Reich Die Nächte auf ihrer Seite
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-446-24852-6
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-446-24852-6
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Annika Reich, 1973 in München geboren, lebt in Berlin, ist Schriftstellerin und Künstlerische Leiterin des Aktionsbündnisses WIR MACHEN DAS und WEITER SCHREIBEN, des preisgekrönten Portals für Autor:innen aus Kriegs- und Krisengebieten. Sie ist Teil der Zeit-Online-Kolumne »10 nach 8«. Bei Hanser erschienen die Romane Durch den Wind (2010), 34 Meter über dem Meer (2012), Die Nächte auf ihrer Seite (2015) und ihre Kinderbücher Lotto macht, was sie will! (2016) und Lotto will was werden (2018). Ihr neuester Roman Männer sterben bei uns nicht erschien 2023 bei Hanser Berlin.
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An der Mauer entlang
Sira hatte keine Lust auf eine politische Situation. Sie hatte nicht wochenlang in Farids Laden Pasten püriert und Paprika enthäutet, um irgendwelchen Aufständen beizuwohnen. Sie wollte mit ihren Cousinen Tennis spielen und auf dem Nil herumschippern, sie wollte sich von ihrer Tante bekochen lassen und über nichts nachdenken müssen, schon gar nicht über eine politische Situation.
Doch in Tunesien war die Lage eskaliert, Ben Ali auf der Flucht, und die Unruhen drohten auf andere arabische Staaten überzugreifen. Es war der 22. Januar 2011. Siras Flug nach Kairo ging in drei Stunden.
»Wie deine Großmutter immer gesagt hat: Geh leise an der Mauer entlang, wo dich niemand sehen kann. Denk bitte immer daran«, hatte ihre Mutter ihr am Vormittag zugeraunt und ihr dabei die üblichen Mitbringsel in die Hand gedrückt: 25 Tafeln billige Nussschokolade, zehn Flaschen künstlich riechendes Shampoo, Parfum aus dem Drogeriemarkt, Rheumasalben, eine Kiste voller Lesebrillen und eine ganze Palette Süßstoff, dazu mehrere aufwendig verpackte Geschenke.
»Glaubst du wirklich …?«, hatte Sira gefragt, aber ihr Vater, der die Probleme seines Landes inzwischen für Naturgesetze hielt, hatte sie schroff unterbrochen: »Aufstände in Ägypten? Schön wär’s! Darauf können wir lange warten. In Ägypten ändert sich nichts, jedenfalls nicht, solange ich noch lebe.« Dann hatte er sie umarmt und gesagt: »Fahr ruhig und mach dir keine Sorgen!«
Sira war trotzdem beunruhigt. Sie schaute auf die Uhr und schrieb ihrer Mitbewohnerin Christine einen Zettel.
Sira war heute Morgen aus dem Haus gegangen, ohne sich von ihr zu verabschieden. Beim Packen hatte Christine sie gefragt, ob sie in Kairo auch ein Kopftuch trage, ob ihre Cousinen alle ein Kopftuch trügen und ob Frauen, die Kopftuch tragen und Frauen, die kein Kopftuch tragen, die gleichen Interessen hätten? Sira hatte nichts darauf geantwortet und Christine nach der letzten Frage gebeten, sie in Ruhe weitermachen zu lassen. Jetzt hatte sie ein schlechtes Gewissen, aber sie war es so leid, dass ihre Berliner Freunde andauernd hören wollten, wie religiös ihre Familie war, und wie sehr ihre Cousinen von ihren Ehemännern unterdrückt wurden.
Sie schrieb: Sorry für vorhin, war nicht so gemeint. Ich bring Dir Gewürze mit. Umarmung. S. und legte den Zettel auf den Küchentisch. Da klingelte es auch schon.
Sira wuchtete die beiden Taschen über die Schultern, schloss die Wohnungstür hinter sich und ging die zwei Stockwerke hinunter. Farid kam ihr entgegen und nahm ihr das Gepäck ab: »Was ist denn da alles drin, um Himmelswillen?«
»Mama, du kennst sie doch! Und ich muss das jetzt alles mitschleppen. Wenigstens die Kinderriegel konnte ich ihr diesmal ausreden«, sagte Sira.
Farid lachte: »Kinderriegel, echt? Immer noch? Aber du weißt ja, zurück wird es noch schlimmer. Familie eben! Ich beneide dich, würde auch gerne mal wieder nach Kairo fahren.«
Die Familie. Wenn Sira ehrlich war, hatte sie jetzt nicht nur Angst, dass die tunesischen Unruhen nach Ägypten schwappen könnten, sondern auch, dass ihre Familie sie überschwemmte, bis kein Fleckchen Privatsphäre mehr übrigblieb. Das gefräßige, vielarmige Wesen ihrer ägyptischen Familie war zwar zärtlich, ließ sie aber nicht aus den Fängen.
»War dir das nie zu viel?«, fragte Sira, als sie in Farids Wagen einstiegen.
»Familie – zu viel? So ein Quatsch! Wer hat dir das denn eingeredet?«
»Warum denkst du immer, mir hätte jemand was eingeredet?«
»Denke ich das immer?«, fragte Farid.
Vielleicht hatte er recht. Die meisten ihrer Tanten waren humorvolle Ladys, in deren Fängen es sich eigentlich ganz gut leben ließ; außerdem war sie gegen den Tantenkraken sowieso machtlos, und je früher sie sich das eingestand desto besser.
»Wo ist Markus eigentlich?«, fragte Farid, als sie an einer Ampel hielten.
»Er lernt.«
»Hat er Prüfungen?«, fragte Farid.
»In drei Monaten«, sagte Sira.
Farid drehte den Kopf in ihre Richtung: »Fleißig, fleißig.«
»Lass es!«, sagte sie.
Als Markus ihr erklärt hatte, warum er sie nicht zum Flughafen bringen konnte, hatte sie ihn sogar ein bisschen bewundert, aber die Ehrfurcht vor seiner Geradlinigkeit schwand mit jeder Minute, der sie sich dem Flughafen näherten. Und spätestens, als sie sah, wie ihr Bruder hinter der Absperrung wartete, bis sie durch die Sicherheitskontrolle gegangen, wie er dort stand, wartete und winkte, bis sie um die letzte Ecke gebogen war, verstand sie Markus nicht mehr, ihn nicht und diesen emotionalen Geiz nicht, den er ihr ständig als Vernunft verkaufte. Und je mehr sie nun darüber nachdachte, desto wütender wurde sie auf ihn und desto wütender wurde sie auf sich, weil sie diese Anfälligkeit für alle Arten von Vernunft hatte, selbst für den als Vernunft maskierten Geiz. Vernünftige Menschen gaben Sira das Gefühl, berechenbar zu sein, berechenbarer als ihre Mutter, aber das war eine andere Geschichte.
Nun stand Sira an der Kasse des Flughafenshops und kaufte eine Flasche Schnaps für ihren Onkel Tamer, der als einziger in der Familie Schnaps trank und die Menschen unterteilte in solche, die trinken und solche, die nicht trinken. Das Trinken schied nicht nur Religiöse von Nicht-Religiösen, sondern war auch eine Frage der Klassenzugehörigkeit; Onkel Tamer schätzte natürlich nur die Trinker, alle anderen waren für ihn humorlose, religiöse Eiferer. Er nutzte außerdem jede Gelegenheit, um dem Rest seiner Familie zu demonstrieren, dass er viel kosmopolitischer war als sie, er, der in den USA studiert hatte und mit einer Frau aus der Kairoer upper class verheiratet war. Die Familie rührte keinen Tropfen an, aber ließ Onkel Tamer trinken, so wie sie den salafistischen Cousin oder Siras Vater in Ruhe ließ, der Witze über den Islam machte.
Sira schaute sich in dem Laden um. Außer ihr kauften vor allem Geschäftsmänner ein. Ein Pickliger zwinkerte ihr zu. Sie wendete sich ab. Als sie wieder aufschaute, stand eine Frau, die eine Niqab trug, vor ihr und kaufte einen knallroten Lippenstift. Die Frau erinnerte sie an eine Dame, die sie einmal während des Ramadans in Kairo getroffen hatte.
Damals wollte Sira auch Schnaps für Onkel Tamer besorgen. Doch die Kassiererin weigerte sich, ihr die Flasche zu verkaufen und blickte dabei so entschlossen drein, dass Sira das Getränk gerade wieder zurück ins Regal stellen wollte, als eine ältere Dame hinter ihr auftauchte und die Kassiererin anherrschte, ihrer Tochter auf der Stelle den Alkohol auszuhändigen. Die Kassiererin erschrak, senkte den Blick und tippte den Preis in die Kasse.
Sira hatte der Frau mit einem kurzen Lächeln gedankt und dann etwas abseits auf sie gewartet, um sie zu fragen, warum sie ihr geholfen habe. Diese hatte sie angefunkelt und erwidert, dass es ihr ganz und gar nicht gefalle, wenn während des Fastens getrunken werde, nein, das gefalle ihr nicht, und es gefalle ihr auch nicht, dass eine junge Frau wie sie überhaupt Alkohol kaufe; was sie aber noch viel weniger leiden könne, fuhr die ältere Dame fort und machte eine kurze, effektvolle Pause, seien Bitches.
Daran dachte Sira, als ihr Flug aufgerufen wurde, sie den Schnaps bezahlte und ins Flugzeug stieg. Nun schaute sie auf das mausgraue Berliner Rollfeld und beschloss, sich erst einmal nicht mehr bei Markus zu melden. Sie kippte zwei Bloody Marys, weil ihr Bloody Marys wie der Gipfel der Unvernunft vorkamen – schließlich schmeckten sie nicht einmal –, schlief kurz darauf ein und wachte erst wieder auf, als die Landung in Kairo angekündigt wurde.
Ihre beiden Cousinen Nahla und Myriam winkten ihr schon von weitem zu und redeten sofort lauthals auf sie ein, fragten nach ihren Eltern, nach Farid, nach Ada und Fanny. Sie verließen das Flughafengebäude, Sira schlug die warme, versmogte Luft entgegen, und mit einem Atemzug standen ihr all die Erinnerungen an frühere Besuche vor Augen; Szenen von sonnenbeschienenen Nachmittagen auf den Rasenflächen der Social Clubs, von stundenlangen Mall-Besuchen mit ihren Cousinen und von all den nicht enden wollenden Familienessen.
Auf der Fahrt nach Zamalek verlor Sira mehrmals den Gesprächsfaden, weil sie sich an das schnell gesprochene Arabisch erst wieder gewöhnen musste, aber auch weil der Blick aus dem Fenster sie immer wieder ablenkte: Wie viele Menschen in Kairo auf den Straßen liefen, wie laut es war und wie sehr es nach Benzin roch, nach Staub und nach Essen. Daran würde sie sich nie gewöhnen können, egal wie oft sie hier war. Im Radio sang Muhammad Mu?nir: Wenn die Brise durch ihr Haar fährt, sagt sie Aah. Auch das feine Parfum, das mit ihrer Haut verschmilzt, sobald es sie berührt, sagt: Aah.
Nahla rollte die Augen und schaltete das Radio ab. Sie fuhren am Lieblings-Straßencafé ihres Onkels, dem Zahrat al-Bustan, vorbei und zahllosen anderen Restaurants, Supermärkten und Läden mit ihren chaotischen Auslagen, in denen es von Auberginen über Rollkoffer bis hin zu Autoreifen alles zu kaufen gab. Dann fuhren sie über die Brücke auf »die Insel«, wie Zamalek hier genannt wurde, und bald nachdem sie die Brücke verlassen hatten, änderte sich das Straßenbild – alles wurde ruhiger und gepflegter, stiller und vertrauter. Sie parkten den Wagen.
Zu Hause hatte Tante Seda groß aufgekocht und die ganze Familie...