E-Book, Deutsch, 186 Seiten
Reihe: zur Einführung
Reinhardt Claude Lévi-Strauss zur Einführung
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-96060-034-3
Verlag: Junius Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 186 Seiten
Reihe: zur Einführung
ISBN: 978-3-96060-034-3
Verlag: Junius Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der Ethnologe Claude Lévi-Strauss (1908-2009) zählte zu den einflussreichsten Denkern des 20. Jahrhunderts und war zugleich einer jener Wissenschaftler, deren Werke unbestrittene literarische Qualitäten aufweisen. Wenngleich er nie eine Schule im eigentlichen Wortsinne begründet hat, hat doch praktisch eine ganze Generation von Geisteswissenschaftlern ihre wissenschaftliche Sozialisation über die Auseinandersetzung mit der von Lévi-Strauss entwickelten strukturalen Methode erfahren. Die Kenntnis seines umfangreichen Werkes aus erster Hand mag mittlerweile nicht mehr als unabdingbarer Nachweis der kulturellen Lesefähigkeit gelten, doch haben die darin diskutierten Fragen nach den Prinzipien des menschlichen Denkens und nach universalen Strukturen und Denkmustern bis heute nichts von ihrem Reiz eingebüßt.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
2. Strukturalismus
Es war schon die Rede davon, dass Lévi-Strauss’ Strukturalismus anfänglich eher »naiver« Natur war (NuF 65), eine Art intuitiver Strukturalismus, der sich zwar bruchlos an bestehende Theorien anschließen ließ, den Lévi-Strauss jedoch unabhängig von diesen entwickelt hatte. Die Freundschaft mit Roman Jakobson im New Yorker Exil sollte dieser Naivität freilich rasch ein Ende bereiten. Bereits 1945 veröffentlicht Lévi-Strauss in der linguistischen Zeitschrift Word den programmatischen Aufsatz »Die Strukturanalyse in der Sprachwissenschaft und in der Anthropologie«31, in dem er erstmals explizit den Versuch unternimmt, die Prinzipien der strukturalen Linguistik auf die Ethnologie zu übertragen. Er baut dabei vor allem auf Überlegungen auf, die von den Vertretern der sogenannten Prager Schule – hauptsächlich besagtem Jakobson und Nikolaj Trubetzkoy – angestellt worden waren. Insbesondere Jakobson hatte in seinen Schriften zur Poetologie und Narratologie eine erste Ausweitung der strukturalen Methode auf Gebiete jenseits der Sprachwissenschaft betrieben. Ferdinand de Saussure hingegen, der gemeinhin als Begründer des Strukturalismus gilt, spielt für diese Phase des Lévi-Strauss’schen Schaffens offensichtlich allenfalls eine mittelbare Rolle als theoretischer Wegbereiter und Stichwortgeber für die Autoren der Prager Schule. Saussures Namen erwähnt Lévi-Strauss zwar bereits in zwei frühen Aufsätzen (SA I, 45; EM 40), gleichwohl deutet doch vieles darauf hin, dass er den Cours de linguistique générale erst relativ spät gelesen hat. In seinen Publikationen aus den 1940er Jahren jedenfalls (inklusive der Elementaren Strukturen der Verwandtschaft) findet sich kein Hinweis darauf, dass er ihn bis zu diesem Zeitpunkt auf andere Weise als durch Sekundärliteratur vermittelt zur Kenntnis genommen hätte. Aber vermittelt oder nicht, die Nähe des Lévi-Strauss’schen Strukturalismus zu den erkenntnistheoretischen und methodischen Entwürfen des Schweizer Sprachwissenschaftlers ist unbestritten. Es scheint daher angemessen, wenigstens kurz auf die sprachwissenschaftliche Grundlegung der strukturalen Methode einzugehen. Der Cours de linguistique générale war in seiner ursprünglichen Form tatsächlich ein »Cours«, eine Vorlesung, die Ferdinand de Saussure in den Jahren 1906 bis 1911 an der Universität Genf hielt. Der später unter seinem Namen bekannt gewordene Text wurde erst nach Saussures Tod von zwei seiner Studenten, Charles Bally und Albert Sechehaye, nach Vorlesungsmitschriften zusammengestellt und veröffentlicht.32 Der Fokus des Textes liegt eindeutig auf Fragen der Sprachwissenschaft, Saussure stellt darüber hinaus jedoch eine Reihe von Überlegungen an, die schon bald auch in Gebiete jenseits der Linguistik ausstrahlen und jenen Paradigmenwechsel einleiten sollten, der ein gutes halbes Jahrhundert später als linguistic turn bezeichnet werden wird. Den auf den ersten Blick stärksten Bruch mit den vorstrukturalistischen Ansätzen bildet dabei die Abkehr von der historischen Perspektive. Saussure unterscheidet bei der Untersuchung von Sprachen zunächst einmal zwei grundsätzliche Betrachtungsebenen: die seinerzeit vorherrschende diachronische Perspektive, die das historische Werden einer Sprache analysiert, und die synchronische, die den Faktor Zeit weitgehend vernachlässigt. Zu einem Zeitpunkt, da die Sprachwissenschaft sich vorrangig Problemen der Sprachgeschichte und der Etymologie widmet, blendet Saussure die Frage nach der Herkunft der Begriffe wenigstens vorübergehend aus und schlägt stattdessen vor, die Beschaffenheit einer gegebenen Sprache zu einem bestimmten Zeitpunkt zu betrachten. Dieser Schritt war seinerzeit revolutionär, er hat aber durchaus Parallelen in anderen Disziplinen, in denen sich etwa zur gleichen Zeit eine ähnliche Verschiebung des Forschungsinteresses in Richtung Synchronie beobachten lässt. Im Bereich der Ethnologie etwa finden die gegensätzlichen Betrachtungsweisen ihre Spiegelung in den unterschiedlichen Zeithorizonten der evolutionistischen und diffusionistischen Schulen einerseits und der funktionalistischen, struktur-funktionalistischen und strukturalistischen andererseits. Lag bei den beiden erstgenannten der Schwerpunkt des wissenschaftlichen Interesses noch auf der Frage, wie Gesellschaften so geworden sind, wie sie sich dem zeitgenössischen Beobachter präsentieren, untersuchen die drei letztgenannten vorrangig, wie diese Gesellschaften sind. Die zweite strukturalistische Grundunterscheidung ist die zwischen langue und parole, zwischen der Sprache als System und der konkreten, einmaligen Sprachäußerung bzw., kürzer gesagt, zwischen »Sprache« und »Sprechen«. Diese Unterscheidung trennt nicht nur das Soziale vom Individuellen, sondern auch das Wesentliche vom mehr oder weniger Zufälligen.33 Phonetische Analysen haben gezeigt, dass es auch der gleichen Person niemals gelingt, ein Wort zweimal exakt gleich auszusprechen. Hinreichend empfindliche Aufzeichnungsgeräte vermerken stets kleine Abwandlungen der Lautgestalt. Vokale sind kürzer oder länger, die Tonhöhe kann zu- oder abnehmen, Konsonanten werden stärker oder weniger stark behaucht usw. Dennoch würde wohl niemand behaupten, es handle sich deshalb bei diesen Varianten um unterschiedliche Wörter. Das »eigentliche« sprachliche Zeichen existiert also unabhängig von seiner konkreten Artikulation im Akt des Sprechens. Und ihm allein, nicht seinen veränderlichen Realisierungen, gilt das Interesse Saussures. Auch diese Unterscheidung findet ihre Entsprechung in zahlreichen Nachbardisziplinen. Für Lévi-Strauss’ ethnologische Arbeit ist sie vor allem mit Blick auf die Analyse von Verwandtschaftssystemen und Mythen grundlegend. Mit ihrer Hilfe nämlich lässt sich die potenziell unendliche Zahl möglicher Heiratsformen und Erzählweisen auf eine überschaubare Zahl von Regeln und Transformationen zurückführen und eine Art Syntax von Verwandtschaft und Mythologie skizzieren (My I, 20). Drittens wird auf der Ebene der Zeichen unterschieden zwischen Signifikat (signifié) und Signifikant (signifiant), zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem. Bei beiden handelt es sich zunächst einmal um rein mentale Phänomene. Das Signifikat ist mithin kein Objekt der natürlichen Umwelt, sondern die Vorstellung, die sich der Zeichenbenutzer davon macht, der Signifikant keine konkrete Lautfolge, sondern ein Lautbild.34 Die Beziehung zwischen diesen beiden Aspekten des Zeichens ist nun nicht, wie man lange glaubte, nomenklatorischer Natur. Es geht also keineswegs darum, eine vorgegebene Anzahl außersprachlicher Gegenstände (Baum, Haus, Tisch etc.) mit einer entsprechenden Anzahl von Ausdrücken zu versehen. Vielmehr scheint umgekehrt die kognitive Erfassung der Welt wenigstens zum Teil überhaupt erst dem Vorhandensein oder Nichtvorhandensein differenzierender Zeichen geschuldet, scheinen es mithin die Zeichen zu sein, die unsere Wahrnehmung der Umwelt in bestimmte Bahnen leiten. Dass Saussure das sprachliche Zeichen vorrangig als mentales (oder psychisches) Phänomen beschreibt, darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass seine Zeichenkonzeption letztlich dem subjektiven Bewusstsein des Zeichenbenutzers keine besondere Bedeutung einräumt. Mehr noch, indem er die Bedeutungskonstitution allein auf die systemimmanente Differenzierung der Zeichen untereinander zurückführt, grenzt er nicht nur alle außersprachlichen Referenten aus, sondern in letzter Konsequenz auch das zeichengebrauchende Subjekt. Sprache (langue) ist hier ein überindividuelles, soziales Phänomen und existiert als solches unabhängig von den Wünschen und Vorstellungen des Einzelnen gleichsam zwischen den Gliedern einer Sprachgemeinschaft.35 Dadurch entzieht sie sich zugleich dem Bewusstsein des einzelnen Sprechers, der lediglich noch als eine Art Durchgangsstation fungiert, über die sich die Sprache im Sprechen ausdrückt.36 Im Werk von Lévi-Strauss wird dieser Aspekt der »unbewussten Infrastruktur« (SA I, 45) vor allem für den Umgang mit Mythen bedeutsam werden, die sich, so nimmt er an, gleichfalls »in den Menschen ohne deren Wissen denken« (My I, 26). Die Beziehung zwischen Vorstellung und Lautbild ist bei all dem arbiträr, also durch nichts in der Natur des Zeichens oder des außersprachlichen Referenten begründet.37 Selbst vermeintlich motivierte Zeichen, wie Ausrufe oder Onomatopoetika (d.h. Klänge nachbildende Wörter) sind von dieser grundsätzlichen Beliebigkeit des sprachlichen Ausdrucks nicht ausgenommen.38 Es gibt, mit anderen Worten, keinen natürlichen Zusammenhang, keine »notwendigen Beziehungen«, zwischen den beiden Aspekten des Zeichens.39 Dies erklärt auch, weshalb der gleiche Signifikant mit gänzlich unterschiedlichen Signifikaten verknüpft sein kann. Entweder als Homonym innerhalb derselben Sprache (das Wort »Bank« etwa, einmal als...