden sah, der sich seine Mantelkapuze tief über den Kopf gezogen hatte; einen großen, alten Mann mit viel weißem Haar und buschigen, weißen Augbrauen, seinen Knotenstock in der Hand und einen grünen Rucksack über dem faltigen grauen Mantel, dessen Taschen, vollgestopft, weit abstanden.
Was mich wunderte, war auch nur, daß der Kapuzenmann in einiger Entfernung von mir da auf einer Bank zu sitzen schien, wo ich mich nicht erinnern konnte, je eine Bank gesehen zu haben.