E-Book, Deutsch, 228 Seiten
Reckinger Lampedusa
2. Auflage 2013
ISBN: 978-3-7795-0493-1
Verlag: Peter Hammer Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Begegnungen am Rande Europas
E-Book, Deutsch, 228 Seiten
ISBN: 978-3-7795-0493-1
Verlag: Peter Hammer Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dr. Gilles Reckinger, 1978 in Luxemburg geboren, studierte Kulturanthropologie, Europäische Anthropologie und Soziologie. Er ist Dokumentarfilmer und Lehrbeauftragter an verschiedenen Universitäten und berät den Europäischen Bund für Bildung und Wissenschaft. Er beschäftigt sich mit Themen wie Prekarität, Ausgrenzung, Migration und europäischem Grenzregime. Das vorliegende Buch wurde mit dem Theodor-Körner-Preis ausgezeichnet und stand auf der Shortlist des Opus Primum.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Annäherungen an eine Insel
Die Berichte über Lampedusa sind fragmentarisch und unbefriedigend. In den Tageszeitungen, Fernseh- und Radioberichten werden mal mehr, meist weniger reflektiert die immer gleichen Schlagworte reproduziert: die Hoffnung der Elenden auf den sicheren Hafen oder das erhoffte Paradies Europa im besten Fall, die Angst vor dem kriminell organisierten Ansturm der Arbeitsunwilligen auf Europas Arbeitsmärkte und Sozialsysteme im schlimmeren – nicht im schlimmsten – Fall. Dabei entsteht allerdings kein zusammenhängendes Bild über die Realität vor Ort. Wie ist das eigentlich, wenn ein Boot in Lampedusa ankommt? Haben die Menschen in Lampedusa Angst vor den Fremden? Denn hier scheinen die Bedrohungsszenarien von Flüchtlingswellen doch Realität anzunehmen. Ist es eine rassistische Gesellschaft?
Die Medien, die Politik und die Bürger in der Mitte Europas wissen über Lampedusa und die lampedusani, die Bewohner dieses vergessenen Felsens, gar nichts. Dabei schieben wir in der Mitte die unhaltbare Lage in den Grenzregionen immer wieder als Argument für das Festhalten an und das Verstärken der restriktiven Außengrenzpolitik vor.2 Dass die italienische Regierung ebenso wie die Regierungen der anderen EU-Staaten davon genauso wenig weiß und an einer Änderung dieses Mankos in keiner Weise interessiert ist, stellt sich – für uns in diesem Ausmaß schockierend – im Zuge unserer Arbeit heraus. Unser ethnographisch motiviertes Interesse wird somit auch zu einer politischen Verpflichtung: die Instrumente der Wissenschaft und der Kunst in den Dienst der Aufklärung gesellschaftspolitischer Diskurse und Amnesie zu stellen.
Die kalten Fakten können dabei immer nur die Basis darstellen, auf der die Bemühungen sich gründen, die Menschen einer Gesellschaft, ihre Handlungen und Strategien zu verstehen.
Zur geographischen Lage Lampedusas
Lampedusa ist mit etwa 20 km2 und 5.700 Einwohnern die größte der zu Sizilien gehörenden Pelagischen Inseln, vor dem vier mal kleineren Linosa, auf dem knapp 500 Einwohner leben, und dem unbewohnten Lampione, das nur etwa 200 Meter lang ist. Die Gemeinde „Lampedusa und Linosa“ gehört zur sizilianischen Provinz Agrigento. Die meisten Einwohner Lampedusas wohnen in der einzigen Ortschaft der Insel, die ebenfalls Lampedusa heißt und von den lampedusani schlicht paese, Dorf, genannt wird.
Lampione ist von Lampedusa aus auch bei mäßigem Wetter zu sehen, Linosa nur bei klaren Verhältnissen, denn es liegt 45 Kilometer entfernt. Tunesien (110 km) oder Malta (90km) sind zu weit entfernt, als dass man bis dorthin sehen könnte. Die libysche Küste liegt etwa 300 Kilometer südlich. Nach Sizilien sind es gut 200 km. Damit liegt Lampedusa entgegen weit verbreiteter Vorstellungen deutlich weiter von Afrika entfernt als etwa Gibraltar oder das spanische Tarifa, das mit 14 Kilometern Entfernung zu Marokko Afrika am nächsten kommt.
Geologisch gehören Lampedusa und Lampione zur afrikanischen Kontinentalplatte, im Gegensatz zu Linosa, das vulkanischen Ursprungs ist. Das Meer zwischen der afrikanischen Küste und Lampedusa ist deshalb kaum mehr als 130 Meter tief, es gibt aber zahlreiche Untiefen mit nur 50–80 Metern.
Wie weit Sizilien entfernt liegt, lässt sich an der täglichen Fährverbindung über Linosa nach Sizilien bemessen. Die Überfahrt dauert acht Stunden. Im Sommer verkehrt zusätzlich einmal täglich ein Tragflächenboot, das die Strecke in gut vier Stunden schafft. Bei schwerer See, vor allem im Winter, bleibt die Fähre tagelang, manchmal wochenlang aus.
Lampedusa hat einen kleinen Flughafen, der zwei tägliche Verbindungen nach Palermo und zweimal wöchentlich nach Catania bietet. Im Sommer bringen zahlreiche Charterflieger Touristen aus Norditalien auf die Insel.
Zur Geschichte Lampedusas
Durch seine Lage weitab der Küsten des Festlandes wurde Lampedusa erst spät bevölkert. Über die Jahrhunderte blieb die Insel weitgehend unbewohnt. Einige Schiffbrüchige und Einsiedler hinterließen ein paar disparate Spuren. Als Ort des Transits zwischen den Ufern des Mittelmeeres war die Insel allerdings schon früh bekannt. Davon zeugen historische Reiseberichte ebenso wie einige wenige archäologische Fundstücke, die Raum für zahlreiche Spekulationen und Mythen geben, die man in Lampedusa immer wieder zu hören bekommt. Jahrhunderte lang war die Insel im Privatbesitz der Fürsten Tomasi di Lampedusa, die kein Interesse an einer ökonomischen Entwicklung der Insel hatten und auch nicht nach Lampedusa kamen. Erst im 19. Jahrhundert wurde die Insel an das Königreich beider Sizilien verkauft.
Im Jahr 1843 startete mit der Entsendung von 120 Männern und Frauen unterschiedlicher Berufe und Qualifikationen von Sizilien aus eine generalstabsmäßig organisierte Kolonisierung der Insel. Mit großzügigen Subventionen wurden sie vom Staat ermutigt, auf Lampedusa einen Neubeginn zu wagen und die Armut ihrer Herkunftsorte zu überwinden. Es ging dabei nicht zuletzt darum, eine dauerhafte bourbonische Präsenz an diesem strategischen Punkt mitten im Meer zu gewährleisten.
Während der ersten Jahre genoss Lampedusa Zollfreiheit, so dass der Handel mit den Inseln Malta und Pantelleria erleichtert war.3 Bis in die 1870er Jahre wurde Lampedusa außerdem Steuerfreiheit gewährt. Dennoch stieg der Subventionsbedarf stetig. Bis zum heutigen Tag kam Lampedusa nie ohne staatliche Subventionierung aus (zumindest in dieser Hinsicht ist der – ebenfalls seit dem 19. Jahrhundert belegte – Diskurs, vom Staat allein gelassen zu sein, zum Teil nicht begründet). Wie der gesamte Süden Italiens wird Lampedusa außerdem als so genannte Konvergenzregion von der Europäischen Union subventioniert.
Eine erste wirtschaftliche Lebensgrundlage schufen sich die Siedler, indem sie die ursprünglich bewaldete Insel rodeten und Holzkohle für den Export herstellten. So sollte außerdem das Land urbar gemacht werden. Als der Wald abgeholzt war, versuchte man auf Ackerbau umzustellen. Doch die Böden, nach der Rodung nunmehr schutzlos den peitschenden maritimen Winden ausgesetzt, erodierten schnell. Erst nachdem die natürlichen Ressourcen der Insel nachhaltig verloren waren – heute versucht man mühsam, in einem kleinen Naturschutzgebiet wieder Wald aufzuforsten –, besann man sich Ende der 50er Jahre des 19. Jahrhunderts auf das Naheliegende: den Fischfang.
Dass die Lebensbedingungen in Lampedusa den meisten alles andere als ein gutes Auskommen boten, zeigt eindringlich die Tatsache, dass ab den 1880er Jahren zahlreiche lampedusani nach Nordafrika auswanderten, vorwiegend nach Tunesien, weil sie sich dort ein besseres Leben erhofften. Zugleich erscheint diese „umgekehrte“ Migrationsbewegung sinnbildlich für die besondere Situation dieses letzten europäischen Felsens vor Afrika und für das Elend, das hier herrschte. Ab 1872 wurden zunehmend vom Festland Verbannte aus ganz Italien auf die Insel gebracht: Landstreicher, Kriminelle, mafiosi und politische Gegner, derer man sich auf dem Festland entledigen wollte. Die Anwesenheit dieser Verbannten führte einerseits zu Konflikten, andererseits wurden sie zwangsläufig in die kleine Gesellschaft integriert. Die Stigmatisierung der Verbannten hält an; diejenigen, die von ihnen abstammen, verbergen dies bis heute.
Immer wieder gab es auch Überlegungen seitens der Regierung, und Befürchtungen seitens der Bevölkerung, Lampedusa überhaupt zu einer Gefängnisinsel zu machen. Das Bewusstsein, auf einer Insel zu leben, die durch ihre Abgeschiedenheit und ihre territoriale Begrenzung zum Ort wurde, an den die von der Gesellschaft Ausgeschlossenen verbannt wurden, prägt auch heute die kollektiven Erzählungen, in denen sich die lampedusani auf einen historisch gewachsenen Zusammenhalt gegen den Staat berufen. Umgekehrt beanstandeten die nach Lampedusa gesandten Vertreter staatlicher Institutionen schon seit dem 19. Jahrhundert die Anarchie, die Arbeitsmoral, die Misswirtschaft und die Korruption in Lampedusa.
1878 wurde Lampedusa von der Kolonie in den Gemeindestatus gehoben und damit selbständig. Erst 1911 entrann die Insel durch die Anbindung ans italienische Telegrafennetz ihrer nahezu totalen Isolation. Auch heute noch wird in den Wintermonaten, wenn durch die Wetterbedingungen die Fährverbindung und damit die Lebensmitteltransporte eingestellt werden oder wenn das Unterseekabel durch die Anker der Schiffe beschädigt wird, die bei schlechtem Wetter vor der Küste Lampedusas Schutz suchen, spürbar, was Isolation auf offenem Meer bedeutet: Die hier Lebenden sind letztlich immer wieder in der Situation, gegenseitig aufeinander angewiesen zu sein.
Im Zweiten Weltkrieg wurde die Insel aufgrund ihrer bedeutenden geostrategischen Lage befestigt, es wurden Bunker gebaut, eine Landepiste für Flugzeuge aus planierter Erde angelegt – die Alten erzählen noch heute von der ungeheuren Staubentwicklung, wenn ein Flugzeug landete –, Artillerie und Flugzeugabwehr stationiert. Mehrmals forderte die faschistische Regierung in Rom die Bevölkerung vergeblich auf, die Insel zu verlassen. Lampedusa wurde im Zuge der Operation Corkscrew, mit der die Alliierten von Süden aus Sizilien einnahmen, bombardiert. Die Zivilbevölkerung suchte in den zahlreichen Höhlen Schutz, die sich in den Klippen der Insel befinden. Es gab keine zivilen Opfer, aber die Schäden an den Häusern waren erheblich und wurden zum Teil bis heute nicht repariert. Die Alliierten kreisten die Insel schließlich ein und das stationierte Militär – mehr als 4.000 Mann – ergab sich angesichts des bald auftretenden Süßwassermangels am...