E-Book, Deutsch, 176 Seiten
ISBN: 978-3-7317-6138-9
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jens Rehn wurde 1918 in Flensburg geboren und war im Zweiten Weltkrieg U-Boot-Offizier. 1950 wurde er Redakteur beim RIAS Berlin, ab 1958 leitete er die Literaturredaktion. Jens Rehn starb 1983 in Berlin.
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Der Einarmige war tot. Einwandfrei tot. Sein Herz schlug nicht mehr. Der Puls hatte aufgehört. Es kam nun nicht mehr darauf an, ob er 120, 130 oder 146 zählte. Pulsschläge waren belanglos geworden. Was war schon eine Zahl? Wenn nichts da war, um gezählt zu werden? Einfach nur so hinzählen, ohne daß eine Substanz vorhanden war? Der Andere dachte nach und wußte noch gar nicht, was vor ihm liegen könnte. Aber er fühlte, daß sich etwas vorbereitete. Der Tote lag da, und der Tag dämmerte herauf; der Tote lag da, und die Temperatur war noch angenehm. Der Einarmige war gestorben. Er hatte sterben müssen, früher oder später. Wegen seines Armes. Der Andere aber war gesund, kein Schuß und keine Wunde. Nur ein bißchen Durst. Was war das schon gegen den Einarmigen? Nichts. Alles in Ordnung. Also bitte! Irgendwann würden die Flugzeuge kommen oder vielleicht auch ein U-Boot. Die Sonne stieg aus der Kimm, und es war nichts in Sicht. Der Tote lag in der Gegenüber-Ecke des Schlauchbootes. Seine Beine waren seltsam unnatürlich in dieser Lage. Er hätte seine Beine anders hinlegen sollen, bevor er starb, überlegte der Andere. Doch es war wohl zu schnell gegangen, er hatte keine Zeit mehr gehabt. Er ist tot, sagte er sich. Er lebt nicht mehr, er ist gar nicht mehr. Hier liegt nur noch die Hülle, der Rest, leer wie eine Schachtel. Schade. Ich mochte ihn gern. Ich hätte ihn früher treffen sollen, ein paar Jahre vor diesem Floß. Und nun? Hat er es nun besser oder geht es mir besser? Er schob die Beine des Toten in eine andere Lage. So, jetzt war der Anblick erträglicher. »Die Toten wollen immer etwas von den Lebenden«, sagte er vor sich hin. »Wenn sie nicht mehr sind, was sie waren, dann macht sich ihr Rest selbständig und wird aggressiv. Nicht nur der Einarmige hier, auch die anderen. Auch, wenn sie schon unter der Erde sind. Oder unter dem Wasser.« Er dachte lange Zeit nach über das, was er gesagt hatte und wiederholte es dann. Hier war schwierig durchzukommen. Aber die Tatsache blieb, sie griffen an. Ja, sie belästigten einen sogar manchmal. Wie die Beine eben. Oder wie Maria früher. Und immer noch. Sie geben keine Ruhe. Vielleicht ist das eine Art Rache der Gestorbenen? Und was wird der Einarmige noch tun? Doch der Einarmige kümmerte sich nicht um die Gedanken des Anderen. Er lag still und fast freundlich auf der anderen Seite des Schlauchbootes und war nur tot. Weiter nichts. Es genügte ihm, einfach so da vorne zu liegen. »Vorne«, sagte der Andere. »Mein Gott, wo ist hier denn vorne?« War er selbst vorne oder war der Tote vorne? Wer war auf welcher Seite? Wo trieben sie überhaupt hin? Wie setzte die Strömung? Voraus? Der Andere konnte kein Vorne feststellen. Ihm schien aber, daß der Einarmige vorne lag. Es war noch früher Morgen und der Himmel klar und ohne Wolken. Das Wasser rauchte wie an jedem Morgen bisher. Die Sonne stieg langsam und unaufhaltsam aufwärts, und der Einarmige war tot, und der Andere wußte es im Grunde noch gar nicht richtig. Und der Einarmige vielleicht auch noch nicht? Was man so denkt, dachte der Andere. Wer weiß denn überhaupt etwas? Der Andere trank seinen Morgenschluck mehr aus Gewohnheit und weniger wegen seines Durstes. Er hatte keinen Durst. Der Tote war noch frisch, und der Andere hatte merkwürdigerweise keinen Durst. Das kam sicherlich von der kühlen Nacht. Der Einarmige hatte seinen Armstumpf endlich angelegt. Er stand nicht mehr ab. Das hatte der Andere sich in den letzten Tagen immer gewünscht, aber natürlich nicht, daß der Einarm dann tot sein sollte. Der Einarmige hatte den Stumpf erst angelegt, nachdem er gestorben war. Trotzdem beruhigte es den Anderen, obwohl er wußte, daß es zu spät war. Er sah den Toten an und erinnerte sich an ihn. So, wie man sich gewöhnlich an die Toten erinnert. Was er gesagt hatte. Die Bewegungen. Gestern noch. Das Fieber, und wie er ihn hatte festhalten müssen. Die schönen Nächte und das gemeinsame Trinken und die Zigaretten. Gestern noch, dachte er, wie schnell vergeht das Gestern! Die Sonne stieg schnell aufwärts. Der Andere wartete. Der Einarmige blieb tot. Es geschah nichts. Ihm war, als ob etwas geschehen müßte: er sah weg von dem Toten und dann ganz schnell wieder hin. Aber es veränderte sich nichts. Die Sonne hatte ihren Mittag erreicht und der Einarmige ebenfalls. Die Sonne begann zu fallen, der Einarmige jedoch wuchs weiter. Es war kein Ende abzusehen. Der Andere trank einen halben Schluck von seiner Mittagsration. Mit den Zigaretten war er wieder sparsamer geworden. Er überlegte, ob er einen Kaugummi verbrauchen sollte. »Lieber nicht«, sagte er. »Es kann noch lange dauern.« Er fühlte seine Zähne mit der Zunge ab. Das war ein sonderbares, taubes Gefühl, so, als sei alles nur halb da, Zunge und Zähne. Die Backenzähne, ganz hinten, kamen ihm ungeheuer groß und zerklüftet vor. Er trank den Rest seiner Portion aus. Er mußte sich Mühe geben, um nicht noch mehr zu trinken. Der Durst unter dieser Feuersonne war wie ein Trichter auf die Flasche hin. Er hätte es gern vermieden, überhaupt zu trinken. Denn der Einarmige trank ja auch nicht. Gestern noch hatte er getrunken. Sie hatten niemals allein getrunken, immer nur zusammen. Er wußte genau: der Einarmige war tot. Doch als er allein trank, hatte er ein schlechtes Gewissen. Dem Einarmigen war plötzlich die Unterlippe hinuntergerutscht. Der Andere hatte nicht gesehen, wie sie hinuntergefallen war. Als er gerade mit dem Trinken fertig war und wieder hinsah, war die Unterlippe unten. Es sah aus, als grinse der Einarmige. »Na«, sagte der Andere laut zu ihm und rutschte hinüber. »Entschuldige bitte«, sagte er und versuchte, ihm die Unterlippe wieder heraufzuziehen. Aber sie wollte nicht über den Zähnen bleiben und fiel immer wieder hinunter. Der Andere hatte Angst bekommen. Denn als seine Hand das Gesicht des Toten berührt hatte, war es sehr kalt gewesen. So kalt, wie es unter dieser Sonne niemals hätte sein dürfen. Er fühlte an den Beinen und am Arm nach. Sie waren ebenfalls kalt. Er hielt ihm seine heiße Hand auf die Stirn. Es nützte jedoch nichts, die Stirn blieb kalt. Er fühlte deutlich, daß die Stirn nicht nur oberflächlich kalt war. Die Kälte hatte einen tiefen Eiskern, der heraufkam und sie immer kälter machte. Der Andere nahm seine Hand schnell wieder weg und setzte sich zurück auf seinen Platz. Langsam und eingehend suchte er den Horizont ab. Es war jedoch nichts auszumachen. Er versuchte lange Zeit, den Toten nicht anzusehen. Es strengte an, nicht hinzusehen. Weil so wenig da war, wohin man überhaupt sehen konnte. Der Einarmige wurde ihm immer fremder. Er wußte nicht, weswegen. Denn er veränderte sich doch nicht. Er war jetzt nicht mehr der Einarmige von gestern. Jetzt war er bereits ein Toter. Als er endlich wieder einmal hinsah, bekam er einen Schreck, denn nun lachte der Tote ihn vollends an. Der Andere kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können, so, als wäre der Tote sehr weit weg. Doch das Lachen blieb. Die Oberlippe hatte sich unter der Sonne gestrafft und spannte hoch, die Unterlippe war sowieso unten: so bleekten die Zähne, und der Mund lachte. Dem Anderen schwamm das Denken davon, und sein Herz schlug heftig. Der Tote fing an, etwas zu tun. Er bewegte sich. Da war etwas hinter dem Toten, was sich für ihn und durch ihn bewegte. Jemand zog an den Schnüren der Puppe. Seine Gedanken beschleunigten sich. Dieser Kerl, dieser Mann ohne Arm, und welche Rolle spielte der Arm? Keine! Und liegen die Beine nicht auch wieder anders? Das sieht aus wie ein Totenschädel, ohne Fleisch. Natürlich ist da noch Fleisch, aber das Lachen macht den Kopf dazu, und aus dem Stumpf ragt der Knochen. Im Naturkundeunterricht, oder war es Biologie, verflucht noch mal, in Untersekunda hatten sie das Skelett des Menschen durchgenommen, und es war ein echtes Skelett gewesen, von einem hingerichteten Raubmörder vermutlich, aber den Lehrer hatte es nicht gestört. Denn er war ein Spaßvogel, und die Schüler mochten ihn ganz gern. Er hatte immer seine Jacke ausgezogen und unterrichtete in Hemdsärmeln. ›Die Knaben holen nun unser liebliches Skelett‹, sagte er und überlegte sich seine jährlichen Späße. Er erklärte das Gerippe und zählte die Knochen auf. Er ließ die Schüler die Knochen an ihren eigenen Körpern nachfühlen, soweit es möglich war. Er schnippte mit den Daumen unter den Hosenträgern und lachte und zeigte und erklärte. In der nächsten Stunde wurde dann das Innere und Äußere des Menschen durchgenommen, das Skelett wurde eingekleidet, wie er sagte. Haha! Wichtig waren hier vor allem die Geschlechtsorgane und alles, was mit ihnen zusammenhing. Sie lernten, zu was der Hoden nutze war, die Funktion der Eierstöcke, und was es mit den Follikeln auf sich hatte. Die Schüler merkten ausgezeichnet auf und lernten nicht das, was sie später einmal wirklich brauchen würden, das war das Manko des Unterrichts bei dem spaßigen Lehrer. Er hätte es ihnen so beibringen sollen, daß sie später einem mittleren Hürchen gewachsen gewesen wären. Oder vielleicht jetzt schon, denn sie kamen ja langsam in das Alter. Ausgerechnet der Primus holte sich dann auch prompt etwas. Doch dafür konnte der Lehrer natürlich nicht und die Eltern auch nicht, die hatten überhaupt nichts gesagt. Der Vater von Hoffmann hatte den Primus dann stillschweigend wieder auskuriert, der war Facharzt für solche Sachen; gut, daß der Hoffmann Junior in der Klasse war. Die einzelnen Knochen des Skeletts vergaßen sie später schnell, wozu...