Reimann / Drescher | Alles schmeckt nach Abschied | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 464 Seiten

Reimann / Drescher Alles schmeckt nach Abschied

Tagebücher 1964-1970
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-8412-1456-0
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Tagebücher 1964-1970

E-Book, Deutsch, 464 Seiten

ISBN: 978-3-8412-1456-0
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Es war dieser scharfe, auch gegen sich selbst unerbittliche Blick der Schriftstellerin Brigitte Reimann, der uns mit den Tagebüchern ein einzigartiges Lebenszeugnis hinterlassen hat: die beeindruckende Biographie einer leidenschaftlichen, extravaganten Frau und zugleich ein Zeitdokument, das Geist und Stimmung einer ganzen Periode der ostdeutschen Nachkriegsgeschichte einfängt. Brigitte Reimanns Tagebücher sind einzigartige Zeugnisse eines ruhelosen, leidenschaftlichen, kreativen Lebens und zugleich Zeitdokumente, die Geist und Stimmung einer ganzen Periode deutscher Nachkriegsgeschichte einfangen.



Brigitte Reimann, geboren 1933 in Burg bei Magdeburg, war seit ihrer ersten Buchveröffentlichung, 'Die Frau am Pranger' (1956), freie Autorin. Mit 'Ankunft im Alltag' (1961) gab sie der 'Ankunftsliteratur' ihren Namen. Ihr Roman 'Die Geschwister' (1963) über die gerade vollzogene deutsche Teilung war eines der meistdiskutierten Bücher jener Zeit. Mit nur 39 Jahren starb die Autorin in Berlin-Buch an den Folgen einer Krebserkrankung.

Veröffentlichungen: 'Ankunft im Alltag' (1961), 'Die Geschwister' (1963), 'Das grüne Licht der Steppen. Tagebuch einer Sibirienreise' (1965), 'Franziska Linkerhand' (1974). Außerdem die Briefwechsel mit Christa Wolf, 'Sei gegrüßt und lebe. Eine Freundschaft in Briefen 1964-1973' (1993), mit Hermann Henselmann, 'Mit Respekt und Vergnügen' (1994), 'Aber wir schaffen es, verlaß Dich drauf. Briefe an eine Freundin im Westen' (1995) und mit Irmgard Weinhofen, 'Grüß Amsterdam. Briefwechsel 1956-1973' (2003), sowie die Tagebücher 'Ich bedaure nichts. Tagebücher 1955-1963' (1997) und 'Alles schmeckt nach Abschied. Tagebücher 1964-1970 (1998); 'Ich bedaure nichts. Mein Weg zur Schriftstellerin 1955 bis 1970' (Neuausgabe 2023). Aus dem Nachlass: 'Das Mädchen auf der Lotosblume. Zwei unvollendete Romane' (2003). Zuletzt erschienen 'Jede Sorte von Glück. Briefe an die Eltern' (2008), 'Post vom schwarzen Schaf. Geschwisterbriefe' (2018) und 'Katja. Erzählungen über Frauen' (2024).

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1964


2. 1. 64

Kein Talent für Silvesterfeiern. Mit Jon in der »Freundschaft«, unter lustigen und lauten Leuten, wir tranken Sekt und tanzten, und ich war die ganze Zeit traurig: ich hatte ein böses Gewissen wegen Daniel, der allein zuhaus geblieben war. Nach 12 Uhr rief ich ihn an, er war auf der Umgehungsstraße gewesen, hatte das Feuerwerk gesehen und Glockengeläut gehört, ganz allein. […]

Gestern abend fuhr er ab, er wird zwei Monate in Petzow arbeiten. Nun warte ich auf seinen Anruf, habe Heimweh nach ihm und keine Lust zu schreiben.

Hoy, 11. 1.

Gestern 2. Sitzung der Jugendkommission, die immer lebhafter, kritischer wird. Unser erster Beschluß (über Berufsbilder) liegt dem PB vor; hier – in der Berufslenkung – wird sich einiges ändern. Wir sind also keine Schwatzbude, nur Horst Schumann, mit seinem schlichten Verstand, quatscht. Wenn man diesen 1. Sekretär der FDJ hört, versteht man alle Schwierigkeiten in der Arbeit des Verbandes. Als Gäste Dr. Korn und Dr. Otterberg, die über Kontakte mit westdeutschen Studenten-Verbänden berichteten. O. ist Historiker, so sehr, daß er mit der ganzen Unbefangenheit des Wissenschaftlers über Erscheinungen des Dogmatismus sprach, darüber, daß – im Gegensatz zu anderen Ländern – in unserer Parteiführung nichts verändert wurde seit dem 20. Parteitag – er verletzte eine Menge großer Tabus.

Todmüde. […] Und dabei möchte ich seitenlang nur von einem großen Erlebnis erzählen: ich war bei Daniel.

Von Berlin ließ ich mich nach Petzow fahren. […] Als ich in sein Zimmer trat, unangemeldet, sah er mich an und sagte: »Ich habe darauf gewartet.« Wir waren sehr aufgeregt und – einfach glücklich. Er sagte erstaunt: »Als du reinkamst, sah ich, daß du ganz schwarze Augen hast.« Ich hatte ihm eine Mappe voller Geschenke mitgebracht, es ist so schön, Daniel etwas zu schenken.

Wir aßen im Heim zu Abend; Maurer ist da, der sympathische Bereska, […] natürlich Oehme (der inzwichen rehabilitiert worden ist – er saß 10 Jahre in Bautzen), »Protoplasma« Mickel, der scheußliche Gedichte schreibt. […]

Übrigens war der Wagen unterwegs kaputt gegangen, und alle redeten mir zu, in Petzow zu bleiben, und ich hätte es nur zu gern getan – wegen Daniel. Eine seltsame Beziehung. Wir küssen uns wie Geschwister […].

Ach, es war wunderbar, ihn endlich wieder zu sehen. Er brachte mich noch zu Bett, und er sagte, es sei eine Katastrophe, und ich weiß schon, was er gemeint hat. Es ist eine Katastrophe. Dann hörte ich den Wagen abfahren und war sehr traurig. Es war so schrecklich kalt draußen, und die Autobahn war spiegelglatt. Aber er ist gut heimgekommen – heute früh um 1/2 5.

Hoy, 12. 1. 64

Heute hat der Daniel Geburtstag. Ich habe ihn ganz früh angerufen […]. Nachts um 12 sind ihm die roten Nelken gebracht worden, die ich schicken ließ. Er hat sich so gefreut …

Jon kam, um mich abzuholen […]. Wir hatten uns gestern schon gestritten, jetzt brach der Streit wieder los, aber böse und gereizt. […] Den ganzen Tag war ich verzweifelt: er züchtet, bewußt oder unbewußt, das niederdrückende Gefühl in mir, ich sei ein oberflächlicher Denker; er meint, man dürfe nicht schreiben, wenn man nicht ein Problem zuende gedacht und eine Lösung gefunden habe. Aber wie kann denn einer die Lösung finden? Einer allein? Warum soll ich nicht meine Meinung sagen, ohne Anspruch auf letzte Gültigkeit zu erheben? Lieber schweigen? Er zieht es vor, gar nichts zu sagen, ehe er es riskiert, etwas Falsches zu sagen. Es ist ja wahr, ich bin wirklich zu schnell, zu spontan mit meinen Ansichten, zu freudig in meinen Entdeckungen, ich habe keinen ordnenden Verstand …

Lieber Gott, es ist schrecklich, daß dieses Gefühl immer mehr in mir wächst, es mangele mir an Intelligenz, Logik. Den ganzen Tag saß ich vor einem leeren Blatt Papier. Bei Zusammenkünften wage ich kaum noch den Mund aufzutun. Bin ich dumm, oberflächlich oder nur ungeschult […].

Hoy, 16. 1.

Ich hatte ein paar widerwärtige Tage mit Kopfschmerzen, Depressionen, Fremdheit bei Jon. Er kam getreulich, um nach mir zu sehen, aber das Band war gerissen. Ich lag den ganzen Tag auf der Couch, schlief, starrte an die Decke, schlief wieder, betäubt von Tabletten. Vorgestern abend saß Jon bei mir, wir schwiegen, aber – seltsam – rückten uns ohne Bewegung immer näher, bis zum Kuß. Ein paar Minuten rasenden Begehrens, dann erhob er sich. »Wenn man nicht mehr miteinander sprechen kann, kann man auch nicht miteinander schlafen.« Furchtbarer Augenblick. Aber gestern, plötzlich, sprachen wir wieder, gerieten in Streit über ein Marx-Wort, auf einmal war es wieder wie sonst: wilder Zank, später eine wilde Umarmung. Umarmung ist aber nie als Versöhnung zu verstehen, es gibt nichts zu versöhnen, wenn man um eine Sache streitet. Ich sei klug, sagt er, aber ich müsse lernen, Denkresultate anderer nicht einfach zu übernehmen, […] sondern unabhängig und durch eigenen Denkprozeß zu diesem Resultat zu kommen. […]

Fast eine Seite geschrieben. Endlich!

Petzow, 23. 1. 64

Für zwei Tage in Petzow – zwischen zwei Gesprächen. Ein Abend bei Henselmann, der meine Beziehung zu Jon zergliederte: Ohne daß ich mich irgendwie geäußert hatte, sagte er, J. […] rede mir ein, ich sei unwissend oder dumm, um mich an sich zu binden […]. Ich schwieg zu allem, weil ein Wort schon Verrat an Jon hätte werden können. Er darf auch nicht wissen von der körperlichen Fessel.

Vormittags Buerschaper und Lewerenz im Pressecafé! Sie redeten mir meine Ängste aus. L. las das Manus, es fehlte ihm an »originellen Details«. Er hat recht. Es ist von des Gedankens Blässe angekränkelt, ich beginne zu philosophieren. Dumm, dumm, dumm! Ich werde alles wegwerfen und ganz neu beginnen. […]

Nachmittags Gespräch in der Akademie, Kurella, Herzfelde, Hermlin (letzterer sehr liebenswürdig, gar nicht arrogant). Natürlich war ich sehr befangen, erst nach zwei Stunden taute ich auf. […] Zum Schluß hatte ich einen Lacherfolg, als ich fragte, was denn nun eigentlich sozialistischer Realismus sei.

Die zwei Tage mit Daniel tun mir gut. Ich fühle mich immer noch verletzt, unsicher. Er ist gut und sanft, wir sprachen viele Stunden.

Hoy, 26. 1.

Zwei Tage schreckliche Herzattacken, düstere Gedanken an den Tod (man glaubt zu sterben); um mich zu belustigen, formulierte ich mein Testament […]

Wie soll ich nur dieses verdammte Buch anfangen? Ich muß mit Jon sprechen, einfach sprechen. Aber wir sagen nichts. Wozu auch? Man hält Monologe und hört Monologen zu. Es bröckelt, es bröckelt.

Hoy, 10. 2.

Nun ist die D-Schwester schon seit einer Woche mit ihrem Susannchen bei mir, und wir hatten eine schöne Zeit. Zum Arbeiten bin ich natürlich nicht mehr gekommen, wir waren den ganzen Tag mit Baby beschäftigt oder haben geschwatzt. D. ist ein so liebes und natürliches Mädchen, und sie hat nun auch meine Beziehung zu Jon verstanden (Mutti hatte ihr eingeschärft, ja nicht nett zu diesem Menschen zu sein). […] Gestern haben wir einen richtigen Familien-Sonntag veranstaltet, mit ausschweifenden Mahlzeiten, Kaffeetrinken und müßigem Geschwätz zu dritt, und schließlich rauchte Jon eine Zigarre und trank einen Kognac dazu, und wir fanden es ein bißchen komisch und sehr gemütlich, so faul zusammenzusitzen. Dieses Gefühl, eine Familie zu sein, war mir ganz verlorengegangen.

Heute, zu unserem Hochzeitstag, schickte mir Daniel Blumen, es kam auch ein Brief, und ich war sehr traurig. »In Verehrung und Neigung …« […] Er ist gefangen in seinem Zauberberg, und mir graut schon vor der Zeit, die ich in Petzow sein werde. […] Übrigens war ich bei jenem Gespräch vor allem geschockt durch die Nachricht, daß D. in all den Wochen drei Seiten geschrieben hat. […] Vielleicht schreibe ich später Reißer, aber sie werden wenigstens gelesen.

Ein bißchen mehr Sicherheit für mich … Seit meiner Schulzeit habe ich allein kämpfen müssen, mich erhalten, einen anderen erhalten müssen. Manchmal bin ich mürbe, sehne mich nach einem Leben ohne so gewichtiges Risiko. Jon würde wenigstens versuchen, mir ein bißchen Sicherheit zu geben. Er wird Redakteur bei einer Betriebszeitung, und heute sagte er, wenn er dann ein gutsituierter Mann mit 450 DM Monatsgehalt ist, wird er seinen Stresemann anziehen, nach Burg fahren und bei Vater um meine Hand anhalten. Denn – es bröckelt nichts, alles ist besser und schöner als zuvor. Und vorgestern habe ich eine große Entdeckung gemacht, unter Tränen: als er mich umarmte, war seine Lust süßer und beglückender für mich als meine eigene Lust.

Morgen fährt die Dorli schon wieder weg, und ich bin bekümmert. Morgens beim Aufwachen nicht mehr das Spätzchen krähen zu hören … Es war wieder eine Freude, abends ins Bett zu gehen, als ich das Schwesterchen drüben wußte und unser Kind, mit dessen provisorischem Bett wir große Abenteuer hatten. Den Korb, den Jon für sie gebaut hatte, demolierte sie schon am ersten Abend, und wir mußten auf dem Teppich ein Lager aufschlagen, von dem sie immerzu unter die Couch kullert. Sie ist so lebendig und neugierig, lernt sitzen und sich herumwälzen, und sobald man sie aus den Augen läßt, robbt sie still und listig durchs Zimmer. Und natürlich ist sie wunderhübsch, und ich möchte sie immer abküssen. Jetzt schläft sie, die Ärmchen zur Seite geworfen, mit ihrem süßen, unschuldigen Gesicht, und ich schleiche manchmal hinüber und sehe sie an, sehe meine Versäumnisse. Mein...



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