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E-Book, Deutsch, Band 2, 216 Seiten
Reihe: Kunst- und Zeitgeschichte
Rechberger / Kersten Moderne Kunst und faschistische Politik
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-03906-071-9
Verlag: Digiboo
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein doppelseitige Gemälde von Giacomo Balla
E-Book, Deutsch, Band 2, 216 Seiten
Reihe: Kunst- und Zeitgeschichte
ISBN: 978-3-03906-071-9
Verlag: Digiboo
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Marcello Rechberger, M.A., Studium der Kunstgeschichte und Philosophie an der Universität Zürich und der Freien Universität Berlin, Sprachaufenthalt an der Staatlichen Universität St. Petersburg; Forschungsschwerpunkte u.a. Avantgarde und Totalitarismus, Materialität von Farbpigmenten; zur Zeit berufliche Tätigkeit in kunsthistorischen Sammlungen und Vorbereitung der Dissertation.
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Darstellung der Geschwindigkeit
Bei der Umsetzung der literarischen Ideen des Futurismus ergaben sich für die bildenden Künstler bestimmte Schwierigkeiten. Während das erste Manifest der futuristischen Malerei relativ offen gehalten ist, ist das zweite Manifest, das den Titel »La pittura futurista. Manifesto tecnico« (»Die futuristische Malerei. Technisches Manifest«) trägt, konkreter. Hier wird die Zielsetzung formuliert, nicht den statischen Moment einer Bewegung, sondern die Empfindung der Dynamik wiedergeben zu wollen.33 Weiter heisst es: »Alles bewegt sich, alles rast, alles dreht sich. Eine Figur steht nicht mehr fest vor uns, sondern erscheint und verschwindet unentwegt […] die bewegten Gegenstände vervielfachen sich, deformieren sich, reihen sich aneinander […] Deshalb hat ein Pferd im Lauf nicht vier Beine, sondern zwanzig; und ihre Bewegungen sind dreieckig.«34
Die Frage, wie die geforderte Geschwindigkeit, Dynamik und Simultanität dargestellt werden soll, wird mit dem Verfahren des Divisionismus beantwortet. Dieses bestand zunächst darin, Farben auseinanderzunehmen und als Pünktchen oder kleine nebeneinander liegende Striche auf die Leinwand zu setzen, so wie es etwa der Pointillismus vorführt. Im Futurismus wurde dieses Verfahren auf Bewegungsabläufe übertragen, die einer Fragmentierung unterzogen und anschliessend in einzelnen Bewegungsmomenten synchron dargestellt wurden. Ein einschlägiges Beispiel dafür zeigt Ballas »Dinamismo di un cane al guinzaglio« (»Dynamismus eines Hundes an der Leine«) von 1912, wobei insbesondere die Bewegung der Füsse der Dame und der Beine des Hundes zu beachten sind.
Ein massgebliches Vorbild für diese Verfahrensweise bot die seit den 1880er-Jahren etablierte Chronofotografie, wie sie etwa Eadweard Muybridge und Étienne-Jules Marey betrieben haben, sowie der Fotodynamismus der Brüder Anton Giulio und Arturo Bragaglia. Während beim Fotodynamismus Langzeitbelichtungen von sich bewegenden Objekten erstellt werden, so werden bei der Chronofotografie Bewegungsabläufe in mehreren kurz hintereinander gemachten Aufnahmen festgehalten. Die Aufnahmen der Chronofotografie können seriell in mehreren Einzelbildern nebeneinander oder durch Mehrfachbelichtung auf einem Bild erfolgen. Ersteres wird gemeinhin mit Muybridge assoziiert, letzteres mit Marey. Tatsächlich hat auch Marey serielle Einzelbilder produziert, der entscheidende Unterschied liegt aber darin, dass Marey eine Kamera verwandte, die in regelmässigen Zeitabständen Aufnahmen zuliess, während Muybridge mehrere Kameras benutzte, die jeweils eine Aufnahme übernahmen, sobald sich das Objekt vor dem Objektiv der Kamera befand.35 Dieser Unterschied ist insofern von Bedeutung, als mit den exakt bestimmten Zeitabständen zwischen den Aufnahmen einer Kamera auch andere Parameter wie Distanz oder Geschwindigkeit im Bild und durch das Bild bestimmbar werden. Mareys Hauptanliegen war es, mit der Chronofotografie nicht nur Bewegungsabläufe besser als das menschliche Auge zu erfassen und zu verstehen, sondern diese auch effizienter zu gestalten und so am technischen Fortschritt mitwirken zu können.36 Als konkrete Beispiele nennt Marey etwa die Entwicklung von Flugzeugen oder die Berechnung der idealen Kadenz marschierender Soldaten.37
ABB. 8 Giacomo Balla, »Dinamismo di un cane al guinzaglio« (»Dynamismus eines Hundes an der Leine«), 1912, Öl auf Leinwand, 91 x 110 cm, Buffalo, Albright-Knox Art Gallery. ABB. 9 Eadweard Muybridge, »Annie G. with Jockey« (»Annie G. mit Jockey«), 1887,Silbergelatine-Glasnegativ, 24.1 x 37.6 cm, aus der Serie »Animal Locomotion«
(»Tierische Fortbewegung«), Philadelphia Museum of Art. ABB. 10 Étienne-Jules Marey, »Saut à la perche« (»Stabhochsprung«), um 1890, Silberbromid-Glasnegativ, 8.9 x 11.9 cm, Paris, Archives du Collège de France (Detail).
Wie der Historiker Anson Rabinbach dargelegt hat, steht die Erfindung der Chronofotografie im Zeichen zeitgenössischer Bemühungen um die Rationalisierung aller Lebensbereiche.38 Die diesbezüglich wohl unrühmlichste Rolle spielte die Chronofotografie bei der Ausarbeitung der sogenannten Arbeitswissenschaft, die dazu diente, die menschliche Arbeitskraft möglichst effizient zu nutzen, um die Produktivität in den Fabriken zu steigern.39 Solch eine Rationalisierung der Arbeit hat der Philosoph Georg Lukács später analysiert: »Die Zeit verliert damit [mit der Rationalisierung] ihren qualitativen, veränderlichen, flußartigen Charakter: sie erstarrt zu einem genau umgrenzten, quantitativ messbaren […] Kontinuum: zu einem Raum.«40 Gemeint ist damit im Besonderen die Prekarisierung der Industriearbeit, unter anderem durch Spezialisierung komplexer Arbeitsprozesse, die fragmentiert und in diskrete einzelne Arbeitsschritte zerlegt werden.41 Die Arbeiter sind dabei austauschbare Grössen, die repetitive Bewegungen ausführen. Interessanterweise hat Marey bei seinen Beschreibungen der Chronofotografie die Fragmentierung der Bewegung eindrücklich ins Bild gesetzt. In der »Revue générale des sciences pures et appliquées« (»Allgemeine Zeitschrift der reinen und angewandten Wissenschaften«) von 1891 verdeutlicht er sein Verfahren mit einem Bild. Es zeigt vor einem völlig schwarzen Hintergrund zwei horizontal verlaufende, gleichmässig leicht nach oben gebogene, weisse Linien. Das Bild ist entstanden, indem eine Kamera auf einen schwarzen Grund gerichtet und eine weisse Kugel vor diesem und der Kamera vorbeigeworfen wurde. Im ersten Fall wurde während des Wurfs die Blende der Kamera offen gehalten, was zu einer kontinuierlichen weissen Linie geführt hat – eine Langzeitbelichtung. Im zweiten Fall wurde die Blende der Kamera während des Wurfs in regelmässigen Zeitabständen geöffnet und geschlossen, was zu einer gleichmässig gepunkteten Linie geführt hat – eine Mehrfachbelichtung.42 Zwar mögen beide Aufnahmen einen Eindruck der Bewegung wiedergeben, doch präferierte Marey letztere, da sie die Bewegung berechenbar macht.43 Nur schon der Umstand, dass die weissen Punkte gleichmässig voneinander entfernt sind, lässt in Anbetracht der Tatsache, dass die Aufnahmeintervalle regelmässig sind, darauf schliessen, dass sich die Kugel mit gleichbleibender Geschwindigkeit bewegte. Bei Hinzuziehen anderer Parameter, wie etwa der Breite des Raumes oder dem Gewicht der Kugel, könnten dann weitere Berechnungen angestellt werden, etwa zur Geschwindigkeit der Kugel.
Umstritten ist in der Kunstgeschichte, inwiefern futuristische Künstler dieser Rationalisierungstendenz zuzurechnen sind oder sich ihr entgegenstellten. Der Fotografie im Futurismus und der futuristischen Fotografie hat Lista 1979 eine eigenständige Monografie gewidmet.44 2001 legte er eine weitere Monografie zu diesem Thema vor, wobei nun auch dem Film ein gebührender Platz eingeräumt wurde.45 Lista charakterisiert die Haltung der futuristischen Maler gegenüber der Fotografie als widersprüchlich. Demnach kam der Fotografie zwar eine tragende Rolle zu, ein eigener künstlerischer Wert wurde ihr aber lange Zeit abgesprochen.46 Neben einem als »analytisch« bezeichneten Gebrauch der Fotografie in der Malerei, gewissermassen als Hilfsmittel oder Vorlage, hat Lista einen nicht zu unterschätzenden, selbstdarstellenden und selbststilisierenden Gebrauch im Medium der Fotografie festgestellt. Er nennt diese Verwendung der Fotografie im Futurismus »emblematisch«.47 Damit deckt sich Listas Analyse des Umgangs futuristischer Maler mit der Fotografie mit Beobachtungen, die bei vielen Malern der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gemacht werden können.48 Der Problematik der Rationalisierung bei der Chronofotografie ist sich Lista bewusst, er nimmt den Fotodynamismus aber davon aus, da er hier den Objektivitätsanspruch und den mechanischen Determinismus eingeschränkt sieht.49
In einer jüngeren Monografie zum Konzept »Zeit im Futurismus« versucht der Kunsthistoriker David Mather, die Kunst des Futurismus von rationalisierenden und mechanisierenden Tendenzen auszunehmen.50 Dies mag beim Fotodynamismus zutreffen, da hier durch das Verschwimmen und Verschwinden der Gegenstände in den Langzeitbelichtungen die Messbarkeit der Objekte tatsächlich exemplarisch verweigert wird. Bei Balla jedoch müsste die Beziehung im Einzelnen genauer untersucht werden. Es lässt sich wohl kaum eine allgemeine Aussage treffen, da sich in Ballas Manifesten sowohl rationalisierende als auch mystifizierende Elemente finden. Im bereits erwähnten Manifest »Ricostruzione futurista dell’universo« etwa ist sowohl vom Bau mechanischer Kriegsgeräte als auch von geheimnisvollen, unsichtbaren Kräften die Rede.51 Für »Velocità astratta« ist Mathers These aber unzutreffend. Ballas Auseinandersetzung mit der Chronofotografie zeigt sich deutlich in zahlreichen Skizzen, die stark an Mareys Verfahren zur...