E-Book, Deutsch, Band 3, 280 Seiten
Reihe: Ein Stableford-Krimi
Reef Ein unmöglicher Mord
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-941408-94-4
Verlag: Dryas Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Stableford-Krimi aus Yorkshire
E-Book, Deutsch, Band 3, 280 Seiten
Reihe: Ein Stableford-Krimi
ISBN: 978-3-941408-94-4
Verlag: Dryas Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Rob Reef wurde 1968 geboren. Er studierte Literaturwissenschaft und Philosophie an der Freien Universität Berlin und arbeitet als Berater und Texter in einer Werbeagentur. Seit seiner Jugend liest und sammelt er alte englische Detektivromane. Seine Leidenschaft für den Golfsport entdeckte er in Devon. Reef lebt mit seiner Frau und seiner Tochter in Berlin. Auf sein Handicap angesprochen, antwortet er: 'Golf.'
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KAPITEL 1: Der Hunne im Garten
John Stableford, Professor für Literatur am Londoner Lazarus College, saß in einem alten Ohrensessel in der Bibliothek des Pfarrhauses von Upper Biggins und las genüsslich in einem prachtvoll illustrierten Folianten aus dem 17. Jahrhundert. Er liebte Drydens Vergil-Übersetzungen, kannte diese Erstausgabe von 1697 aber bisher nur aus Erzählungen. Immer wenn er vorsichtig eine Seite umschlug, stieg ihm der typische Geruch alter Bücher in die Nase, eine Mischung aus feuchtem Heu und Vanille. Prescott, ein Kollege aus seinem Nachbarcollege, hatte ihm einmal erklärt, dass dieser spezielle Geruch entstand, wenn sich die organischen Komponenten des Papiers, der Tinte und des Leims zu zersetzen begannen. Aus der Perspektive eines Chemikers mochte dies eine Erklärung sein, doch für Stableford war es ein magischer Duft, der den Geist beflügelte und auf Reisen schickte.
Als er den zweiten Gesang der Aeneis beendet hatte, legte er das Buch beiseite, griff nach seinem Sherryglas und blickte schläfrig durch die weit geöffneten Terrassentüren. Cicero hatte ganz recht: Mehr als einen Garten und eine Bibliothek brauchte es nicht, um zufrieden zu sein. Nicht zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in Yorkshire vor zwei Tagen bewunderte Stableford die blühenden Apfelbäume im Garten des Vikars. Der Vikar selbst saß nicht weit von ihm an seinem Schreibtisch und arbeitete eifrig an der Predigt für den kommenden Sonntag. Er war ein großer schlanker Mann um die sechzig mit langen Gliedern und einem nicht zu bändigenden weißen Haarschopf. Auf seiner spitzen Nase saß ein goldener Kneifer, den er von Zeit zu Zeit zurechtrückte.
Man kann sich kaum etwas Friedlicheres vorstellen, dachte Stableford, während er seine kurze Bulldog-Pfeife stopfte. Nachdem er sie entzündet hatte, nahm er das Buch vom Beistelltischchen und wollte gerade zu den Abenteuern des Stammvaters der Römer zurückkehren, als Sarah in der offenen Terrassentür erschien.
Sie war die jüngste Schwester von Stablefords Frau Harriet, zwölf Jahre alt und das Nesthäkchen der Familie Taylor. »Papa, Papa!«, rief sie und machte dann eine Pause, um Luft zu holen – und vielleicht auch für einen dramatischen Effekt. »Da ist ein Hunne in unserem Garten!«
»Ein Hunne?« Der Vikar nahm seinen Kneifer ab und blinzelte gegen das warme Licht des Aprilnachmittags. »Er kommt ein wenig spät, nicht wahr? Wann fielen die Hunnen in Europa ein, John?«
Stableford musste schmunzeln. »Im vierten Jahrhundert, Hochwürden?«
»Ganz recht, ganz recht. Was tut er denn in unserem Garten, mein Kind?«
»Er stochert mit einem Golfschläger in Mamas Rosen herum«, antwortete Sarah unbeeindruckt. »Und wenn du mir nicht glaubst, kannst du ja gerne selbst nachschauen! Ich wette, das ist ein Spion!«
Der Vikar seufzte und legte seinen Bleistift beiseite. »Gehe ich recht in der Annahme, dass du einen Deutschen meinst, wenn du von einem ›Hunnen‹ sprichst, Sarah?«
»Ja«, erwiderte das Mädchen und wurde rot. »Oh Gott, John, es tut mir leid! Ich hatte vergessen, dass deine Mutter eine Deutsche war. Wie gedankenlos von mir! Es ist nur so: Alle in meiner Klasse sprechen von den ›Hunnen‹, seitdem uns Miss Withers mit den Daten des Großen Kriegs traktiert, und ich habe einfach nicht nachgedacht.«
»Es ist schon gut«, sagte Stableford, doch der Vikar war wohl anderer Meinung.
»Ich wünschte mir, du würdest weniger von diesen grässlich vulgären Groschenromanen lesen! Kein Wunder, dass du überall Schurken und Spione siehst. Ich muss wohl einmal ein ernstes Wort mit Miss Peabody sprechen.«
»Miss Peabody?«, fragte Stableford amüsiert.
»Ganz recht. Sie ist die Leiterin unserer Dorfbibliothek. Eine wahre Stütze für die Gemeinde, aber zu meinem Leidwesen eben auch eine begeisterte Leserin von Sensationsromanen.« Der Vikar seufzte. »Versteh mich bitte nicht falsch, John! Ich habe deine Detektivgeschichten selbst studiert und fand sie durchaus unterhaltend, aber ich frage mich, ob derlei Literatur wirklich in die Hände unserer Kinder gehört. Nein, lass mich ausreden!«, setzte er schnell hinzu, als Sarah zu protestieren begann. »Ich habe nichts gegen die Abenteuer von Sherlock Holmes oder Buchans Spionageromane. Mir hat sogar die Verfilmung der ›39 Stufen‹ gefallen, die vor ein paar Jahren im großen Zelt auf unserem Sommerfest vorgeführt wurde. Aber Bulldog Drummond und Dr Fu-Manchu gehören meines Erachtens auf eine schwarze Liste. Sie sind zu brutal, ja geradezu sadistisch, und wirken verstörend auf unsere Jugend. Sie sollten verboten werden!«
»Hütet Euch vor dem Zorn eines sanftmütigen Mannes!«, bemerkte Stableford und lächelte.
»Wie meinen? Ah, Dryden, nicht wahr? Ausgezeichnet! Aber lass mich darauf mit einem anderen Zitat dieses Katholiken antworten: ›Sie fürchtet nicht Gefahr, denn sie weiß noch von Sünde nichts.‹ Sarah ist noch ein Kind. Sie hat eine blühende Fantasie und du siehst ja selbst, was dabei herauskommt, wenn sie ihren reinen unschuldigen Geist mit dieser Sensationsliteratur füttert: ein spionierender ›Hunne‹ in unserem Garten! Mit einem Golfschläger, obwohl hier doch weit und breit kein Golfplatz ist. Vielleicht sollte ich dieses Thema einmal in einer Predigt ansprechen.« Damit schien die Angelegenheit für den Vikar erledigt zu sein. Er setzte seinen Kneifer wieder auf und beugte sich über die aufgeschlagenen Bücher auf seinem Schreibtisch.
Stableford sah zu Sarah hinüber, die unschlüssig von einem Bein auf das andere trat. Seine Hamburger Großmutter hätte sie wohl einen »Backfisch« genannt. Sie war kein Kind mehr, aber sie war auch noch weit davon entfernt, ein »Fräulein« zu sein. Wie Harriet hatte sie die kupferroten Locken ihrer Mutter geerbt. Sie trug einen zu großen dunkelblauen Wollpullover, einen zu kurzen dunkelgrünen Rock, Kniestrümpfe, die ihr bis auf die Knöchel gerutscht waren, und schwarze Riemchenschuhe. Natürlich teilte Stableford die Skepsis ihres Vaters, aber er war sich auch sicher, dass ihre Aufregung nicht gespielt war. Sie hatte jemanden im Garten gesehen, so viel stand wohl fest. Vielleicht einen Landstreicher? Aber warum nannte sie ihn einen »Hunnen«? Wäre ein spionierender »Bolschewik« bei der im ganzen Land herrschenden Hysterie um die »Rote Gefahr« nicht ein viel passenderes Klischee gewesen? Aber die Fantasie der Jugend ging offenbar ihre eigenen Wege.
Mit zwölf ist die Welt ein wunderbar geheimnisvoller Ort, dachte Stableford in einem Anflug von Sentimentalität und legte dann etwas wehmütig den Folianten wieder auf den kleinen Beistelltisch neben seinem Sessel. Solange sie blüht, hat die Fantasie ein Recht, gehört zu werden!
»Sarah?«
»Mhm?«
»Wie kommst du darauf, dass es sich bei dem Eindringling ausgerechnet um einen Deutschen handelt?«
»Er fluchte!«, antwortete Sarah und blickte vorsichtig zu ihrem Vater hinüber. »Ich habe natürlich nicht alles verstanden, aber er wirkte sehr aufgebracht und sagte dann so etwas wie ›Himmel-Herrgott-Sakrament!‹ und ›Wo ist dieser verfluchte Ball?‹.«
»Das klingt allerdings deutsch. Aber wie kommt er dazu, in eurem Garten einen Golfball zu suchen?«
»Das weiß ich auch nicht, doch er war wirklich da!«
»Dann sollten wir der Sache mal auf den Grund gehen«, sagte Stableford, während er sich aus dem Sessel erhob. »Zeig mir, wo du ihn gesehen hast!«
Sarah nahm ihn bei der Hand und führte ihn an den Apfelbäumen vorbei zu einem Rosenbeet am hinteren Ende des Pfarrgartens. »Hier hat er gestanden«, sagte sie schließlich. »Ich kam mit meinem Rad um das Haus herum und sah, wie er mit einem Golfschläger in diesen Büschen herumstocherte.«
»Hat er dich bemerkt?«
»Nein, ich denke nicht. Ich hatte mich dort hinter den Fliederbüschen versteckt. Er fluchte und verschwand dann hinter den Sträuchern.« Sie zeigte auf eine hohe Hecke, die das Grundstück begrenzte.
»Befindet sich dort nicht das Anwesen der Rogies, der Park von Annandale Grange?«, fragte Stableford.
Sarah nickte.
»Harriet hat mir letztes Jahr von dem Herrenhaus erzählt, als wir hier unsere Hochzeit gefeiert haben. Wenn ich mich richtig erinnere, ist sie mit der Tochter des Hauses zur Schule gegangen. Wie hieß sie doch gleich?«
»Bella«, sagte eine freundliche Stimme hinter ihnen. »Annabella Rogie.«
Stableford drehte sich um und sah in Harriets Gesicht.
»Hier habt ihr euch also versteckt. Papa erzählte mir, dass ihr auf der Jagd nach einem ›Hunnen‹ seid.«
»Hallo Harry!«, begrüßte Sarah ihre Schwester. »Ja, er glaubt mir nicht, aber John und ich sind dem Eindringling auf den Fersen. Ich bin froh, dass du einen Detektiv geheiratet hast.«
Harriet lächelte. »Ich auch, Sarah. Darf ich mich euren Nachforschungen anschließen?«
»Natürlich.« Schnell berichtete Sarah noch einmal von ihrem Erlebnis, dann machten sich die drei auf die Suche nach Spuren und fanden tatsächlich bald frische Fußabdrücke im Rosenbeet.
»Männerschuhe der Größe 8 oder 9«, stellte Stableford mit gespielter Ernsthaftigkeit fest. »Und wenn man genau hinsieht, erkennt man sogar ein Lochmuster im Sohlenabdruck. Die Sache wird interessant. Wenn mich nicht alles täuscht, trägt unser ›Hunne‹ tatsächlich Golfschuhe mit Stahlspikes.«
»John!«, sagte Harriet.
Stableford richtete sich auf. Der Klang ihrer Stimme verriet ihm untrüglich, dass sie etwas wirklich Beunruhigendes entdeckt hatte. Er trat neben sie. Stumm zeigte sie vor sich auf den Boden. Mitten im Beet lag ein Golfball. Im ersten Moment...