E-Book, Deutsch, 320 Seiten, Printausgabe 320 Seiten, Format (B × H): 150 mm x 220 mm
Reinhardt Train Kids
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-8369-9233-6
Verlag: Gerstenberg Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 320 Seiten, Printausgabe 320 Seiten, Format (B × H): 150 mm x 220 mm
ISBN: 978-3-8369-9233-6
Verlag: Gerstenberg Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dirk Reinhardt, geb. 1963, studierte Geschichte und Germanistik. Er arbeitete als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Münster und als freier Journalist. Heute widmet er sich ganz dem Schreiben von Büchern. Seine erfolgreichen Romane 'Train Kids' und 'Über die Berge und über das Meer' waren beide für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert; 'Perfect Storm' wurde mit dem Glauser ausgezeichnet.
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Wenn wir über den Fluss setzen«, sagt Fernando, »dann sind wir im Krieg. Vergesst das nicht!«
Er zeigt hinüber. Ich versuche, etwas zu erkennen am anderen Ufer, aber es gibt nichts zu sehen. Schon gar nichts Bedrohliches oder Gefährliches. Auch der Fluss selbst sieht ganz harmlos aus, wie er so träge vor sich hin fließt, im frühen Morgenlicht, mit den vielen schwer bepackten Flößen auf dem Wasser.
Krieg – das klingt nach Toten und Verwundeten, Bomben und Gewehren. Hat Fernando einen Witz gemacht? Er dreht sich um und sieht mir in die Augen. Nein, kein Witz. Dafür ist er zu ernst.
»Tu’s nur, wenn du sicher bist, dass du es willst«, sagt er. »Wenn nicht, hau besser wieder ab. . Ist die letzte Gelegenheit.«
Für einen Moment bin ich unsicher. Bisher war alles so weit weg: die Grenze und das Land dahinter und der lange Weg hindurch. Jetzt liegt es vor mir. Was mich wohl auf der anderen Seite der Grenze erwartet? Im Grunde habe ich nicht die geringste Ahnung, aber als ich aufgebrochen bin, habe ich mir geschworen, dass es kein Zurück geben darf. Nie wieder.
»Ich kann nicht anders«, höre ich mich sagen. »Ich muss es tun. Ich hab’s viel zu lange vor mir hergeschoben.«
Fernando dreht sich von mir weg und sieht die anderen an. Sie sagen nichts. Sie nicken nur stumm.
Es ist erst wenige Stunden her, dass ich sie getroffen habe. Und nicht viel länger, seit ich von zu Hause aufgebrochen bin. Trotzdem kommt es mir vor wie eine halbe Ewigkeit. So weit entfernt ist es inzwischen: unser kleines Haus in Tajumulco, in den Bergen von Guatemala. Mein Zuhause. Vielleicht sehe ich es nie wieder.
Ich weiß nicht, wie oft ich es mir vorgenommen habe: abzuhauen und meine Mutter zu suchen. Unendlich oft. Vor sechs Jahren hat sie uns verlassen, meine Schwester Juana und mich, und ist nie zurückgekehrt. Ich war acht damals, Juana vier. Erst war ich zu jung, um zu gehen. Später hatte ich nicht den Mut. Bis zur vorletzten Nacht. Da ging es nicht mehr anders, nach all den Dingen, die passiert waren: Ich los.
Während wir daliegen und den Fluss beobachten, sind die Bilder aus jener Nacht wieder da. Ich sehe es vor mir: wie ich aufstehe, Juana wecke und ihr erzähle, was ich vorhabe. Sie will mich zurückhalten. Als sie merkt, dass es zwecklos ist, holt sie ihre Ersparnisse unter der Matratze hervor und hält sie mir hin. Erst will ich das Geld nicht haben, doch sie droht, unseren Onkel und die Tante aufzuwecken. Also nehme ich es. Aber ich schwöre mir, es zurückzugeben – irgendwann, wenn wir uns wiedersehen. Dann umarme ich sie und schleiche nach draußen.
Es ist kalt und sternenklar. Über der Stadt ist der weiße Kegel des Vulkans zu sehen. Ich laufe, um warm zu werden. Später, als es schon hell ist, nimmt mich ein Lastwagenfahrer mit. Wir fahren aus den Bergen hinab in die Ebene und am Mittag bin ich weiter von zu Hause entfernt als je zuvor. Am Nachmittag setzt der Fahrer mich ab. Ich laufe zu Fuß weiter, nach Tecún Umán. Davon haben sie mir in Tajumulco erzählt: von der Stadt am Fluss, in der sich alle treffen, die über die Grenze nach Mexiko wollen.
Auf der Straße frage ich einen Jungen nach dem Weg. Er sagt, ich soll zur Migrantenherberge gehen, das sei der einzig sichere Ort in der Stadt. Da könnte ich zum letzten Mal in einem Bett schlafen und ein Frühstück kriegen, bevor es hinübergeht. »«, sagt er. Zu der Bestie.
In der Herberge übernachte ich in einem Schlafsaal. Alles ist so fremd, dass ich kaum ein Auge zutun kann. Zum Frühstück setze ich mich an einen leeren Tisch und da stoßen nach und nach die anderen dazu. Ich habe sie vorher nie gesehen, keinen von ihnen.
Wir finden heraus, dass wir alle das gleiche Ziel haben: durch Mexiko nach Norden bis in die USA. Als wir mit dem Frühstück fertig sind und jeder für sich losziehen will, schlägt Fernando vor, wir könnten die Sache ebenso gut zusammen angehen. Dann wären unsere Chancen besser, als wenn es jeder alleine versucht. Ich überlege kurz, dann bin ich einverstanden, die anderen auch. Und so hocken wir jetzt alle zusammen hier – am Río Suchiate, dem Grenzfluss, versteckt hinter einem Gebüsch, und überlegen, wie wir am besten hinüberkommen.
Ich weiß nicht viel über die anderen. Nur das Wenige, das sie beim Frühstück erzählt haben. Fernando ist der Älteste von uns, 16 oder so. Er stammt aus El Salvador und will zu seinem Vater nach Texas. Er ist der Einzige, der Mexiko kennt, weil er die Reise schon ein paarmal versucht hat. Was dabei schiefgelaufen ist und warum er es nie geschafft hat, habe ich mich nicht getraut zu fragen. Aber er weiß eine Menge über das Land. Jedenfalls mehr als ich und die anderen. Wir wissen so gut wie gar nichts.
Die anderen, das sind Emilio, Ángel und Jaz. Emilio ist aus Honduras, mehr hat er nicht von sich erzählt. Dass er Indio ist, sieht man ihm auch so an. Ángel stammt aus Guatemala, genau wie ich. Aber nicht aus den Bergen, sondern aus der Hauptstadt. Er ist erst 11 oder 12 und will sich zu seinem Bruder nach Los Angeles durchschlagen. Und Jaz, die heißt eigentlich Jazmina. Sie ist aus El Salvador, hat sich die Haare abgeschnitten und als Junge verkleidet. Damit sie auf der Fahrt nicht dumm angemacht wird, sagt sie.
Wir hocken nebeneinander und sehen durch das Gebüsch hinunter zum Fluss. Er ist ganz schön breit und hat eine ziemliche Strömung. Das Ufer auf unserer Seite ist schlammig, es stinkt bis zu uns herauf. Wahrscheinlich von den Abwässern, die eingeleitet werden. Auf der anderen Seite steigt Nebel hoch, er liegt wie ein Schleier über den Bäumen. Irgendwie sieht es geheimnisvoll aus. Als ich es betrachte, fällt mir der Junge wieder ein, dem ich in Tecún Umán begegnet bin.
»Hey, Fernando.« Ich stoße ihn mit dem Ellbogen an. »Was ist eigentlich mit der ›Bestie‹ gemeint?«
Fernando zögert. »Wieso fragst du?«
»Na, ich hab drüben in Tecún Umán einen Jungen getroffen, der mir von der Herberge erzählt hat. Er meinte, ich könnte mich da ein letztes Mal ausruhen, bevor es rübergeht. , hat er gesagt. Was heißt das?«
Fernando starrt auf die andere Seite, dann spuckt er aus. »Chiapas. Das heißt es. Die Gegend im Süden von Mexiko, durch die wir zuerst müssen. Die Leute nennen es die Bestie und sie haben verdammt recht damit. Es ist die Hölle. Jedenfalls für Typen wie uns.«
Er blickt finster vor sich hin. Eine Zeit lang ist es still, nur die Geräusche vom Fluss sind zu hören. Jaz hebt den Kopf und sieht mich an, dann zieht sie die Kappe, die sie trägt, noch ein Stück tiefer ins Gesicht. Ich habe das Gefühl, sie weiß auch nicht so recht, was sie von Fernando und seiner Art halten soll.
»Jeder, der nach Norden will, muss durch Chiapas«, sagt Fernando. »Und die einzige Möglichkeit dazu sind die Güterzüge. Also sammelt sich entlang der Bahnlinie das übelste Pack, das ihr euch vorstellen könnt. Sie haben es auf eure Kröten abgesehen – oder auf euch selbst. Außerdem sind die Gleise total hinüber. Ständig gibt’s Unfälle, Leute kommen unter die Räder. Deshalb heißt der Zug auch , Todeszug.«
Er setzt sich auf, mit dem Rücken zum Gebüsch, und fährt sich durch die Haare. »Beim letzten Mal hab ich einen kennengelernt, der hat mir erzählt, von hundert Leuten, die den Fluss überqueren, packen es gerade mal zehn durch Chiapas, drei bis zur Grenze im Norden und einer schafft’s rüber.« Er schüttelt den Kopf. »Eigentlich wollte ich das gar nicht erzählen, aber so ist es nun mal.«
Er wendet sich ab, irgendetwas Seltsames ist in seinen Augen. Ich weiß nicht, warum, aber ich werde einfach nicht schlau aus ihm. Will er uns nur auf die Probe stellen? Erzählt er gerne Horrorgeschichten? Oder ist es wirklich so, wie er sagt?
»Ich dachte, wir hätten bessere Chancen«, murmelt Jaz von der anderen Seite. »Weil wir zu fünft sind und nicht allein.«
»Ach, mach dir nichts vor«, sagt Fernando. »Allein oder nicht, am Ende ist doch jeder auf sich gestellt. Dann musst du deinen Arsch zusammenkneifen und sehen, wo du bleibst. Alles andere ist Träumerei.«
Er deutet auf den Fluss. »Jedenfalls müssen wir jetzt rüber, sonst ist der Zug weg. Also: Wer noch abhauen will, soll abhauen. Wer mit will, soll mitkommen. Erzählt nur später nicht, ich hätte euch nicht gewarnt.«
Er kriecht durch das Gebüsch und lässt uns zurück. Keiner sagt etwas. Dann macht sich auch Emilio auf den Weg. Der scheint sich für Fernandos Geschichten nicht besonders zu interessieren. Er sieht aus, als würde ihn alles nichts angehen – oder als würde...




