E-Book, Deutsch, Band 4, 260 Seiten
Reihe: Ein Stableford-Krimi
Reef Das Rätsel von Ker Island
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-940258-94-6
Verlag: Dryas Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Stableford-Krimi aus Cornwall
E-Book, Deutsch, Band 4, 260 Seiten
Reihe: Ein Stableford-Krimi
ISBN: 978-3-940258-94-6
Verlag: Dryas Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Rob Reef studierte Literaturwissenschaft und Philosophie und arbeitet als Berater und Texter in einer Werbeagentur. Seine Kriminalromane folgen dem Muster klassischer 'Whodunits'. Reef lebt mit seiner Frau und seinen zwei Töchtern in Berlin.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
KAPITEL 1
Der unheimliche Gast
Stableford musste kurz eingeschlafen sein. Sein Kinn lag auf der Brust, und sein Nacken schmerzte. Er hob den Kopf, öffnete mühsam die Augen und erschrak. Ihm gegenüber saß ein Mann. Seine Haut hatte die graugrüne Blässe einer Wasserleiche, und über seiner linken Braue verlief ein Schatten, der wie eine tiefe Schädelwunde aussah. Das schaurige Wesen schien ihn zu mustern. Sein Antlitz wirkte gespenstisch und doch seltsam vertraut. Lag das vielleicht am Pyjama, den der unheimliche Gast trug? Oder war es die Stirnwunde? Stableford hatte genau an der gleichen Stelle eine Narbe. Aber halt! Seine prangte über der rechten Braue.
Mit Erleichterung konstatierte er das allmähliche Wiedererwachen seines Urteilsvermögens. Er musste grinsen, und die Fratze seines entstellten Doppelgängers grinste zurück. Der Schleier des Übernatürlichen hatte sich gelüftet, und der Fall des nächtlichen Besuchers war abgeschlossen: Stableford befand sich im Schlafzimmer der Trafalgar Suite des Royal Yacht Hotel in Penzance. Er saß vor dem Frisiertisch und betrachtete sein Spiegelbild. Das Licht der kleinen Taschenlaterne, die er unterhalb der Tischkante auf dem Schoß balancierte, hatte die Schatten und den grünlichen Teint auf sein Gesicht gemalt und seinem Antlitz so etwas fraglos Dämonisches verliehen.
Plötzlich musste er daran denken, wie ihm seine Hamburger Großmutter einmal erzählt hatte, dass der Teufel hinter den Spiegeln sitze und nur darauf warte, dass man zu lange sein Ebenbild betrachte. Sie war keine abergläubische Frau gewesen, und er hatte später vermutet, dass sie ihm diese Geschichte nur als eine Art frühes Antidot gegen die Eitelkeit verabreicht hatte. Doch sie hatte dazu geführt, dass er als kleiner Junge Angst vor Spiegeln gehabt hatte, und er musste sich eingestehen, dass ihn bis heute eine gewisse Skepsis gegenüber diesen reflektierenden Objekten begleitete.
Er zog die kurze Bulldog-Pfeife aus der Tasche seiner Pyjamajacke und steckte sie zwischen die Zähne. Sie war leer und schmeckte bitter, aber er hoffte, dass sie ihm dabei helfen würde, sich noch einmal zu konzentrieren. Dann nahm er erneut das Buch auf, das vor der Taschenlaterne auf seinen Knien lag, und begann darin zu blättern. Wieder drohte sein Blick von den kleinen scharf geschnittenen Lettern abzugleiten, um sich in der faserigen Struktur des Papiers zu verlieren, die durch das unangenehm grelle Licht der Lampe stark hervortrat. Doch diesmal zwang er sich, den Zeilen zu folgen, und endlich fand er Owen Glendowers prahlerische Behauptung, Geister beschwören zu können. Er notierte sich »Henry IV, dritter Aufzug, 1. Szene« im Notizbuch, das neben seiner Armbanduhr aufgeschlagen auf dem Tischchen lag, und überlegte einen Moment.
»Ich kann die Geister rufen aus gewalt’ger Tiefe« war ein starkes Zitat. Er schrieb »Essaytitel?« hinter die letzte Quellennotiz, klappte dann beide Bücher zu, griff nach seiner Uhr und hielt sie ins Licht. Es war kurz vor halb sechs.
Er knipste die Lampe aus und streckte sich. Harriet lag unweit von ihm in einem großen Doppelbett und schlief. Während er den tiefen Atemzügen seiner Frau lauschte, ließ er die letzten Tage Revue passieren: Vor nicht einmal zwei Wochen hatten sie in Yorkshire den Geburtstag seines Schwiegervaters, des Vikars von Upper Biggins, gefeiert. Dem vorangegangen waren die rätselhaften Morde auf Annandale, die er mithilfe von Harriet und seines Freundes Holmes aufgeklärt hatte.
Dass ihre Rückkehr nach London nicht viel mehr als eine Stippvisite gewesen war und sie sich nunmehr in einem Hotel in Penzance befanden, lag am Verschwinden eines Mannes, den weder er noch Harriet kannten. Es handelte sich um einen Patienten von Lady Penelope Hatton, die seit etwa einem Jahr mit Holmes liiert war. Penelope war Psychoanalytikerin und hatte Holmes noch während ihres Aufenthalts in Yorkshire telefonisch gebeten, sich mit ihr auf die Suche nach dem Mann zu machen. Holmes wiederum hatte sich sogleich an Stableford gewandt, und obwohl der Harriet kurz zuvor versprochen hatte, das Detektivspielen aufzugeben, hatte sie ihn darin bestärkt, der Bitte seines Freundes nachzukommen. Ihre einzige Bedingung war gewesen, dass sie die drei trotz ihrer Schwangerschaft auf diesem Abenteuer begleiten würde.
Hattie, wie Holmes Penelope nannte, war vom Hilfsangebot der Stablefords mehr als begeistert gewesen. Sie hatte kurzerhand die Hotelzimmer in Penzance gebucht, denn der letzte bekannte Aufenthaltsort ihres Patienten war ein winziges Eiland am Rande des Scilly-Archipels, zu dessen Hauptinsel St Mary’s es nur von dort eine regelmäßige Schiffsverbindung gab. Der Mann, dessen Namen Stableford nicht kannte, hatte auf der Insel seine Schwester besucht, war nach einigen Tagen überstürzt abgereist und seitdem verschwunden. Mehr war ihm nicht bekannt, aber es war abgemacht, dass Penelope ihr Wissen beim gemeinsamen Frühstück mit ihnen teilen würde.
Eigentlich war diese Reise ganz nach Stablefords Geschmack. Der Fall des verschollenen Patienten versprach, wenn auch kein kriminalistisches, so doch zumindest ein intellektuelles Rätsel und hatte zudem schon in London eine erste aufregende und geheimnisvolle Wendung genommen: Stableford hatte bei einem Buchhändler in der Charing Cross Road einen Reiseführer über die Scilly-Inseln erstanden. Am Nachmittag vor ihrer Abreise, als Harriet noch mit letzten Besorgungen beschäftigt gewesen war, hatte er darin zu lesen begonnen. Doch zu seinem Erstaunen wurde das besagte Eiland, das Holmes zufolge »Carr« hieß, in diesem Werk mit keinem einzigen Wort erwähnt. Selbst auf der ausfaltbaren und sehr detailreichen Karte, die im Deckel des Buches eingeklebt war und die er lange mit einer Lupe studiert hatte, war »Carr« nicht zu finden.
Voller Neugier hatte er sich wie einst Dr. Watson im Roman »Der Hund von Baskerville« auf den Weg zu Stanford‘s gemacht. Aber auch auf dem Ordnance-Survey-Kartenblatt, das ihm ein äußerst engagierter Mitarbeiter schnell und zuvorkommend herausgesucht hatte, war »Carr« nicht eingezeichnet. Die beiden Männer waren ins Gespräch gekommen, und die Hilfsbereitschaft des Angestellten hatte sie schließlich in das kartografische Archiv des Hauses geführt, wo sie nach langer Suche eine bemerkenswerte Entdeckung gemacht hatten: Auf einer militärischen Seekarte aus dem 18. Jahrhundert war eine Insel verzeichnet, die auf den Blättern neuerer Herkunft fehlte. Sie war winzig, lag ganz im Norden des Archipels und trug den Namen »Ker«. Der Angestellte, von Stableford nach einer möglichen Erklärung für die Tilgung der Insel auf moderneren Karten befragt, hatte sich ratlos gezeigt. Er hatte auf den folgenschweren Fehler eines Kartografen getippt, sich aber sogleich verbeten, diese Mutmaßung seinen Vorgesetzen gegenüber zu erwähnen, da die haltlose Spekulation über kartografische Fehler bei Stanford‘s als achte Todsünde betrachtet wurde.
Als Stableford das Geschäft kurz darauf wieder verlassen hatte, war er wie bezaubert gewesen. Die Reise zu einer scheinbar vergessenen Insel war fraglos ein verheißungsvoller Beginn für ihr Abenteuer. Und ihr Name versprach zudem einen gewissen Nervenkitzel, denn in der griechischen Mythologie galt Ker, die erste Tochter der Nacht, als die Personifikation des gewaltsamen Todes.
Doch schon auf halbem Wege zu ihrer Wohnung in der Bernard Street 29 hatte Stableford sich eingestehen müssen, dass seine Begeisterung fast wieder erloschen war. Sein üblicher Enthusiasmus im Vorfeld eines neuen Falls schien ihn diesmal im Stich zu lassen. Der Grund dafür war nicht das Essay über die Rolle der Geister und Dämonen in Shakespeares Dramen, das ihm der Dekan seines Colleges spontan im Gegenzug für fünf weitere freie Tage abgepresst hatte. Allein »Hamlet«, »Macbeth« und »Julius Caesar« boten genügend Stoff, sodass ihm die versprochenen zehn Seiten als ein geringer Preis für eine Woche Sonderurlaub mit der Aussicht auf echte Detektivarbeit erschienen.
Der wahre Grund war die bevorstehende Schiffspassage. Der Gedanke daran lastete wie ein Albdruck auf seiner Brust. Sie war zugegebenermaßen nicht lang, aber da er schon bei den kurzen Überquerungen des Kanals an massiven Attacken der Seekrankheit litt, schwante ihm für die Reise zu den Scilly-Inseln nichts Gutes. Er hoffte auf eine ruhige See und ganz im Geheimen wohl auf ein Wunder.
Obwohl er in dieser Nacht bereits um halb drei aufgestanden war, weil er nicht mehr hatte schlafen können, erinnerte er sich an zwei kurze Träume. Im ersten hatte ihnen Penelope am Frühstückstisch vom unverhofften Wiederauftauchen ihres Patienten berichtet und eine sofortige Rückkehr nach London empfohlen, im zweiten war die Überfahrt abgesagt worden, weil die Passagierfähre namens »Scillonian«, die nicht einmal zweihundert Yards von ihrem Hotel entfernt im Hafen lag, aufgrund eines Maschinenschadens nicht hatte auslaufen können. Auf beide Traumsequenzen waren ein hoffnungsvolles Erwachen und die zwangsläufige Enttäuschung gefolgt, dass sich an...