Reich Männer sterben bei uns nicht
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-446-27736-6
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
ISBN: 978-3-446-27736-6
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
In einem prachtvollen Anwesen am See leben sie zusammen, die Frauen einer Familie, denen die Männer nach und nach abhandengekommen sind. Wie zahlreich die dunklen Flecken ihrer Geschichte sind, weiß nur eine von ihnen, die enigmatische Großmutter, die immer den Schein zu wahren wusste. Als Leni sich weigert, genau das zu tun, wird sie still und heimlich verstoßen. Zurück bleibt ihre Schwester, die nun allein gegen eine verhängnisvolle Tradition ankämpfen muss. Annika Reich erzählt von Schwestern, Müttern, Töchtern und Großmüttern, die der trügerischen Anziehungskraft weiblichen Verrats erliegen, auch wenn sie sich nichts mehr als gegenseitigen Beistand wünschen. Bis die Großmutter stirbt und die Geister der Vergangenheit sich nicht länger verstecken lassen.
Annika Reich, 1973 in München geboren, lebt in Berlin, ist Schriftstellerin und Künstlerische Leiterin des Aktionsbündnisses WIR MACHEN DAS und WEITER SCHREIBEN, des preisgekrönten Portals für Autor:innen aus Kriegs- und Krisengebieten. Sie ist Teil der Zeit-Online-Kolumne »10 nach 8«. Bei Hanser erschienen die Romane Durch den Wind (2010), 34 Meter über dem Meer (2012), Die Nächte auf ihrer Seite (2015) und ihre Kinderbücher Lotto macht, was sie will! (2016) und Lotto will was werden (2018). Ihr neuester Roman Männer sterben bei uns nicht erschien 2023 bei Hanser Berlin.
Autoren/Hrsg.
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1
Als ich die erste tote Frau entdeckte, war ich noch keine zehn Jahre alt und wollte angeln. Was war schließlich beruhigender, als eine Rute ins Wasser zu halten, an deren Ende ein Haken mit einer Brotkugel hing, die aufweichte und darauf wartete, dass ein Fisch anbiss, den ich weder fangen noch braten wollte, weil die Fische, die ich vom Steg aus angeln konnte, nicht essbar waren und ich sowieso nicht wusste, wie man irgendetwas brät.
Ich schloss das Bootshaus auf, drückte mich an dem Ruder-, dem Segel- und dem Motorboot vorbei, versuchte, mich nicht zu sehr vor den Spinnweben zu ekeln, holte die Angel aus der hinteren Ecke, knetete das Brot mit Spucke zu einer Kugel, befestigte sie am Haken und lief damit auf den Steg.
Schon bei den ersten Schritten Richtung Wasser sah ich aus dem Augenwinkel, dass etwas an der Badeleiter hing. Ich ging trotzdem zwei, drei Schritte weiter, vielleicht um Zeit zu gewinnen, vielleicht aber auch, um der Welt die Möglichkeit zu geben, mir die Entdeckung zu ersparen. Dann sah ich die Füße. An einem Fuß steckte ein Schuh, am anderen keiner, beide bewegten sich, als hätte das Wasser nicht nur ihre Haut, sondern längst ihre Knochen aufgeweicht. Es schwappte um sie herum.
Ich fing sofort an zu schreien, so laut und so schrill, dass ich meine eigene Stimme kaum wiedererkannte. Dann sank ich auf die Knie, hielt mich mit beiden Händen an der Angelrute fest und schrie und schrie. Meine Mutter kam zuerst angerannt. In hohen grünen Schuhen und einem engen grün schillernden Kleid, das ich noch nie an ihr gesehen hatte. Sie schien schon von Weitem erkannt zu haben, um was es ging, denn sie rief bereits auf halbem Weg: »Geh da weg, geh da sofort weg, hörst du? Sofort!«
Ich vernahm die Stimme meiner Mutter, aber weggehen konnte ich nicht. Ich gehörte zu der Szene wie die Füße, das Wasser, der Tod. Ich war keine Zuschauerin, die entscheiden konnte, all das nicht mehr sehen zu wollen, ich hatte die tote Frau gefunden.
Die Angel fiel auf den Steg, machte dabei ein seltsam gedämpftes Geräusch und blieb so liegen, dass sie in Richtung Anwesen zeigte. Ich griff einmal in die Leere, krallte mich dann am Holz des Steges fest und verwuchs mit jeder Sekunde mehr mit dem Bild der toten Frau. Das Holz fühlte sich morsch an, ich hatte Angst, dass es mir unter den Fingern wegbröselte wie das feucht gewordene Brot, das ich zum Angeln benutzt hatte. Meine Mutter schrie weiter, aber ihre Stimme blieb fern, bis sie plötzlich meine Schultern fasste und versuchte, mich wegzuzerren.
Irgendwann ließ sie mich los, stand wieder auf und rief noch vom Steg aus nach meiner Großmutter, die das nicht hören konnte, weil ihr Haus zu weit entfernt war und weil sie nur reagierte, wenn man ordentlich mit ihr sprach. Meine Mutter murmelte: »War ja klar«, und schrie dann viel zu laut in meine Richtung: »Du bleibst hier! Du bewegst dich nicht vom Fleck, keinen Millimeter!«, und ließ mich sitzen.
Ich starrte weiter auf den Steg, hörte aber die Schritte meiner Mutter, die so langsam waren, als gäbe es keine Eile, keinen Notfall, keine tote Frau. Ich verstand nicht, warum sie nicht endlich diese hohen Schuhe auszog und losrannte, um Hilfe zu holen. Ich verstand auch nicht, warum sie ein grün schillerndes Kleid trug, als wäre sie ein Wasserwesen, als könnte man gar nicht ertrinken, wenn man nur das richtige Kleid trug, die richtige Haut; am wenigsten aber verstand ich, warum sie mich mit diesen Füßen alleine ließ. Ich schrie wieder los und versuchte, nicht durch die Nase zu atmen, um die Füße der Frau nicht riechen zu müssen.
Während meine Mutter in ihrem Nixenkostüm die Polizei und den Notarzt, die Wasserwacht und die Feuerwehr rief, rutschte ich immer näher an die Leiche heran. Aus irgendeinem Grund musste ich mehr sehen von dieser Frau, die immer noch eine Strumpfhose trug und diesen einen Schuh. Als ich den ganzen Körper sah, den Rock, die Bluse, die Haare, nur nicht das Gesicht, das nach unten zeigte auf den steinigen Grund, wurde mir klar: Die Frau, die dort lag, war Leni. Es war meine Schwester, deren Füße im Wasser hin und her schwappten, als hätten sie keine Knochen.
»Es ist Leni!«, rief ich. »Sie ist tot!«
»Leni! Leni ist tot!«, schrie ich noch einmal.
Irgendwann tauchte meine Großmutter neben mir auf.
»So ein Unsinn, hör auf damit!«, hörte ich sie sehr leise und sehr deutlich sagen. »Das ist irgendeine unglückselige Frau, die ins Wasser gegangen ist.«
Sie setzte sich in aller Ruhe auf einen der Holzstühle, die rund um den alten Tisch herumstanden, an dem sie im Sommer mit ihren Freundinnen einen Sundowner nahm, Bloody Mary mit Eiswürfeln in schweren Kristallgläsern. Ich starrte auf ihre Füße und ihre Waden in diesen durchsichtigen Nylonstrumpfhosen, die sie auch im Hochsommer trug und die nichts mit den Strumpfhosen der toten Frau zu tun hatten.
Bloody Mary, dachte ich, während mein Blick auf den Füßen der toten Frau geheftet blieb und ich aus dem Augenwinkel die Beine meiner Großmutter wahrnahm, ihren dunkelblauen Faltenrock und die halbhohen Schuhe mit der goldenen Schnalle, die sie selbst heute so trug, als ginge sie in ein Museum. Ein paar der scharf gebügelten Falten waren umgeklappt, und ich sah, wie meine Großmutter jede einzelne mit ruhiger Hand wieder glatt strich. Währenddessen wiederholte sie ihre Sätze an mich. Sie sprach immer leiser, bis das Gesagte endlich bei mir ankam.
Dann hörte ich, wie meine Mutter von etwas weiter weg meine Großmutter anschrie: »Weg da! Wir müssen sie hier wegholen! Sie muss da weg! Was sitzt du da, als gäbe es Kuchen? Hol sie von der Leiche weg!«
Kuchen, dachte ich und blieb auf dem Boden hocken.
Mein Blick rutschte von der toten Frau ins knietiefe Wasser. Ich hob ihn hoch und flehte meine Großmutter an, mich hier zu lassen.
Die Angst, dass sie die tote Frau verschwinden ließen, wie sie meine lebende Schwester hatten verschwinden lassen, wuchs mit jeder Sekunde. Doch gerade als ich ihr das sagen wollte, atmete ich einmal tief durch die Nase. Es dauerte etwas, bis ich entschlüsseln konnte, was ich gerade gerochen hatte, zum Glück war es nur feuchtes Holz und das Parfum meiner Großmutter.
Ihr schnallenbeschuhter Fuß wippte nun langsam auf und ab, als wäre sie auf dieser Welt, um sich die Zeit zu vertreiben, als ginge es nur darum, diesen lästigen Zwischenfall hier auszusitzen. Ich war ihr so dankbar.
»Wir brauchen einen Rettungsring! Schnell! Wo ist dieses verdammte Ding?«, schrie meine Mutter, die sich plötzlich Sorgen zu machen schien, dass ich der toten Frau ins Wasser folgen wollte.
Ich nahm aus dem Augenwinkel wahr, dass sie ihre Schuhe ausgezogen hatte und eine Flasche bei sich trug, eine Whiskeyflasche. Ihre Füße in den Seidenstrümpfen waren nass und dreckig geworden. Vielleicht war sie doch aus dem Wasser gekommen mit der schillernden Haut und den nassen Füßen. Sie setzte die Flasche an.
Ich flüsterte »Wir haben sie umgebracht!« oder »Ihr habt sie umgebracht!«.
»Was redest du da?«, antwortete meine Großmutter genauso leise und stand auf. »Sie wollte nicht mehr. Das arme Ding!«
Dann wurde mir übel, und ich übergab mich ins Wasser.
Meine Mutter erzählte später, ich hätte nicht einmal gekotzt, ich hätte nur ganz nah an der Leiche gesessen und sie angestarrt, aber das war ihre Geschichte, und warum meine Mutter ihre Geschichten so erzählte, wie sie sie erzählte, war mir ein Rätsel. Das grüne Kleid hatte ich seit diesem Tag nicht wieder gesehen, so als hätte sie es nie getragen.
»Geht’s wieder?«, fragte meine Großmutter, und ich nickte, bewegte mich aber nicht vom Fleck.
Ich musste in der Nähe der toten Frau bleiben. Ich begann zu rechnen, und noch während ich rechnete, wusste ich es schon: Es war genau ein Jahr her, seit Leni ins Internat gegangen war, gehen musste, ohne sich von mir zu verabschieden; ein Jahr, seit ich ein Loch in die Hecke geschnitten hatte. Ein Jahr ohne Leni. Das konnte kein Zufall sein. Ich durfte mir diesmal nicht einreden lassen, dass alles mit rechten Dingen zuging. Ich hatte das nie geglaubt, und jetzt hatte ich den Beweis: Hier hing eine tote Frau am Steg.
Ich wollte wieder schreien, doch noch bevor ein Ton aus meiner Kehle drang,...