E-Book, Deutsch, 304 Seiten
Reich Ein Mann mit einer Tür
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-10-403182-8
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Erzählungen
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
ISBN: 978-3-10-403182-8
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Asher Reich wurde 1937 in Jerusalem geboren und wuchs im streng orthodoxen Viertel Mea Shearim auf. Er studierte Philosophie und Literatur an der Hebrew University in Jerusalem. Für seinen ersten Lyrikband ?Im siebten Jahr? wurde er mit dem Anne-Frank-Preis ausgezeichnet. Weitere Lyrikbände folgten. Zuletzt erschien ?Tel Aviver Ungeduld?. Asher Reich schrieb Hörspiele, Erzählungen und den autobiographischen Roman ?Erinnerungen eines Vergesslichen?. Asher Reich starb im Mai 2025 in Tel Aviv.
Weitere Infos & Material
Wassermanns Tochter
»Mutter, was ist die Hindin der Morgenröte?«, entschlüpfte mir plötzlich die lange zurückgehaltene Frage.
»Was hast du denn auf einmal mit der Hindin der Morgenröte?«, lachte meine Mutter.
Dann erzählte sie mir, die Hindin der Morgenröte sei eine perfekte himmlische Tierart, die unter allen Tieren der Welt, des Diesseits wie des Jenseits, an Barmherzigkeit nicht ihresgleichen habe. Bei Nacht sammle die Hindin Futter für hungrige Tiere und bringe ihnen ihre Beute, ohne selbst etwas davon zu kosten, bis alle sich sattgegessen hätten, und allein schon vom Zugucken beim Mahl der anderen werde sie satter als die Esser selbst. Sie blieb neben meinem Bett stehen, um aufzupassen, dass ich laut, Wort für Wort, das Gebet »Höre Israel« sprach. Zufrieden deckte sie mich zu und verließ langsam das Zimmer, indem sie die Lampe mitnahm.
Im Dunkeln sah ich die Marktgassen des Viertels Mea Shearim, über denen schmale Himmelsstreifen hingen, golden im Frühling und im Sommer, manchmal sogar in den Wintermonaten. Und frühmorgens blinkten sie in blassblauem Licht, so zart wie der Vorhang eines Thoraschreins, auf den, wie insgeheim, ein winziges weißes Wolkenfetzchen aufgestickt war. Nicht selten überlegte ich, ob das die Wolke des heiligen Weihrauchs war oder vielleicht nichts als eine verlorene Feder, die sich aus den geheimnisvollen Schwingen eines Himmelswesens gelöst hatte.
Säuerlicher Schweiß hing in der Luft über den engen, gepflasterten Gassen, beiderseits gesäumt von Ständen mit Obst und Gemüse, Fisch und Fleisch, an denen sich kauflustige Frauen drängten. Vermutlich war es der Vorabend eines Festes, für das die Vorbereitungen schon tagelang liefen. Mein Vater lebte noch, und so kann ich damals nicht viel älter als zehn Jahre gewesen sein, vielleicht nur ein paar Monate mehr. An diesem Tag hatte meine Mutter mir zum ersten Mal erlaubt, allein zum Stübel in Mea Shearim zu gehen, um dort das Nachmittagsgebet zu sprechen.
Als ich durch den Markt ging, sah ich ein dichtes Menschengedränge, gefurchte Mienen im ritualisierten Handelsgespräch. In dem bunten Treiben prägten sich meinen Augen Gesichter mit unterschiedlichem Mienenspiel ein, und das Gewimmel stank nach Fisch und verfaultem Obst. Vor den Fleischläden standen Blutlachen, und wenn Fleischer Kahana für seine Kunden Rinderteile zerlegte, sah er für mich aus wie ein Nachfahre der einstigen Tempelpriester, was zweifellos damit zusammenhing, dass wir gerade das Buch Levitikus durchnahmen.
Das Stübel war ein einfaches, dürftiges Bethaus mit Zimmern, in denen sich ständig Gruppen von mindestens zehn Mann im Schnelldurchgang zum Gebet versammelten. Die Beter murmelten rasch die altvertrauten Worte, flochten Alltagsnachrichten mit ein, erzählten sich den neusten Klatsch und redeten auch über den Gang der Geschäfte.
Das torlose Stübel lag im Erdgeschoss eines zweistöckigen Wohnhauses mit geräumigem Hof. Im Obergeschoss wohnten die Wassermanns. Von der Mutter und der kleinen Tochter hieß es, sie hörten Radio und trügen im Sommer kurzärmelige Kleider, die die Ellbogen unbedeckt ließen. Sie hatten einen schlechten Ruf unter den Betern, weil ihr Benehmen nicht den Geboten der Halacha entsprach, wobei noch erschwerend hinzukam, dass ihre Wohnung über der Synagoge lag, einem Ort also, an dem sich die Besucher mit ihrem Schöpfer vereinigen. Die Tochter Schoschana war etwa in meinem Alter. Sie hatte goldene Zöpfe, ein reines, volles Gesicht, und ihr Körper ließ erste Anzeichen von Weiblichkeit erkennen.
Als ich einmal mit meinem Vater im Stübel betete, sah ich sie oben im Hof stehen und die Beter unten beobachten. Ich konnte den Blick keinen Augenblick von ihr wenden, und als sie mich bemerkte, erglühten meine Wangen, und ich senkte rasch die Augen.
Jungen, die sich auf dem Innenhof des Stübels versammelten, riefen: » Hure, Nichtjüdin«, aber sie war weder erschrocken noch beleidigt darüber. Mit provozierend wirkendem Lächeln beobachtete sie uns weiter, bis ihr das Spiel langweilig wurde und sie im Haus verschwand.
Als ich allein ins Stübel kam, hob ich die Augen, um zu sehen, ob sie im Hof stand, aber es war nichts von ihr zu sehen. Während ich mit geschlossenen Augen und inbrünstig wippendem Oberkörper ins Achtzehngebet vertieft war, die heiligen Worte leise murmelte, als würde ich mit dem himmlischen König ein Geheimnis austauschen, erklang plötzlich eine zarte Mädchenstimme. Meine Ohren erfassten sofort diese Laute, die meinem Herzen ein warmes, nie gekanntes Gefühl bescherten. Langsam, wie im Traum, taten sich meine Augen auf. Ich hob überrascht den Kopf, und mein Blick verfing sich, wie mit Zauberbanden, an ihrer anmutigen Gestalt.
Durch das offene Fenster des Stübels fand ich sie schön wie die Königin Esther. Das weiche Haar fiel ihr in goldenen Locken über die Schläfen. Ihre Züge erstrahlten in einem wunderbaren, überirdischen Licht und hatten etwas sprühend Lebendiges. Ihre rosenroten Bäckchen verzogen sich zu einem Lächeln, das mir einen Lustschwall durch die Adern jagte. Verborgene Schultern und Arme endeten in entblößten feinen Handgelenken. Sie stand hinter dem Eisengeländer ihres Hofes, reckte sich im Schein der untergehenden Sonne. Vom Dunkel des Betraums aus, kam sie mir wie eine Engelserscheinung vor. Ein langer Moment verging, ehe ich aus dem Zauber erwachte und die Augen wieder ergeben auf das Gebetbuch in meinen Händen senkte. Wie auf der Flucht vor der Sünde fuhr ich fort, meinem verborgenen Schöpfer Dank, Lob und Preis zu spenden, doch trotz meines inbrünstigen Gebets flimmerte die Gestalt des Mädchens weiter vor meinen geschlossenen Augen. Im Herzen nannte ich sie schon »die Hindin der Morgenröte«, weil ihre blauen Augen und goldenen Haare mich an die Morgenröte erinnerten, die ich vom alljährlichen frühen Aufstehen zu den Bußgebeten vor den Hohen Feiertagen kannte. Als ich die Augen dem Licht öffnete, sah ich sie nicht mehr.
Nach dem Gebet, auf dem Heimweg, erblickte ich sie vor mir, wie sie durch die Marktstraße ging, so nah, dass ich sie berühren konnte. In diesem verfluchten Moment überkam mich der Trieb, drängte mich, ohne zu wissen, was ich tat, urplötzlich zu einer Übertretung. Als ich sie packte und betastete, fing sie an, mit mir zu ringen. Offensichtlich befiel mich eine momentane, wahnhafte Begierde, denn ich küsste sie auf den Mund, und als ich von ihr abließ, verlor sie das Gleichgewicht, stolperte und stürzte mit dem Arm auf die Pflastersteine. Sie stöhnte vor Schmerz, und ich sah sie hilflos an. Als ich mich über sie beugte, ihren Atem einsog, schrie sie mir Schimpfworte ins Gesicht, die mich auf der Stelle erstarren ließen. Erst als sie mich wütend als »Meschuggenen« titulierte, ergriff ich hektisch die Flucht.
»Was ist passiert? Warum bist du so blass?«, fragte mich Mutter besorgt, als ich nach Hause kam.
»Mir ist nicht gut«, sagte ich ausweichend.
»Wo fühlst du dich unwohl?« Mutter ließ nicht locker.
»Im Bauch. Ich hab Bauchweh«, log ich.
Sie beförderte mich schnell ins Bett und braute mir ein erprobtes Mittel gegen Bauchweh, das sie in dem Buch gefunden hatte, einem einige Hundert Rezepturen umfassenden Kompendium von Arzneimitteln aus alten und neuen Büchern. Nach diesen Rezepten bereitete meine Mutter – falls nötig, behüte – erprobte Mittel gegen Kopf-, Zahn-, Ohren- und Bauchschmerzen.
Ich lag im Bett und stöhnte für ihre Ohren extralaut, so dass sie es bis in die Küche hörte. Ein paar Minuten später erschien sie mit einem großen, vollen Glas im Zimmer und hieß mich die eigens zusammengebraute Mixtur – gesalzenen Weizenkleiesud, vermengt mit je einem Esslöffel Essig und Fischblut – trinken, solange sie noch heiß war. Ich nippte langsam, und meine Mutter trieb mich unaufhörlich an, das ganze Glas zu leeren. Das komische Gebräu ließ mich im Nu einschlafen.
Etwa zwei Stunden später erwachte ich von einer wütenden, fremden Stimme, die aus der Küche zu mir drang. Ich setzte mich im Bett auf und lauschte neugierig dem scharfen Wortwechsel. Bald begriff ich, dass es um mich und das Mädchen ging. Es war die Stimme ihres Vaters, Chaim Wassermann, der bei der Post arbeitete. Ich war ziemlich erstaunt, ihn über mich schimpfen und fluchen zu hören, derart, dass ich die Ehre seiner Tochter Schoschana und seiner Familie befleckt habe, als ich sie mitten auf dem Markt, vor den Augen aller unbescholtenen jüdischen Passanten, gewaltsam auf den Mund küsste. Ihre Mutter fügte hinzu, dass Schoschana durch mich auch am Arm verletzt worden sei.
Ich brauchte meine Ohren nicht sehr anzustrengen, um zu hören, dass meine Mutter Herrn Wassermann seiner Reden wegen heruntermachte. Mit ihrer kräftigen Stimme behauptete sie, der Herr der Welt habe mich zum Sendboten einer frommen Tat gemacht, um der Schamlosigkeit ihrer Tochter Einhalt zu gebieten, die sich ihr Unglück selbst zuzuschreiben habe.
Mein Vater versuchte vergeblich, sie zum Schweigen zu bringen. Und da sagte die Mutter des Mädchens: »Zwei Zeugen haben gehört, dass Ihr Sohn zu unserer Tochter Schoschana gesagt hat: ›Du sollst mir angetraut sein‹. Wir verlangen, dass diese Verpflichtung zu gegebener Zeit eingelöst wird.« Meine Mutter lachte schallend, wie immer, wenn sie in Verlegenheit geriet, denn so gewann sie Zeit, ihre Fassung wiederzugewinnen. Vaters ruhige Erwiderung, die den Streit zu schlichten suchte, ging im Stimmengewirr unter.
»Um Himmels willen! Tfu, tfu!«, wischte meine Mutter ihre Worte vom Tisch und spuckte auf den Boden.
»Euer Bürschchen hat unsere Tochter ›Hindin der...




