Reger / Petersen | Zeit des Überlebens | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 160 Seiten

Reger / Petersen Zeit des Überlebens

Tagebuch April bis Juni 1945
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-88747-313-6
Verlag: Transit
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Tagebuch April bis Juni 1945

E-Book, Deutsch, 160 Seiten

ISBN: 978-3-88747-313-6
Verlag: Transit
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Dieses hier erstmals veröffentlichte Tagebuch von Erik Reger ist ein einzigartiges Dokument der Zeitenwende 1945. Es ist das minutiöse und unverfälschte Protokoll darüber, wie ein gewaltiger weltgeschichtlicher Umbruch (die Niederlage der NS-Herrschaft, das Kriegsende, der Sieg der Roten Armee und der Beginn einer anderen politischen Ordnung) in einem kleinen Dorf stattfindet und von seinen Bewohnern wahrgenommen wird. Detailliert wird darin erzählt, wie sich die Niederlage des NS-Regimes in Gerüchten ankündigt, wie Parteigenossen »Vorbereitungen« für die Zeit danach treffen, wie sich die russischen Offiziere und Soldaten verhalten, was Flüchtlinge erlebt haben, wie schnell sich gerade linientreure Volksgenossen der neuen Ordnung anpassen. Reger und seine Frau blieben damals verschont, weil sein Roman »Union der festen Hand« 1934 in der Sowjetunion veröffentlicht worden war, und er ein Exemplar davon (von seinem Verleger Ernst Rowohlt besorgt) den russischen Soldaten präsentieren konnte.

Erik Reger, (eigentlich Hermann Dannenberger) war vor und nach der Nazizeit einer der bekanntesten Schriftsteller und Journalisten in Deutschland. 1893 in Bendorf am Rhein geboren, war er von 1919 bis 1927 Pressereferent und Bilanzkritiker bei der Krupp AG. Er kündigte dort Ende 1927, arbeitete als Theater- und Literaturkritiker und veröffentlichte 1931 den Roman »Union der festen Hand«, in dem es um die Verbindungen zwischen einem mächtigen Industriekonzern und die rechten Parteien (bis zur NSDAP) ging. Für diesen Roman, ein Bestseller, erhielt Reger, zusammen mit Ödön von Horvath, 1931 den Kleistpreis. Das Buch (auch nach dem Krieg bis heute immer wieder als Taschenbuch veröffentlicht und in den siebziger Jahren verfilmt) wurde 1933 verbrannt und verboten, Reger emigrierte in die Schweiz, bekam aber keine Aufenthaltserlaubnis und musste 1937 nach Deutschland zurück; er zog nach Berlin und war Lektor in einem Verlag. Von 1943 bis zum Sommer 1945 lebte er mit seiner Frau in dem Dorf Mahlow südlich von Berlin und schrieb dort dieses Tagebuch, das vor kurzem von Andreas Petersen in seinem Nachlass entdeckt wurde. Im September 1945 wurde Erik Reger Lizenzträger, Herausgeber und Chefredakteur der Tageszeitung DER TAGESSPIEGEL. Er gilt als einer der Pioniere einer freien Presse nach der NS-Zeit. Er starb 1954 in Wien.man.
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26. April, Donnerstag.


Gegen sechs Uhr früh wache ich vom Gepolter auf. Ich sehe nach – der Leutnant ist offenbar erschrocken darüber, daß er seit dem Nachmittag den Dienst verschlafen hat, hinausgestürzt und hat die Haustür sperrangelweit offen gelassen. Einer der Italiener – der Techniker aus Paris, der Bauernjunge aus der Toskana schnarcht unentwegt – berichtet, daß der Leutnant verzweifelt den richtigen Ausgang gesucht habe, und nun bemerke ich, daß er die Verdunklung vor der Tür zum Wintergarten heruntergerissen hat, in der Meinung, da gehe es hinaus.

Dadurch, daß man die Straße hinunter, bis zum letzten Haus links, wo ein Pumpbrunnen ist, zum Wasser holen muß, begegnet man mehr Leuten, als man je hier gewohnt war. Alle fangen ein Gespräch an. Ich kenne niemanden mit Namen und nun reden sie von ihren Erlebnissen. Der oder die, heißt es, ist aus ihrem Haus geflüchtet, weil sie es nicht aushalten konnten. Wohin denn? In den Ort jenseits der Bahn, zu Bekannten, wo es nicht so abgelegen und einsam ist wie bei uns in der Burgsdorfstraße. Herr Pfeffer war inzwischen nach Blankenfelde gepilgert; dort habe es schon Brot gegeben, berichtet er, der Elektriker Borchert habe die Organisation in die Hand genommen. Hier in Mahlow hört man von nichts dergleichen. Wir leben von dem bißchen Vorrat, das wir aus den Liebespaketen des Schwagers aus der Schweiz haben – sie waren größtenteils für Manfred und für seinen eigenen Sohn Georg, der ebenfalls Soldat in Deutschland ist, gedacht.

Es ist eigentümlich, alle Leute »Guten Morgen« sagen zu hören, als hätten sie nie »Heil Hitler« gesagt. Und wie verbreitet war das »Heil Hitler« in Mahlow! Jetzt behaupten alle, den Schwindel immer durchschaut zu haben, und wenn man auf ein Klagelied über Plünderung antwortet, das sei eben das Ergebnis von zwölf Jahren Nationalsozialismus, so rennt man offene Türen ein. Ich habe es ja stets vorausgesagt, daß es so ganz undramatisch kommen wird. Nichts von Rache, nichts von Reinigung. Jeder schlägt sich seitwärts in die Büsche und ist nie dabei gewesen. Selbst darüber, wie die deutschen Soldaten es in Rußland, Frankreich, Belgien, Holland getrieben haben, sind alle »Volksgenossen« sich plötzlich klar! Herr Pfeffer erzählt mir schreckliche Dinge, die er »dienstverpflichtet« mit eigenen Augen in Rußland mitangesehen hat, Auspeitschungen von Juden, Frauen und Kindern wegen geringfügiger Dinge, weil sie ein paar Pfund Mehl verborgen hatten, um sich vor dem Hunger zu retten, und das nicht nur durch SS, sondern durch reguläre Wehrmacht, versichert Herr Pfeffer.

Von ihm abgesehen, möchte ich auch niemandem sonst unrecht tun, ich kannte sie früher nicht, und man kann in niemanden hineinsehen, vielleicht haben sie im Innersten wirklich den Nationalsozialismus abgelehnt und sind nur aus Furcht oder, schon schäbiger, weil man dann persönlich bequemer lebte, öffentlich eifrig mitgelaufen – aber diese allgemeine Offenbarung des Abscheus gegen Hitler nachträglich ist doch ein Zeichen für den morbiden Charakter dieses Kriegsendes und das Jenseits aller Moral, in das sich das deutsche Volk hat hinein manövrieren lassen. Welcher Unterschied gegen 1918! Damals eine fieberhaft nach politischer Aktivität drängende Menge – heute wissen sie nicht einmal mehr, was Politik ist, geschweige, was denn sie damit sollen. Stumpf, verdrückt und bang schleichen sie dahin.

Die Bomber ziehen wieder nach Berlin.

Aus der Richtung des Bahnhofs kommt die Frau Heß mit einer weiteren Frau, mit einem russischen Soldaten und einem Zivilisten. Nachher, als ich ihr begegne, sagt sie, sie hätte ihr Haus verlassen und Unterkunft jenseits der Bahn bei Frau Heller, die perfekt russisch spräche, gefunden. Das sei die Dame, die mit ihr gekommen sei. »Wissen Sie denn nicht, wie mein Mann vergangene Nacht mißhandelt wurde? Sie haben ihn mit Maschinenpistolen den Kopf zerschlagen, weil sie mich nicht bekommen haben, ich weiß nicht, ob mein Mann mit dem Leben davonkommen wird, er lag die ganze Nacht blutend im Keller bei uns, die Ärztin sagt, es wird eitern. Ich bin beim Kommandanten gewesen…« Ich unterbreche sie: »Gibt es denn einen Kommandanten?« Ja, der höchste Offizier im Ort sei provisorischer Kommandant. Er habe ihr einen Soldaten mitgegeben, der habe sich die Verwüstungen in ihrem Hause angesehen und den Kopf geschüttelt. »Und weiter?« frage ich. »Nichts weiter.« Ich schweige. Die Frau Heß war mir vorher so wenig wie alle anderen hier bekannt. Nach ihren Worten habe ich den Eindruck eines gewissen Typs von Frau, den man in Berlin »angeberisch« nennt, der das große Wort führt und den Ehemann bemuttert, indem er ihm andichtet, kränklich oder schwach, jedenfalls bemutternswert zu sein. Was soll man zu alledem sagen? Man müßte die Verhältnisse erst objektiv untersuchen.

Noch im Laufe des Vormittags sehen wir einen weiteren Russen bei Heß durch das Gartentor gehen. Das penetrante Hausmädchen steht wieder mit nackten Armen fuchtelnd an der Türschwelle. Nach einem Wortwechsel haut ihr der Russe rechts und links um die Ohren und betritt dann das Haus. Frau Heß erklärt später, der sei ebenfalls vom Kommandanten geschickt gewesen, um den Fall zu untersuchen und habe seinerseits das Hausmädchen vergewaltigen wollen. Außerdem habe er dies und das im Haus gestohlen. Heßens Nachbar rechter Hand erzählt, daß die bei ihm einquartierten Soldaten von der Artillerietruppe, der unser Leutnant angehört, in der Nacht alle Frauen im Hause vergewaltigt und sein Küchengeschirr zerschlagen hätten.

Ein Soldat kommt zu uns und will etwas für den Leutnant. Mir dämmert, daß ich morgens die Lederkappe auf dem Tisch habe liegen sehen, die er vergessen hat, als er fortstürzte. Ich führe den Soldaten herein: Richtig, so ist es, die soll er holen. Nach einer Weile kommt der Leutnant selbst, diesmal ganz nüchtern, lächelnd und strahlend. Ein Mann ist bei ihm, »Mechaniker aus Moskau« höre ich. Vertrauenserweckendes Äußere, eine »ehrliche Haut« möchte ich sagen. »Kaffee?« fragt der Leutnant. »Gut«, sage ich, »wird gekocht.« Ich bin wirklich froh, ihn wieder einmal da zu haben. Jetzt können wir vernünftig sprechen, so weit wir uns verständigen können. Das, was die Frau Heß vom Kommandanten sagte, geht mir im Kopf herum, denn ich warte darauf, daß ein Ortskommandant eingesetzt wird. Der Leutnant schüttelt den Kopf: »Kommt später. Wenn kommt, schnell mit ihm sprechen, damit Brot.« Mir geht es freilich nicht ums Brot allein. Ich möchte weiter kommen und endlich zu arbeiten beginnen. Pläne habe ich genug, und mir erscheinen sie so wichtig! Dann will ich wissen, wie der Kampf um Berlin und überhaupt steht. Zur Zeit schweigt die Front völlig, als sei alles vorbei. Ich habe eine gute Karte, auf der ich den Stand der Front jeweils nach den ausländischen Radiosendungen eingezeichnet habe. Am letzten Sonntag bin ich stehengeblieben. Aber der Leutnant kann auch nur vage Angaben machen. Sein Blick fällt auf die Gegend Spreewald, Schlesien. Nun wird er, und auch der Mechaniker, lebendiger. Wie alle Soldaten, wenn sie von den Orten hören, die ihre Feldzüge berührt haben. Seine Truppe ist von Glogau, Jauer, Cottbus heraufgekommen. Der Speck und die Butter, die sie verzehren, stammen also von Schlesien- und Spreewaldbauern. Der Kaffee mundet ihnen. »Große Bibliothek!« sagt der Leutnant mit einer Kopfbewegung abermals. Er holt mein Buch, liest laut das Russisch der Vorrede, nickt mir zu: Es scheint Gutes über mich dort zu stehen, ich hatte es mir nie übersetzen lassen. Der Mechaniker interessiert sich sehr dafür. Dann sprechen sie über Rußland: wie alle mit Stolz, weil es »ein so großes Land« ist. Sie meinen es in der Hauptsache räumlich. Der Leutnant hat Literaturkenntnisse, er nennt Puschkin, Gorki, Lermontow. Zu den Publizisten übergehend, erwähne ich Ilja Ehrenburg. Er kennt ihn. »Aber mehr Westen«, sagt er. »Viel Paris gelebt«. Er dankt für den Kaffee und will gehen. Ich frage: »Sie kommen doch zurück!« »Weiß nicht«, sagt er. Schade. Dies war eine sozusagen »zivile«, jedenfalls menschliche halbe Stunde. Meine Frau hat dabei gesessen und es war im Ton und in allem etwas von der Höflichkeit und dem Anstand, mit dem auch ein einfacher Mensch wie der Mechaniker aus Moskau, wenn er nicht nur von primitiven Instinkten lebt, in Gesellschaft sich beträgt.

Abend. Der Leutnant ist nicht wieder gekommen. Niemand ist gekommen, außer den beiden Italienern. Sie hatten Mittags erklärt, in Zukunft bei ihren Kameraden bleiben zu wollen, weil sie jeden Augenblick aufbrechen könnten. Nun ist aber der Aufbruch wieder verschoben worden. Die Italiener haben von irgendeiner Weide Pferde »organisiert«. Erst drei, dann fünf, dazu einen Wagen, eine Zeltplane. Die Pferde weiden in einem Haferfeld.

Da die Italiener wieder gekommen sind, um bei uns zu nächtigen, muß ich eine Zusage widerrufen, die ich am...


Erik Reger, (eigentlich Hermann Dannenberger) war vor und nach der Nazizeit einer der bekanntesten Schriftsteller und Journalisten in Deutschland. 1893 in Bendorf am Rhein geboren, war er von 1919 bis 1927 Pressereferent und Bilanzkritiker bei der Krupp AG. Er kündigte dort Ende 1927, arbeitete als Theater- und Literaturkritiker und veröffentlichte 1931 den Roman »Union der festen Hand«, in dem es um die Verbindungen zwischen einem mächtigen Industriekonzern und die rechten Parteien (bis zur NSDAP) ging. Für diesen Roman, ein Bestseller, erhielt Reger, zusammen mit Ödön von Horvath, 1931 den Kleistpreis. Das Buch (auch nach dem Krieg bis heute immer wieder als Taschenbuch veröffentlicht und in den siebziger Jahren verfilmt) wurde 1933 verbrannt und verboten, Reger emigrierte in die Schweiz, bekam aber keine Aufenthaltserlaubnis und musste 1937 nach Deutschland zurück; er zog nach Berlin und war Lektor in einem Verlag. Von 1943 bis zum Sommer 1945 lebte er mit seiner Frau in dem Dorf Mahlow südlich von Berlin und schrieb dort dieses Tagebuch, das vor kurzem von Andreas Petersen in seinem Nachlass entdeckt wurde.

Im September 1945 wurde Erik Reger Lizenzträger, Herausgeber und Chefredakteur der Tageszeitung DER TAGESSPIEGEL. Er gilt als einer der Pioniere einer freien Presse nach der NS-Zeit. Er starb 1954 in Wien.man.



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