E-Book, Deutsch, Band 1, 449 Seiten
Reihe: Heiko Brandt
Reiter Kopfjagd
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-98952-867-3
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Kriminalroman - Heiko Brandt 1 | Ein Ex-Ethnologe ermittelt im Berliner Großstadt-Dschungel
E-Book, Deutsch, Band 1, 449 Seiten
Reihe: Heiko Brandt
ISBN: 978-3-98952-867-3
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Peter Gallert wurde 1962 in Bonn geboren. Ein Germanistikstudium brach er erfolgreich ab, er jobbte als Nachtportier und Bauarbeiter, spielte Theater, schrieb Jerry-Cotton-Krimis und Synchronbücher. Seit zwanzig Jahren arbeitet er als Drehbuchautor für TV-Serien von Krimi bis Krankenhaus. Er ist Karate-Kindertrainer, hat drei Töchter und lebt in Köln. Jörg Reiter, 1952 in Düsseldorf geboren, studierte Ethnologie, Malaiologie sowie Film- und Fernsehwissenschaften, gefolgt von einem Forschungsaufenthalt bei Seenomaden und einer zweijährigen Feldforschung bei Bergstämmen in den Nordphilippinen. 1986 promovierte er im Fach Ethnologie; 1991 wechselte er von der Wissenschaft zum Erzählen. Seit zwanzig Jahren arbeitet er als Drehbuchautor. Er lebt in Köln. Die Website der Autoren: gallertreiter.de/ Unter dem Pseudonym Gallert&Reiter veröffentlichen die Autoren bei dotbooks ihre Ruhrpott-Krimireihe um den Duisburger Polizeiseelsorger Martin Bauer: »Schwärzer als die Nacht« »Tiefer denn die Hölle« »Dunkler als die Schuld« In einer weiteren Spannugsreihe des Autorenduos ermittelt Ex-Ethnologe Heiko Brandt im Melting Pot Berlin: »Kopflos« »Sündentod« Außerdem erschien noch ihr Thriller-Standalone »Der Gastgeber«.
Autoren/Hrsg.
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Kapitel 3: Ex-Partner
Die anderen feierten. Brandt sah zu. Er stand hinter der Scheibe in seinem »Terrarium«, so nannten es die Kollegen. Zwei Trockenbauwände, in die hinterste Ecke des Großraumbüros gezimmert, ab halber Höhe verglast. Vor den Fenstern Jalousien mit verstellbaren Lamellen. Keine Konstruktion, die Kollegialität oder Teamgeist förderte. Aber Brandt spielte auch nicht in diesem Team. Er gehörte nicht einmal hierher. Ein Zustand, der ihn, gleich wo er war, zu begleiten schien. Heute, in diesem Büro, spürte er das deutlicher als bei den Moken in der Straße von Malakka oder den Awa im Regenwald des Amazonasgebiets. Vielleicht war das aber auch nur eine Nachwirkung des Ayahuasca.
Jemand stimmte an, was er für Indianergeheul hielt. Alle lachten, Jens selbst am lautesten. Sie hatten ihm die billige Nachbildung einer Federhaube, wie sie bei den Prärieindianern üblich war, auf den Kopf gesetzt. Den Sheriffstern steckte ihm der Chef der Direktion 3, Kriminaldirektor Börning, persönlich an. Anschließend hielt Börning eine Rede auf »Oberkommissar Jens Volkert, Deputy des Indianersheriffs«. Auch das gab einen Lacher. Der Indianersheriff war er, Brandt.
Er wandte sich ab. Zwei Schreibtische standen sich hinter ihm gegenüber. An den einen setzte er sich. Der andere war bis auf einen Computerbildschirm leer. Seit heute. Brandt schaltete seinen Rechner ein. In der Zeit, die das Gerät brauchte, um hochzufahren, kochte er sich sonst seinen Tee. Sencha, in einer alten japanischen Kanne. Aber es war kein Wasser im Wasserkocher. Und Brandt wollte die Party nicht noch einmal stören. Die Geräuschkulisse in seinem Rücken sagte ihm, dass das Buffet eröffnet worden war.
Brandt hatte noch den Mietwagen abgeliefert. Kurz vor der Mittagspause war er ahnungslos hereingeplatzt. Die komplette Inspektion hatte sich versammelt, und auch aus anderen Abteilungen waren Kollegen gekommen. Alle gingen davon aus, dass Brandt Bescheid wusste. Wusste er aber nicht. Für Jens war das peinlicher als für ihn. Vielleicht war sein Ex-Partner deshalb so wütend.
Der Computer war endlich so weit. Brandt loggte sich ein. Hinter ihm öffnete jemand die Tür.
»Kommissar Brandt?«
Und schloss sie wieder, ohne seine Antwort abzuwarten.
»Ich brauche Ihre Hilfe.«
Keine Frage, keine Bitte. Eine Feststellung. Automatisch versuchte er, eine Personenbeschreibung aus dem Klang der Stimme abzuleiten. Weiblich, deutlich über fünfzig, Kettenraucherin, untersetzt. Unverkennbar die Färbung der Sprachmelodie: typische Berliner Schnauze. Brandt sah eine Dauerwelle und Krampfadern vor sich. Er drehte sich um.
Brandt konnte sich nicht erinnern, jemals so danebengelegen zu haben. Die Frau war Mitte dreißig, schlank, schwarz und schön. Sie erwiderte seinen Blick ohne eine Spur von Unsicherheit. Oder eines Lächelns. Sie trat zu dem Besucherstuhl neben dem Schreibtisch und nahm unaufgefordert Platz.
»›Nuristan: Symbol, Ornament und Prestige nach der gewaltsamen Islamisierung 1895‹ – das haben Sie doch geschrieben.«
Auch das war keine Frage. Brandt nickte trotzdem. Er hatte keine Ahnung, was er sonst tun sollte. Er betrachtete ihre Hände. Sie waren schmal, wirkten aber kräftig und lagen locker in ihrem Schoß.
»Ich habe einen Jungen in meiner Arche. Ich glaube, er ist Nuristani. Das weiß ich von den anderen Kids. Die verstehen ihn zwar auch nicht wirklich, aber ein bisschen wohl doch. Einer von ihnen kommt aus Pakistan.«
Sie sah ihn an, als hätte sie alles erklärt. Beim Stichwort »Arche« überlegte er kurz, ob er es mit einer religiösen Spinnerin zu tun hatte. Aber dafür trat sie zu bestimmt und zu klar auf. Auch wenn nichts von dem, was sie redete, für ihn einen Sinn ergab. Brandts fragender Blick zeigte Wirkung.
»Entschuldigung, ich habe mich gar nicht vorgestellt: Saadiya Bonsu. Sagen Sie einfach Saada. Ich arbeite als Streetworkerin im Wedding und leite die Arche dort.«
Zumindest das biblische Boot konnte Brandt sich nun erklären – ein Zufluchtsort für Straßenkinder. Oder etwas Ähnliches. Aber mehr verstand er noch immer nicht. »Und was wollen Sie von mir?«
»Habe ich doch schon erklärt: Ich brauche Ihre Hilfe.«
»Wobei?«
»Sie müssen ihn zum Reden bringen!«
Brandt überlegte. »Sie meinen den Nuristani-Jungen?«
»Sie haben den richtigen Beruf, Herr Kommissar.«
Ihr Spott ärgerte ihn. »Hat er jemanden getötet?«
»Wer?«
»Der Nuristani-Junge.«
»Wie kommen Sie auf so einen Schwachsinn?«
»Auf meinem Türschild steht das Wort ›Tötungsdelikte‹.«
»Da steht auch was von fremdkulturellem Hintergrund.«
»Das bezieht sich auf die Tötungsdelikte. Also wenn Sie keinen Todesfall mit unnatürlicher Ursache melden wollen ...«
»Seine Eltern wurden ermordet.« Unter ihrer Stimme lag jetzt ein Grollen. »Ist Ihnen das unnatürlich genug?«
Brandt hatte aufgehorcht. »Wann?«
»Keine Ahnung. Bei der letzten Frühjahrsoffensive der Taliban? Beim vorletzten Drohnenangriff irgendwelcher internationaler Schutztruppen? Der Junge ist höchstens dreizehn! Er hat niemanden mehr.«
Nun konnte Brandt das Bild halbwegs zusammensetzen: Es ging um einen Kriegsflüchtling, ein Kind aus dem Grenzgebiet zwischen Afghanistan und Pakistan. Wie schaffte es ein Dreizehnjähriger vom Hindukusch bis hierher? Im Fahrwerksschacht eines Flugzeugs? Halb erfroren, halb erstickt? Auf jeden Fall ganz verzweifelt.
»Sie sind hier falsch«, sagte er.
»Ich kann den Jungen in einer Wohngruppe unterbringen. Aber dafür brauche ich seine Geschichte. Sie sprechen doch seine Sprache.«
Sie akzeptierte kein Nein. Es hätte Brandt auch gewundert.
»Nur ein paar Brocken.«
»Und Sie kennen seine Heimat. Mit Ihnen wird er reden!«
Die Stimmung hinter der Scheibe wurde ausgelassener. Jemand stellte Musik an. Brandts Besucherin schien es nicht zu bemerken. Sie war aus einem einzigen Grund hier. Trotzdem würde sie ihn nicht bitten. Sie gehörte nicht zu den Menschen, die es sich leicht machten.
»Er schläft auf der Straße, unter einer S-Bahn-Brücke.« Ihr Blick sagte, dass es seine Schuld wäre, wenn es so bliebe.
Wieder wurde die Tür geöffnet.
»Heiko?«
Brandt wandte sich um. Das schlechte Gewissen stand Jens ins Gesicht geschrieben.
»Es gibt Schnitzel und Schnaps. Vielleicht kommst du ja raus, wenn du hier fertig bist. Man muss sich ja nicht im Streit trennen. Ich bin sauer, du bist sauer ...« Jens ließ den Satz in der Luft hängen.
»Wird das eine Entschuldigung?«
Bevor Jens antworten konnte, klingelte das Telefon. Brandt erkannte die Nummer der Staatsanwaltschaft.
Er nahm ab. »Brandt. Moment bitte.« Er deckte das Mikrofon des Telefons mit der Hand ab und sah zu Jens. »Tür zu.«
Jens blieb unentschlossen im Türrahmen stehen.
»Tür zu«, wiederholte er. Nicht schärfer, eher ruhiger.
»Du kannst mich mal!« Jens machte kehrt und knallte die Tür hinter sich zu.
»Jetzt bin ich da«, sagte Brandt ins Telefon und hörte konzentriert zu. Er notierte eine Adresse, dann beendete er das Telefonat: »Bin unterwegs.« Er stand auf, griff nach seiner Jacke und wandte sich an seine Besucherin. »Es tut mir leid. Ich kann Ihnen wirklich nicht helfen.«
Er sah, dass sie ihm nicht glaubte. Sie erhob sich. Sie war genauso groß wie er und sah ihm gerade in die Augen. »S-Bahnhof Wedding. Er heißt Munjan. Aber alle nennen ihn Batman.«
Er blickte ihr nach. Schwer vorstellbar, dass sie lockerlassen würde. Wobei auch immer.
Er musste zum Berg. Das fiel Brandt aber erst ein, als er aus dem Eingang unter den Betonbaldachin trat und nach dem BMW Ausschau hielt. Jens hatte den Dienstwagen immer vor dem Fünfziger- Jahre-Bau geparkt, der sich die Straße entlang bis zum Gelände der usbekischen Botschaft erstreckte. Aber Jens gehörte nicht mehr zum »Sonderdezernat Fremdkultur«. Brandt machte kehrt.
Der Weg zum Berg führte Brandt quer durch das Gebäude auf den Hinterhof, der die gesamte Fläche zwischen vier Straßenzügen einnahm. Genug Platz für zwei behördeneigene Sportplätze und die Hallen für den Fahrzeugbestand der Direktion 3. Brandt steuerte die größte Halle an. Die Stahltore in der alten Backsteinfront waren gut fünf Meter hoch. Eins stand offen. Der WaWe 9000 dahinter passte gerade hindurch. Neben dem Wasserwerfer, auf einem aus Blattfedern zusammengeschweißten Stuhl und mit einer Zeitung vorm Gesicht: der Berg.
Er war Polizeiobermeister Berg erst einmal begegnet. An seinem ersten Arbeitstag war Brandt von Direktor Börning durch sämtliche Abteilungen geschleift und als »unser neuer Sonderermittler« vorgestellt worden. Die wenigsten der künftigen Kollegen hatten es für nötig gehalten, Interesse zu zeigen. Brandt versuchte, Gesichter und Namen zu behalten. Bei Berg fiel ihm das leicht. Nicht weil er freundlicher als die anderen gewesen wäre. Es war einfach unmöglich, einen Menschen von diesen Ausmaßen zu vergessen.
Berg ließ die Zeitung sinken. »Hauptkommissar Brandt! Welch seltener Besuch.«
Brandt war überrascht. Der Chef der Polizeiflotte wusste seinen Namen noch. »Ich brauche einen Wagen.«
»Hab’s schon gehört: Volkert ist von der Fahne gegangen.« Bergs Gesicht war ausdruckslos, aber der Spott nicht zu überhören.
Brandt fragte sich, wem er galt. Ihm? Oder Jens? »Ich muss zu einem Tatort. Jetzt.«
»Was Sie nicht sagen«, gab der Riese zurück. »Nehmen Sie den Omega. Ist nicht mehr der Jüngste. Aber zwei Monate hält er garantiert noch durch.«
Wieder wunderte sich Brandt, wie gut der Polizeiobermeister...