Reichenbach | Die Pädagogik der Privilegierten | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 206 Seiten

Reichenbach Die Pädagogik der Privilegierten

Ein Essay
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-17-045336-4
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Ein Essay

E-Book, Deutsch, 206 Seiten

ISBN: 978-3-17-045336-4
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Das Buch befragt eine Pädagogik, die das individuelle Kind ins Zentrum stellt, aber nicht wahrnimmt, dass sie mit ihren Ideen in Wirklichkeit die Leistungsstarken und Privilegierten unterstützt - und viele, die andere pädagogische Umgangsweisen benötigen, um besser vorwärtszukommen, in ihrem Denken, Beschreiben und Urteilen auf seltsame Weise vergisst.
Angetrieben wird die Darstellung von der Frage, welche problematischen Wirkungen politisch und pädagogisch gute Absichten mitverursachen, auch und wenn sie von einer breiten Allgemeinheit kopfnickend unterstützt werden. Es handelt sich bei den Motiven, so die These, um liebgewordene politisch korrekte und humanistisch bedeutungsvolle pädagogische Mythen, hinter die niemand ernsthaft zurückfallen möchte. Das Buch macht sich gegen die letztlich undemokratische politisch-pädagogische Vereindeutigung des pädagogischen Denkens für eine dialektische und ambiguitätstolerante Sicht der Pädagogik stark.

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Einleitung
... mir gefällt nicht,
was ich von meiner Klasse sehe.
Catherine Liu Die folgenden Ausführungen, die aus didaktischen Gründen nicht immer ohne polemische Spitzen auskommen, fallen im Rahmen einleitender Bemerkungen vergleichsweise lang aus. Das hat auch damit zu tun, dass sie den ideellen bzw. theoretischen Hintergrund der anschließenden »Mythen-Kritik« darstellen sollen und sich dabei vier, allerdings von einander nicht unabhängigen Perspektiven und Phänomenen widmen, namentlich der Natur-Metaphorik, dem Wesen von Ideen und zeitgenössisch typischen Beispielen sowie ihrer »Sakralisierung«. Abschließend wird ein mögliches Verständnis von »pädagogischen Privilegien« erläutert. a) Natur-Metaphorik
In einem rohstoffarmen Land sei Bildung besonders wichtig, heißt es. Sie sei der einzige »Rohstoff«, dem es sein Fortbestehen und seine Prosperität verdanke. Die pathetische Floskel und Metapher sind nicht ohne Ironie. Auf viele Stunden, Tage, Wochen und Jahre des häufig als sinnfrei empfundenen Lernens, der Langeweile, aber auch der Sorge und des Stresses könnten Tausende von Schülerinnen und Schülern, Auszubildenden und Studierenden verzichten, würde das Land nur über natürliche Rohstoffe verfügen – sei es Erdöl, Erdgas, Kohle, Silber oder Gold, Kupfer, Nickel oder Zink. Doch nichts von alledem ist vorhanden. So muss der Rohstoffarmut des Landes mit Schul- und Berufsbildung als einer aufwändigen und im Einzelfall selbstwertgefährdenden Kompensationsstrategie begegnet werden. Kein Wunder, dass die Schule kritisiert wird, denn es will nicht gelingen, bloßen Rohstoffersatz attraktiv zu finden. Es gibt nichts, was an der Schule nicht kritisiert wird (die Schülerinnen und Schüler bleiben allerdings verschont). Annette Pfisterer (2003) unterscheidet pädagogische von psychologischen, medizinischen, soziologischen, politischen und institutionellen Aspekten der Schulkritik. Darunter werden 22 Problemfelder allein der pädagogischen Kritik genannt (aus insgesamt 69 schulkritischen Positionen). Kritisiert werden, um einige Beispiele zu nennen, etwa die Lehr- und Lerninhalte: Den einen sind sie zu »kopflastig« und einseitig »wissenschaftsorientiert«, den anderen viel zu »lebensfern«, den dritten nicht »kindgerecht«, den vierten im Gehalt zu »anspruchslos«, wiederum anderen aber zu »anspruchsvoll«. Die einen kritisieren die »Leistungsorientierung« der Schule, die anderen die »mangelnde Objektivität« der Leistungsbeurteilung, wieder andere allein die Ziffernnoten. Manche bringen Schule ohne weitere Probleme mit »Seelenmord« in Verbindung, andere kritisieren bloß den Mangel an ganzheitlicher »Persönlichkeitsentfaltung«, und wieder andere finden schlecht, dass die psycho-physiologischen Grundlagen des Lernens in der Schule keine Beachtung fänden. Gern werden auch pathologische Effekte des Lernens mit Prüfungsdruck hervorgehoben, manche wissen, dass Schule als Institution »generell krank« macht, einigen ist die Schule selbst eine kranke Einrichtung und wenn sie nicht krank ist, so bringt sie doch lebensfeindlichen Stress und stressbedingte Störungen mit sich. Jedenfalls ist die Schule körper- und/oder leibfeindlich, und es herrscht dort – in den Augen mancher – ein umfassender Bewegungsmangel, darüber hinaus eine fundamentale sensorische Deprivation und bedauernswerte Entsinnlichung. Die Schule produziere viele »sozial untaugliche Individuen«, benachteilige ganze Bevölkerungsgruppen, von denen gern gesagt wird, sie seien »bildungsfern« (wohl, weil sie sich der Rohstoffarmut im Land nicht ganz bewusst sind), jedenfalls verteile Schule die Lebenschancen ungerecht, sei mittelschichtsorientiert, selektiere statt zu fördern, sondere aus statt zu integrieren und reproduziere die Drei-Klassen-Gesellschaft – nicht zu reden von den Eigenarten der Lehrpersonen und ihrer in irgendeiner Hinsicht meist problematischen Persönlichkeiten. Ein Großteil der auch heute noch formulierten Schulkritik hat mit der Rohstoffmetaphorik gemeinsam, dass sie sich aus dem organischen Bereich nährt.1 Die Naturmetaphern und speziell die Wachstumsmetapher gehören zu den ältesten und beliebtesten überhaupt (vgl. Demandt 1978; auch Meyer 1969). Unter den Fahnen der Natur und des Natürlichen stehen auch momentan populäre und wirksame Formen der Schulkritik, auch wenn sie untereinander nicht konsistent sind. Drei Beispiele: Die erste Gruppe von Schulkritikerinnen und -kritikern weiß offenbar ganz über das »natürliche« Verhältnis zwischen Alt und Jung Bescheid und sie weiß, dass in den Schulen zu viel gekuschelt und zu wenig geführt wird. Mit der Kuscheldiagnose – eine bodenständige, aber dennoch imaginäre Ferndiagnose – und dem Führungsmotiv kann auf aufgeregte Weise Bildungspolitik betrieben werden. Die zweite Gruppe weiß im Unterschied zu den Kuschelkritikerinnen und -kritikern vor allem, dass die Schulen nicht kindgerecht sind, aber es unbedingt werden sollten, denn es gehe nicht darum, das »Kind schulgerecht«, sondern die »Schule kindgerecht« zu machen. Auch hier spielt das sogenannte Natürliche die wesentliche Rolle: letztlich die Natur, nicht die Gesellschaft, nicht die Zivilisation und nicht die Kultur des Wissens. So weiß diese zweite Gruppe ziemlich alles über die »wahre Natur« des Kindes und seine Entwicklung. Eine dritte, jüngere und laute Gruppe weiß plötzlich alles über das Gehirn und dieses hat ja von Natur aus nur eines im Kopf: Lernen, lernen, lernen! (Das Gehirn habe etwas »im Kopf«, diese Rede muss erlaubt sein, denn bei diesem Ansatz wird davon ausgegangen, dass das Gehirn denkt, nicht der Mensch oder die Person. Man möchte zunächst meinen, der Mensch denke mithilfe seines Gehirns, doch nein, es ist anders, das Gehirn denkt anstelle der Person ...). Wenn also das Gehirn nur immer lernen will, warum lässt man es nicht? – so fragen die Vertreterinnen und Vertreter dieser Gruppe. Warum schläft das Hirn in der Schule vielmehr links- und rechtshälftig ein und schrumpft Jahr für Jahr weiter? Jedenfalls leuchtet es nicht mehr so schön in all den bunten Farben in den diversen Arealen. Die Pädagogik ist zwar nicht mehr schwarz, sondern grau, scheint es, und die bildgebenden Verfahren sind dramatische Onto- und Topologisierer, Fetische der Hirnforschung. Aus dieser dritten Gruppe stammen kuriose Formulierungen. Ein Fundstück stammt aus Manfred Spitzers Feder, der alles über das Gehirn und damit – in seinen Augen – auch alles über die Schule und ihre Verbesserungsnotwendigkeit und -möglichkeiten weiß. Das Beispiel stammt aus einem Artikel mit dem Titel »Neurobiologische Erkenntnisse für die pädagogische Praxis« (Spitzer 2010, S. 65): »Lernen findet immer statt, wenn im Gehirn Prozesse des Erlebens, Fühlens, Denkens, Entscheidens und Handelns ablaufen. Daraus folgt, dass das Gehirn nicht zwischen Erziehung und Bildung unterscheidet – genauso wenig wie die Engländer [...].« Interessant sind schon die impliziten Vorstellungen von Lernen, welches »immer stattfindet«, wenn »im Gehirn Prozesse [...] ablaufen«. Es handelt sich um ein Beispiel für die heutzutage weitverbreitete Transformation des »Tuns« in ein »Geschehen«, das unbeteiligte Lernen im Gehirn (etwa der Schülerin oder des Schülers). Der Täter wird »eliminiert«, so Lutz Koch (2002), das Tun zur Wirkung des Gehirns »verdinglicht«. Dass schulisches Lernen, pädagogisch betrachtet, aber wesentlich mit Anstrengung und Bemühung, mit Ringen um Aufmerksamkeit und Verständnis, mit Denken, Nachdenken und Überdenken, mit Üben und Wiederholen, Nachfragen und Suchen zu tun hat (vgl. Koch 2002, S. 85), entgeht der naturalistischen Hirnperspektive naturgemäß. Darüber hinaus entzieht sich dieser Perspektive auch die Logik des Lernens, wonach es beim schulisch zu verantwortenden Lehren und Lernen um Kriterien der Wahrheit, der Deutlichkeit und der Anschlussfähigkeit geht, ebenso um seinen kommunikativen Charakter (vgl. Koch 1991, 2002), in welchem Rede, Frage und Antwort sowie das Gespräch die zentrale Stellung einnehmen. In diesen sozialen Praxen werden wechselseitig hermeneutische Grundoperationen geübt, Verständigungsformen wie das Begründen, Erklären, Beweisen und Widerlegen, Exemplifizieren, Induzieren, Deduzieren und Analysieren. Davon ist sowohl in der naturalistischen Kritik des Kuschelns und der Führung als auch der Kritik der Kindsgerechtigkeit einer Institution wie auch der Kritik der Hirnforschung nichts zu vernehmen. Der Spitzer'sche Befund, wonach das Gehirn »nicht zwischen Erziehung und Bildung unterscheidet – genauso wenig wie die Engländer« (Spitzer 2010, S. 65, Herv. R. R.) –, führt nun aber zu wirklich interessanten Nachfragen. Offenbar besteht eine gewisse Affinität zwischen dem Gehirn und den Engländern, die anderen Nationen verwehrt bleibt. Das deutsche Gehirn etwa unterscheidet – man...


Dr. Roland Reichenbach ist Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Universität Zürich.



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