Reinker Wie es war, ich zu sein
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-95602-083-4
Verlag: CONTE-VERLAG
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-95602-083-4
Verlag: CONTE-VERLAG
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
»Sind Sie sicher, dass der da der Vater ist?«, fragte die Hebamme und zeigte auf die Tür, durch die Paul verschwunden war. Ich nickte.
»Schade«, sagte sie.
Monika »sammelt Strumpfhosen und Männer« und hütet ein Geheimnis. Ihre Nichte Rosetta ist pummelig und scheint selbst in der eigenen Familie auf die Rolle des Außenseiters festgelegt zu sein. Jenny, Rosettas beste Freundin, sucht nach der großen Liebe und findet … den allzu perfekten Ken.
Drei Frauen und ihre Geschichten. Geschichten von Liebe, Freundschaft, Treue, Verlust und Mut. Geschichten voller Widersprüche und Brüche – wie das Leben selbst.
Ulrike Reinker erzählt in ihrem Episodenroman einfühlsam, berührend, aber immer auch komisch von den kleinen Katastrophen und großen Glücksmomenten. Dabei gelingt scheinbar mühelos, was nur wenige schaffen: Ihre Figuren leben!
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Sport
Das Versteck
Die Liebenden
Pablo
Treue
Porno
Der Gehängte
Sport »Mit dem Namen kann man ja nichts werden …«, soll mein Opa nach meiner Geburt gesagt haben. Bisher hat er recht behalten, aber das wird sich in Kürze ändern. Schon morgen, oder noch heute, je nachdem. Meine Mutter sagte, ich hätte nach der Geburt so unscheinbar ausgesehen, dass sie mir wenigstens einen besonderen Namen geben wollte. Sie nannte mich Rosetta. Na toll. Wenn man mit Nachnamen »Pämel« heißt. Rosetta Pämel. Das wär dann wohl ich. In der Schule nennen sie mich natürlich Rosetta Pimmel. Oder Rosette, was so viel wie Arschloch heißt. Seit ich wirklich dick werde, sagen die anderen auch Rosette Pummel zu mir. Ein bisschen pummelig war ich schon als kleines Kind. Meine Eltern müssen ein komisches Bild abgegeben haben, wenn sie mit mir unterwegs waren. Sie sind beide hochgewachsen und sehr schlank, extrem gut aussehend und schön gekleidet. Und zwischen diesem Model-Traumpaar dieses pummelige unscheinbare Kind. »Rosetta kommt eher nach meiner Schwester«, sagt Mama manchmal, wie um mich zu entschuldigen. Ihre Schwester Monika ist eine dicke tolle Frau. »Sie ist eine schöne Dicke, zum Glück …«, erklärt Mama dann, so als sollte ich ihr nacheifern. Ich mag meine Tante. Sie ist lieb und warmherzig und ein bisschen verrückt. Sie sammelt Strumpfhosen und Liebhaber. Bei ihr war ich, als es Mama kurz nach meiner Geburt so schlecht ging. Sie hatte eine Wochenbettdepression. Als mein Vater uns aus der Klinik abholen wollte, stand sie schon unten im Foyer, mit ihrem Koffer, fertig angezogen. Sie hat gleich wieder in Größe 36 gepasst, darauf ist sie noch heute besonders stolz. Mich hatte sie auf dem Zimmer vergessen. Papa fuhr mit dem Aufzug nach oben zur Entbindungsstation und holte mich. Zum Glück hatten die Stationsschwestern noch nichts bemerkt; es war meinem Vater entsetzlich peinlich. Zu Hause weinte meine Mutter viel und hatte Schwierigkeiten, sich um mich zu kümmern. Papa nahm deshalb seinen Jahresurlaub und versorgte uns beide. Dann musste er wieder ins Büro, aber Mama ging es immer noch schlecht. Als ich zwei Monate alt war, hat sie mich im Bus vergessen. Sie stieg einfach aus und ließ mich in meinem Kinderwagen stehen. Als der Busfahrer mich entdeckte, war er schon acht Stationen weitergefahren. Die Polizei holte mich nach drei weiteren Haltestellen ab und brachte mich ins Polizeipräsidium. Im Kinderwagen fand man eine Wickeltasche, auf deren Etikett Papa in seiner Pingelschrift feinsäuberlich unsere Adresse und Telefonnummer eingetragen hatte. Mein Vater hatte seine sprachlose Frau in der Küche gefunden. Sie weinte in eine Tasse kalten Kaffee. Wo ich geblieben war, konnte sie ihm nicht erklären. Sie sprach einfach nicht. Als die Polizei anrief, war er gerade damit beschäftigt, die Worte aus ihr herauszuschütteln. Papa hatte große Probleme, den Beamten zu erklären, dass ich weder entführt, noch ausgesetzt wurde. Er erklärte das Wenige, was er verstanden hatte. »Ihre Frau muss sich unbedingt behandeln lassen«, gab man ihm mit auf den Weg. Mama kam in eine Klinik. Tante Monika zog für eine Weile zu uns, um sich um mich zu kümmern. Vielleicht ist meine Beziehung zu meiner Tante deshalb auch heute noch so schön. Ich war als Kind oft an den Wochenenden bei ihr. Manchmal haben wir spät abends irgendeinen erfundenen Kuchen gebacken und das noch heiße Naschwerk vor dem Fernseher fast ganz aufgegessen. Uns ist übrigens nie schlecht davon geworden. Sie ist meine Vertraute. Wenn ich traurig bin, gehe ich zu ihr. Ich bin oft bei ihr. Sie wohnt gleich zwei Straßen weiter. Meine Schwester kommt nicht so gut mit ihr klar. Kurz nachdem meine Mutter damals aus der Klinik zurückkam, wurde sie erneut schwanger. Es ging ihr wieder gut und sie muss sich sehr um mich bemüht haben. Trotzdem hatten wir nie ein so inniges Verhältnis zueinander, wie sie es zu meiner Schwester Sylvie hat. Sylvie ist ihr Ebenbild. Sie ist groß, feingliedrig und schmal wie Mama und hat ihr rotes Haar. Und sie hat das gleiche Temperament. Sie ist wie meine Mutter. Manchmal denke ich, sie ist meine Mutter. Die beiden verstehen sich prächtig. Ich habe die gleichen blonden Locken wie Tante Monika. Die sind so ziemlich das einzige, worauf ich stolz bin. Sie sind lang und kräftig. Alles andere, was an mir kräftig ist, gefällt mir weniger. Wobei kräftig ein Euphemismus ist. Ich bin, naja, pummelig. Überall dellt und spannt was, nur obenrum nicht. Ich bin jetzt vierzehn und habe beinah noch keine Titten. Sylvie hat schon welche, obwohl sie anderthalb Jahre jünger ist als ich. Ich glaube, wir teilen nur diesen beknackten Nachnamen – Pämel! Aber Sylvie wird nicht Pimmel genannt, und schon gar nicht Pummel. »Aber du hast einen formvollendeten Po, das ist schon mal die halbe Miete, was Jungs angeht«, sagte Papa letztens, um mich zu trösten. Ich glaube ihm kein Wort. Denn neulich habe ich gehört, wie er zu Mama sagte: »Wenn sie so weiterfrisst, kriegt sie höchstens mal ’nen Neger ab.« Das macht jetzt einen falschen Eindruck. Mein Vater hat nichts gegen Menschen mit Migrationshintergrund. Er findet mich einfach nur zu dick. Vor dem Spiegel habe ich versucht, mich so zu drehen, dass ich meinen Hintern sehen konnte, so wie andere ihn sehen. Total verdreht stand ich da und musste meinen Po ganz doll rausschieben, um ihn zu betrachten. Seine Form war schön, in dieser Haltung. Obwohl, er war einfach zu groß. Und meine Oberschenkel, naja. Ich schob die Haut an meinen Schenkeln mit beiden Händen zusammen, um zu sehen, ob das Viele wenigstens fest war oder ob ich Orangenhaut hatte. In der »Brigitte« von Mama stand, wenn sich dann Dellen zeigen, hat man Cellulite. Tante Monika hält das allerdings für Quatsch. »Wenn sich Gisele Bündchen die Haut an ihren Schenkeln so zusammenquetscht, hat die auch Cellulite«, meinte sie. Natürlich zeigten sich Dellen, und ich hörte schnell wieder auf damit. Ich betrachtete mich noch lange von vorne. Ich ging ganz nah an mich ran, bis meine Nasenspitze fast den Spiegel berührte. Mein Gesicht kam mir belanglos vor. Unscheinbar. Die Augen ein Durchschnittsblau, die Nase etwas spitz, die Stirn hoch, das Kinn rund. Einzig mein Mund gefiel mir. Ich habe einen schönen großen Mund, und wenn ich lächele zeigen meine Zähne, dass sich drei Jahre zahnorthopädische Behandlungen gelohnt haben. Mein Körper ist durchschnittlich groß, aber immerhin überdurchschnittlich üppig. Damit hebe ich mich von der Masse ab. Wenn mir nur endlich ein richtiger Busen wachsen würde. Ich habe bisher nur ganz kleine Brüste. Ich presse sie in einem Wonderbra schön nach oben, aber das bringt’s nicht so. Jenny sagte letzte Woche zu mir: »Tja, weißt du, es gibt ja auch Frauen, die nie einen richtigen Busen bekommen.« Sie hat gut reden. Sie hat jetzt schon C-Cup. Ich bete jeden Abend, dass mein Busen endlich wächst. Dabei bin ich von Hause aus Atheistin. Aber ich denke, ich kann hier eine Ausnahme machen. Jenny ist meine Freundin. Obwohl sie manchmal diese Dinge sagt, die mich kränken. Sie ist ein bisschen das, was meine Mutter »stutenbissig« nennt. Sie muss mir immer mal meine persönliche Mängelliste unter die Nase reiben. Dann denke ich oft, dass ich ihr auch mal einen Spruch zu ihren Pickeln geben sollte. Aber ich bringe es einfach nicht fertig, sie zu dissen. Immerhin verteidigt sie mich oft, wenn die Jungs mir auf dem Schulhof »Pummelrosette« oder ähnliches nachrufen. Ich bin dann immer den Tränen nahe und bringe keinen Ton raus. Jenny brüllt dann irgendetwas wie: »Eh Alter, verpiss dich!« oder »Wer ist hier fett, du kleiner Pisser!« Dafür liebe ich sie. Es sind immer die gleichen Jungen, die mich ärgern. Mike, Tobias, Ken und Mario. Ich habe Angst, dass Leon es mitbekommen könnte. Leon ist ein Junge aus meiner Parallelklasse. Ich finde ihn … naja, toll. Er ist älter als die anderen, weil er in der Achten hängen geblieben ist. Wenn ich ihn sehe, lächelt er mich an. Jenny meinte neulich: »Hey Rosetta, der steht auf dich.« Könnte doch tatsächlich sein, denke ich manchmal. Schließlich gibt es auch Männer, die Frauen mögen, die nicht dünn sind. Tante Monika hat mir einmal verraten, dass sie über hundert Männer gehabt hatte. Und sie ist auch nicht schlank, also wirklich nicht. Jenny meint allerdings, dass die meisten Männer schon auf schlanke Frauen stehen. Sie achtet sehr auf ihre Figur. Sie macht das, indem sie sich täglich übergibt. Sie versucht immer wieder, auch mir das Kotzen schmackhaft zu machen. »Das ist fantastisch, Rosi, du kannst fressen so viel du willst und bleibst trotzdem dünn.« Nach der Schule veranstalten wir manchmal Fressorgien bei ihr zu Hause. Ihre Eltern leben getrennt, die Mutter kommt immer erst abends nach Hause. Wir essen Chips, Schokolade, Torte, Käse. Dann sehe ich, wie sie mit zuckendem dünnen Rücken über der Kloschüssel hängt, und beschließe zu akzeptieren, dass man sieht, wie viel ich esse. Meine Mutter hat kürzlich einen Termin bei einer Psychologin für mich gemacht, weil sie glaubt, ich habe ein Ernährungsproblem. Ich saß vor dieser spindeldünnen Frau und sie fragte: »Fühlst du dich innerlich...