Reese-Schäfer | Niklas Luhmann zur Einführung | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 190 Seiten

Reihe: zur Einführung

Reese-Schäfer Niklas Luhmann zur Einführung


1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-96060-080-0
Verlag: Junius Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

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Reihe: zur Einführung

ISBN: 978-3-96060-080-0
Verlag: Junius Verlag
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Niklas Luhmann (1927-1998) war einer der herausragenden Theoretiker des 20. Jahrhunderts und der Begründer der modernen Systemtheorie. Die hier in sechster Auflage erscheinende Einführung ist weniger für bekennende Luhmann-Anhänger gedacht als für solche Leser, die sich einen kritischen und eigenständigen Überblick über das Werk Niklas Luhmanns verschaffen wollen. Im Mittelpunkt steht dabei das Hauptwerk Die Gesellschaft der Gesellschaft, das den letzten Stein in Luhmanns Systemgebäude bildet und zugleich den besten Leitfaden zum Verständnis der Systemtheorie bietet.

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2. Über die Unverständlichkeit
»Man möchte sich Sprachformen wünschen,
die ein hinreichendes Maß an Vorbehalten mitvermitteln
und ein rasches Verstehen verhindern.« (SO III, 176) Luhmanns Theorie der sozialen Systeme gehört nicht zu den »netten, hilfsbereiten Theorien« (SY, 164). Allgemeinverständlichkeit ist nicht ihr Ziel. Das hängt mit ihrer besonderen Fragestellung zusammen: Sie will sich beeindrucken lassen »durch das Wahrscheinlichwerden des Unwahrscheinlichen« (SY 164). Sie fragt: »Wie ist soziale Ordnung möglich?« und behandelt diese Frage, indem sie soziale Ordnung zunächst einmal ins Fremdartige rückt und als unwahrscheinlich vorführt. Die Parallele zur Ethnomethodologie, die ebenfalls versucht, »Selbstverständlichkeiten des Alltagslebens in Frage zu stellen und durch experimentellen Frontalangriff oder durch elaborierte Sprachlichkeit der wissenschaftlichen Meta-Formulierung als kontingent zu erweisen« (SY, 165), ist deutlich. Der Unterschied zur Ethnomethodologie besteht darin, dass diese eine Art eigene, expressive Gestikulation verwendet, um die Fremdartigkeit hervorzuheben. Luhmann bemängelt, dass expressives Verhalten, wie reflektiert es auch immer sei, eben noch keine Theorie ergibt. Statt zu gestikulieren, bemüht Luhmann sich um die Entwicklung seiner Theoriesprache. Allerdings ist diese darauf angewiesen, ihre Begriffsbildungen der vorgegebenen Sprachlichkeit abzugewinnen, »und bleibt damit sprachlich verführbar, irritierbar, mißverstehbar« (WG, 388). Deshalb hält er jene Jahrhunderte für einen Glücksfall, als es noch Latein als Fachsprache für die Wissenschaft gab, das nicht mehr alltagsprachlich verwendet wurde. Der Versuch der Verfremdung rückt Luhmanns Theorie weg von den Freund- und Helfer-Konzeptionen (»Leitformeln und gute Polizey«; SY, 164). In der klassischen Rhetorik heißt das Ideal Klarheit »perspecuitas«. Luhmanns antiklassische Konzeption zielt dagegen auf die Faszination durch die »obscuritas«, die Dunkelheit. Er entscheidet sich aber auch nicht für jene – ich erlaube mir, da es hier um Fragen der Rhetorik geht, die perspektivische Übertreibung – »bösen« und »zersetzenden« Konzeptionen eines Georges Bataille, Foucault oder Derrida. Seine Frage: »Wie ist soziale Ordnung möglich?« ist nicht die Frage nach »der Eliminierung des Schädlichen oder Nichtanpassungsbereiten« (SY, 165), die man als das gemeinsame Thema der drei genannten französischen Autoren ansehen kann. Nicht Kritik an Prozessen der Eliminierung, sondern die Erklärung, wie das Unwahrscheinliche zur Normalität wird, ist Luhmanns Ziel. Denn jede Festlegung, sei sie nun irrtümlich oder absichtlich entstanden, bösartig repressiv oder wohlmeinend emanzipatorisch begründet, wird »Informations- und Anschlußwert für anderes Handeln gewinnen« (SY, 165). Luhmann wählt sich also einen Beobachterstandpunkt außerhalb dieser Gegensatzfronten, in die ein Theoretiker wie Foucault wohl noch eingereiht werden muss. Unverständlichkeit gehört zu den Standardeinwänden gegen Luhmanns Denken. So war es naheliegend, dass er sich damit in einem Vortrag vor der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung auseinandergesetzt hat. Ironisch geht er von dem Satz aus: »Wer überhaupt spricht oder schreibt, sollte sich verständlich ausdrücken. Das ist eine auf den ersten Blick einleuchtende Forderung.« (SO III, 170) Soziologie allerdings, und das ist seine Replik darauf, war von Anfang an eine Lehre nicht vom ersten, sondern vom zweiten Blick. Es kommt darauf an, die Gründe zu prüfen, aus denen (für jedermann? Für Teilgruppen? Für einige?) unverständlich gesprochen wird. Im Laufe des 17. Jahrhunderts hat Wissenschaft sich als eigenständiges Funktionssystem ausdifferenziert. Je eigenständiger sie wurde, desto mehr hat sie die interne Kommunikation gegenüber der externen begünstigt. Am ausgeprägtesten zeigt sich das bei der Entwicklung einer besonderen Terminologie. Normalerweise bleibt die Diskussion des Themas auf dieser Ebene. Da die Verwendung von Fachausdrücken sowohl einen Tempogewinn als auch einen Genauigkeitsgewinn bedeutet, ist dieser Punkt jedoch nicht besonders interessant. Luhmann interessiert sich mehr für die über das Terminologische hinausgehenden Sprachprobleme, und naheliegenderweise geht er dabei von Problemen aus, die ihm in seiner eigenen Sprachpraxis bewusst geworden sind. Eine kurze Durchsicht dieser Probleme kann also einen Schlüssel zum Verständnis seiner Schreibweise an die Hand geben. 1. Ein wichtiges Problem der Wissenschaftssprache sind die Theorieanschlüsse (SO III, 173). Wissenschaft ist auf neue Resultate aus; durch sie wandeln sich die Inhalte von so zentralen Begriffen wie Macht, Liebe, Politik, öffentliche Meinung usw. Durch die Weiterverwendung solcher eingeführten Begriffe entsteht zugleich der Anschein, es handele sich dabei um immer gleiche Grundfragen. So ergeben sich Missverständnisse, zumal dann, »wenn der Leser oder Hörer der Tradition oder dem Alltagsverständnis verhaftet bleibt oder ständig dahin abrutscht« (SO III, 173). Der Verfasser wissenschaftlicher Texte steht damit immer vor der Frage: neuer Begriff und dadurch Unverständlichkeit oder Beibehaltung des traditionellen Begriffs und dadurch Unverständnis gegenüber dem Wandel des Inhalts? Auf dieses Dilemma komme ich noch zurück. 2. Komplizierte methodenbewusste Forschung oder sehr stark abstrahierende Theoriearbeit wird durch ihre eigenen Operationsregeln weitergetragen. »Man weiß dann noch, was man tut; aber man weiß nicht, worum es sich handelt. Gerade dies aber will der Leser wissen und verstehen. So wird er irregeführt.« (SO III, 173) 3. Zwar wäre es vorteilhaft, seine Theorie, seine Bücher, seine Vorträge mit den allgemeinen Begriffen, Gesichtspunkten, Axiomen usw. zu beginnen, die für das Verständnis des Folgenden die Voraussetzung sind, oder mit dem einfachsten Fall, etwa dem Individuum, anzufangen und bei der Welt zu enden, wie Sartre in seiner Kritik der dialektischen Vernunft. Bei anspruchsvollen Theorien (also bei Luhmanns eigener) funktioniert dies indessen nicht. »Die mir vorschwebende Gesellschaftstheorie könnte ich von der Theorie des Systems, von der Theorie der Evolution, von der Theorie der Kommunikation oder von der Theorie über Sinn und Selbstreferenz aus schreiben. Jeder Einstieg, jeder Anfang ist mit nichtexplizierbaren Voraussetzungen belastet und daher für den, der bloß am Text entlangliest, kaum verständlich zu machen. Der Leser kann dann prüfen, ob die Sätze grammatikalisch stimmen; aber er kann die ihnen zu Grunde liegenden Optionen der Theorie nicht verfolgen.« (SO III, 174) Luhmann träumt deshalb von einer leicht labyrinthischen Theorieanlage in seinen Büchern, was aber wenig hülfe, weil die Leser ja auf verschiedenen Wegen zu ihnen gelangen. 4. Das vierte Problem ist logischer Art: Es gibt Realitäten, »die sich in Theorieform nur als Widersprüche darstellen lassen« (SO III, 174). Widersprüche sind aber in der Theorie bekanntlich gerade nicht zugelassen. Ähnlich verhält es sich mit der »Selbstimplikation« der Theorien: Ist die Systemtheorie nicht möglicherweise ein Obersystem ihrer Systeme? Enthält sie also sich selbst? Kann sie als Theorie und Metatheorie gleichzeitig auftreten? 5. Die Ausdifferenzierung des Wissenschaftssystems seit dem 17. Jahrhundert hat noch einen weiteren Sachverhalt produziert, den Luhmann als die Steigerung des Auflöse- und Rekombinationsvermögens bezeichnet. »Auch hier hat die Sprache Mühe, dem Denken zu folgen. Natürlich gilt nach wie vor: alles, was gedacht werden kann, kann auch gesagt werden. Aber das ist nicht das Problem. Das Problem ist: wie erzeuge ich mit sprachlichen Mitteln hinreichende Simultanpräsenz komplexer Sachverhalte und damit hinreichende Kontrolle über die Anschlußbewegung des Redens und Verstehens.« (SO III, 174f.) All das erzeugt Verständnisprobleme und belegt hinreichend deutlich, dass es nicht ein Übermut einer sich selbst gefallenden Theorie ist, der sie zu besonderen Sprachformen greifen lässt. Luhmann beklagt geradezu die »Inflationierung des soziologischen Jargons« und sein »Überschwappen in andere Disziplinen« (SO III, 175). Interdisziplinärer Austausch setzt ja in der Tat Verständlichkeit voraus. Der Jargon der Soziologie beinhaltet aber die Gefahr, dass »ihre Begriffe und Aussageversuche verstanden und in anderen Disziplinen wie Wissen weiterbehandelt werden« (SO III, 175), während sie in Wirklichkeit »kein gesichert wahres Wissen über unsere Gesellschaft besitzt«. Der Schein der Verständlichkeit führt also geradezu in die Irre, »und man möchte sich Sprachformen wünschen, die ein hinreichendes Maß an Vorbehalten mitvermitteln und ein zu rasches Verstehen verhindern« (SO III, 176). Solche Sprachformen gibt es freilich nicht. Bei der Beobachtung der...


Walter Reese-Schäfer ist Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Georg-August-Universität Göttingen.



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