E-Book, Deutsch, 392 Seiten
Reich Der Märchenphilosoph
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7568-8031-7
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 392 Seiten
ISBN: 978-3-7568-8031-7
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Beginnen wir damit, das allerpersönlichste Märchenwesen in uns zu entdecken, um zu verstehen, wer wir wirklich sind. Bin ich denn nun ein listiges Fabelwesen, ein kluger Elf, eine ratlose Heldin vor ihrer Feuerprobe, eine gütige Fee oder ein Seeadler, der durch die Weite des Himmels gleitet? Lassen wir zunächst jenes vor uns selbst verborgene Geheimnis aufleuchten! Seien wir endlich jene Märchenfigur, die wir uns bisher nur im kostbar gehüteten Traum erlaubt haben zu sein! Die Substanz all dessen ist seit Jahrtausenden dieselbe, sie bleibt unvermindert des Menschen größtes Mysterium, es ist nach wie vor die Magie. Eine heitere, sentimentale Reise voller Irrtümer und Glück. Vom Zauber, die eigene Gabe zu finden und zu entfalten, um sie dann zu verschenken.
Markus Reich wurde 1968 in Rastatt/Baden geboren und wuchs in der Region Stuttgart und im Schwarzwald auf. Während des Ingenieurstudiums entdeckte er die leidenschaftliche Liebe zur Literatur. Studienaufenthalten in Frankreich und Indien schloss sich eine zehnjährige Reisetätigkeit als Ingenieur in vierundzwanzig Ländern an. Seit 2017 ist Markus Reich freier Autor und schreibt Romane, Erzählungen, Drehbücher und Theaterstücke.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Im mystischen Wald
In der Wasserpension
Céline protestierte missmutig bellend, als sich für unseren Geschmack viel zu früh die Großstadt ankündigte. Der Verkehr nahm zu und Céline reckte aufmerksam den Kopf. Schon donnerten wir röhrend auf der mehrspurigen Straße dahin, plötzlich knickte die weißgestrichelte Bahn ab und zeigte steil nach unten. Wir starrten auf das bis an den Horizont reichende Häusermeer. Ein hoher, runder Turm überragte alles. Matt schimmerten die langgezogenen Streifen zweier Flüsse. Die dünnen Kamine eckiger Industrieanlagen spießten majestätische Wolken auf. Céline nieste mehrmals, worauf ich die Luftklappen schloss. Im Zentrum angekommen, gondelten wir über breite Kreuzungen und warteten vor Ampeln. Ausschließlich unbekannte Menschen hasteten über Gehsteige. Wir fuhren an der Eitelkeit eines weiten Platzes entlang. Noch nie hatte ich länger in einer Großstadt gelebt. Céline schaute mich vorwurfsvoll an, ihr Gesichtsausdruck war unmissverständlich: „Junge, du hast dich ganz schön verfahren. Was um alles in der Welt sollen wir hier?“ Ich fuhr kreuz und quer durch unbekannte Straßen und Viertel und sah mich aufmerksam um. Alles war neu, alles war fremd, das beklemmende Gefühl, nicht hierher zu gehören, beschlich mich unweigerlich. Irgendwann quetschte ich den Talbot Samba in eine freiwerdende Parklücke. Obwohl Céline zunächst nicht einmal aussteigen wollte, vom Beifahrersitz aus kritisch den nassen Boden betrachtete und vorsichtig schnupperte, betraten wir den Gehsteig der uns ach so fremden Stadt. In holprigem Schulfranzösisch befragte ich Passanten nach einer Unterkunft. Einige wussten nichts, andere winkten ab, während sie dahineilten, einer fühlte sich belästigt, und eine beschrieb ein Hotel an einem Platz namens Bellecour, das sich nach immensen Zimmerpreisen anhörte. Das war eine Konsequenz der kurzfristigen Entscheidung, hierher zu kommen, für eine Anmeldung in einem Studentenwohnheim war es zu spät gewesen. Wir irrten durch Lyon, bis wir die Pension Aquarius fanden. Die Rezeptionistin namens Madame Poisson hatte einen beeindruckenden Leibesumfang. Bald sollte ich verstehen, warum die Pension diesen Namen trug. Ich sah mehrere Zimmerspringbrunnen und überall hingen riesige Meer-, Teich-, See- und sogar schillernde Pfützengemälde. Im achten Stockwerk steckte sie einen Schlüssel in das Schloss einer hellblau gestrichenen Liliputtür. Das wandbreite Fenster bestand aus zwei großen Glasplatten, die auf Schienen liefen und sich mit nicht zu unterschätzender Kraftanstrengung bewegen ließen. Hier willst du doch nicht wohnen, dachte ich, als ich missmutig auf den szenetypisch tropfenden Wasserhahn starrte. Madame Poisson rief frohgemut „Voilà“ und hob beschwichtigend ihre Hände, als wäre das nicht gerade magnifique, aber wenn ich unbedingt darauf bestehe, dann, na ja, dann sei es das eben nun mal. Nachdem sie mich darauf hingewiesen hatte, mein Auto auszuladen, auf jeden Fall, bevor es dunkel würde, ließ sie uns allein. Statt die Füße unter die Arme zu nehmen, um diesem Albtraum zu entgehen, ertappte ich mich dabei, wie ich das Bett quer vors Fenster schob. Schon lag ich rücklings auf einer kratzigen, rauen Decke mit einem Leintuch darunter, das am oberen Ende um den grauen Filz gefaltet war. Ich stellte mir vor, wie ich mich im Schlaf darin verwickeln würde und schleuderte das bescheuerte Traversin gegen die allzu nahe Wand am Fußende des Bettes, schob den abgewinkelten Arm unter den Kopf und betrachtete den Himmel über Lyon. Alles andere, vor allem diese ideale Existenz, die ich zu suchen beschlossen hatte, war weiter weg denn je. Sie war derzeit nichts als eine Vorstellung, ein blasser Traum. Nur in seltenen Augenblicken war eine Ahnung von etwas Wertvollem spürbar. So oder ähnlich dachte ich unentwegt im Kreis herum, als müsste ich von nun an stets solche Gedanken haben. Wo war eigentlich Céline? Als ich nach ihr rief, kam sie staubbedeckt unter dem Bett hervorgekrochen. Sie nieste mehrmals und schaute mich danach vorwurfsvoll an, als ob ich schuld daran wäre, dass sie so staubig sei. Na ja, irgendwie war es ja auch meine Schuld. Wer hatte uns denn in diese Absteige gelotst! „Mademoiselle Céline, was machst du da unten? Kann ich nicht einmal in Ruhe meinen destruktiven Gedanken nachhängen?“, schimpfte ich lachend mit meiner treuen Begleiterin und entstaubte sie. „So, jetzt können wir unseren Krempel aus dem Auto holen.“ Céline legte sich auf die Seite, offensichtlich ihre Schlafposition, denn sie schloss die Augen. „Oder auch nicht. Gut, dass du hier bist, Céline. Sonst würde ich mit mir selbst reden.“ Der Paukenschlag eines mächtigen Donners machte das überambitionierte Vorhaben des Ausladens endgültig zunichte. Es blitzte und stürmte, rauschte und strömte, dass es eine Wonne war. In einem Bett an der Glasscheibe eines schäbigen Pensionszimmers zu lehnen und diesem Naturschauspiel zuzusehen war herrlich. Schon prasselte der Gewitterregen gegen die in ihren Schienen wild vibrierenden Fensterhälften, der Wind pfiff durch das Zimmer, als würde sich Aiolos einen Spaß mit uns machen und persönlich die Luft durch die fingerbreiten Ritzen blasen. Céline sprang aufs Bett und kroch zu mir unter die Decke. Nur wenige Zentimeter lag ich getrennt von Kälte, Nässe und Wind, fühlte eine wohlige Wärme in meiner Brust, freute mich darüber, umarmte das Traversin und spürte Céline neben mir. Tief eingewühlt in das Knäuel aus Kratzdecke und Leintuch schlief ich ein. Als ich wach wurde, nahm ich als Erstes den Gesang der Vögel wahr. So lag ich, bis Céline auf mir herumlief und ich prustend auflachte. „So wird das nichts. Céline, ich versuche zu meditieren.“ Aber wahrscheinlich war Célines Störaktion sowieso wertvoller in Sachen ewige Wiederkehr als mein kläglicher Meditationsversuch. Also schnappte ich die Hundeleine. Sofort war Céline gut gelaunt, ihr fiel es natürlich hundeleicht, die richtigen Momente zu sammeln. Die Auswirkungen des Gewitters und des Vogelkonzerts brachten eine verführerische Prise Sinn und Schönheit mit sich. Dieses Gefühl dauerte einige Momente an. Danach war da erneut nur diese seltsam kostbare Selbstbesinnung, die mich ergriffen hatte, als ich in Lyon ankam. „Die Gegenwart ist das Leben und besteht aus einzelnen Momenten in der Zeit“, sagte ich zu Céline, als könnte sie mich verstehen. Sie sah mich abwartend-kritisch an und schien zu antworten: „Logisch, aus was sonst?“ „Du hast recht. Es ist total bescheuert, sich über die ewige Wiederkehr Gedanken zu machen, aber ich kann derzeit einfach nicht anders.“ „Wuff, wuff.“ Das hieß natürlich so viel, wie: „Quatsch nicht, los geht’s!“ „Du hast leicht reden, du warst auch nicht kürzlich so gut wie tot.“ Céline tanzte um mich herum und schnappte nach der Hundeleine, womit sie Tatsachen schuf, denen ich mich nicht länger entziehen konnte. „Aber es regnet noch leicht“, versuchte ich einen letzten Protest, worauf Céline nur noch energischer an der Hundeleine zerrte. Ich hätte mich wohl durchsetzen sollen und klarmachen müssen, wer hier das Herrchen ist. Aber eigentlich hatte sie recht. Es war höchste Zeit, die nähere Umgebung zu erkunden. Als wir am Auto vorbeiliefen und ich meine Sachen darin sah, dachte ich, dass wir ausladen müssen, bevor das jemand für uns erledigt. Die breiten, geraden Straßen in diesem Stadtviertel wirkten unendlich. Es schien unmöglich, einmal in diesem Teil der Welt gelandet, jemals wieder herauszufinden. Wellblechfabriken ragten ins Nichts. Wir betraten eine belanglose Asphaltfläche vor einem verlassenen Supermarktgebäude. Ein Ruck an der Leine. Ich ließ Céline frei. Im nächsten Moment raste sie kreuz und quer über den leeren Parkplatz und freute sich über die wiedergewonnene Unabhängigkeit, mit der ich im Gegensatz zu ihr nichts anzufangen wusste. Sie hatte ja auch mich und durfte sich somit zugehörig und aufgehoben fühlen. Genau das fehlte mir. Wo fühlte ich mich zugehörig? Welche Ziele hatte ich? Gegenwartsechte Momente zu sammeln, war ein abgehobenes und verrücktes Vorhaben. Ich hätte beginnen müssen, auf die richtige Art darüber zu philosophieren. Denn hier hatte ich nichts außer der splitternackten Gegenwart: Jetzt. Jetzt. Jetzt. Nicht grübeln, nur sehen, nur fühlen. Jetzt. Dieser Augenblick und nichts anderes. Jetzt, Jetzt … Nicht denken, nur sehen, nur fühlen. Jetzt. Das Existente ist der einzelne Atemzug. Lückenlos reihen sich inmitten des Zeitstrahls die Momente aneinander, sausen unaufhörlich aus der Zukunft auf uns zu, werden Gegenwart, liegen hinter uns, bemühen sich um undurchlässige Kontinuität. Irgendwo muss eine Lücke sein und dazwischen – aber was soll da schon Besonderes sein? So einfach war es nicht. Keine Erkenntnis nirgendwo. Als ich die Augen öffnete, war da...