Rebhandl Jean-Luc Godard
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-552-07221-3
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der permanente Revolutionär. Biografie
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-552-07221-3
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
„Ich bin eine Legende!“, sagt Jean-Luc Godard – Bert Rebhandls Gesamtdarstellung über den Revolutionär des Kinos. Am 9. Dezember feiert Godard, Regisseur von Außer Atem, seinen 90. Geburtstag.
1960 war er der größte Popstar des Kinos: "Außer Atem" (mit Jean Seberg und Jean-Paul Belmondo) feierte Premiere; im Jahr darauf war seine Hochzeit mit Anna Karina auf den Titelseiten der Illustrierten; seine Filme zogen Hipster aller Art an, als diesen Begriff noch kaum jemand kannte. Dann kam 1968, und für Jean-Luc Godard begann ein Prozess der permanenten Revolution des Kinos, der bis in die Gegenwart für Aufsehen und Debatten sorgt. Er ist ein Intellektueller vom Rang eines Jean-Paul Sartre, indem er die Bilder zum Denken bringt. In diesem Buch wird zum ersten Mal in deutscher Sprache Godards aufregendes Leben mit seinem filmischen Werk zusammen erzählt. Eine einzigartige europäische Figur in einer lange überfälligen Gesamtdarstellung.
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I Moderne Zeiten (1950 bis 1959)
Im Jahr 1950 betritt Godard zweimal das Feld des Kinos. In Jacques Rivettes Kurzfilm Le Quadrille spielt er die Hauptrolle. Das Geld für die Produktion hat er, so behauptet er später, »von einem Onkel« gestohlen. Ein zeitgenössischer Bericht stammt vom englischen Kritiker Tom Milne: »Eines späten Abends im Jahr 1950 war ich in einem Ciné-Club in der Rue Danton in Paris zufällig bei einem jener quälenden Programme von 16 mm-Filmen anwesend, die auch geübte Cineasten vor große Herausforderungen stellen. Einer der Filme hatte allerdings etwas: eine bestimmte hypnotische, obsessive Qualität zeichnete diesen Versuch aus, über vierzig Minuten hinweg zu zeigen, was geschieht, wenn nichts geschieht. Das Verhalten im Wartezimmer eines Zahnarztes, in streng objektiver Weise dargestellt. Ein Spiel aus Schweigen, heimlichen Blicken, nervös durchgeblätterten Zeitschriften, verstohlen angezündeten Zigaretten, wie es eben ist, wenn einander fremde Menschen für eine Weile miteinander zurechtkommen müssen, ohne dass da etwas wäre, wofür man zurechtkommen müsste. Der Film mit dem Titel Quadrille wurde ein kleinerer succès de scandale. Die eine Hälfte des Publikums, die am Ende noch anwesend war, geriet sich darüber leidenschaftlich in die Haare. Erst einige Jahre später dämmerte mir, welche Bedeutung die Namen des Regisseurs und des Hauptdarstellers hatten: Jacques Rivette und Jean-Luc Godard.«1 Im Juni desselben Jahres erscheint in der Gazette du cinéma ein Text über den amerikanischen Regisseur Joseph Mankiewicz, den der debütierende Kritiker Godard für so außergewöhnlich brillant hält, dass er einen nicht unmittelbar naheliegenden Vergleich wählt: »Ich scheue mich nicht, ihm einen ebenso wichtigen Platz zuzuerkennen, wie Alberto Moravia ihn in der europäischen Literatur einnimmt.«2 Schon hier bringt Godard mit größter Selbstverständlichkeit (und mit der Anmaßung des genialischen Alleswissers) zwei Bereiche zusammen, die wenig miteinander zu tun haben: Für das amerikanische Studiosystem der Filmproduktion und für die europäische literarische Öffentlichkeit gibt es eigentlich kaum ein Vergleichsmoment, außer eben die Sensibilität einer Nachkriegsgeneration, die sich an allen Fronten mit neuen Eindrücken konfrontiert sah und die heftige Auseinandersetzung über die Ordnung dieser Eindrücke nicht scheute. Dass es viele Eindrücke waren, gleich nach dem Krieg, geht aus einem anderen Zeugnis aus dieser Zeit hervor: François Truffaut war ein sehr junger Kritiker für die Zeitschrift Travail et Culture. Er traf den damals 18-jährigen Godard zum ersten Mal im Jahr 1948. »Was mir am meisten an ihm auffiel, war die Weise, wie er Bücher verschlang. Wenn wir abends bei Freunden waren, schlug er ohne weiteres bis zu vierzig Bücher auf. Er las immer die erste und die letzte Seite. Er war sehr ungeduldig und nervös. Wie wir alle war er vom Kino begeistert, aber er sah manchmal fünf Filme an einem Tag, weil er immer nur fünfzehn Minuten lang blieb. Nachdem er uns monatelang davon erzählt hatte, er würde demnächst nach Jamaika reisen, brach er eines Tages mit seinem Vater auf. Als er wieder da war, erwarteten wir einen ausführlichen Bericht von der Reise. Nichts. Damals hörte er schon zu reden auf. Er erklärte sich nie.«3 Diese Erinnerung stammt aus dem Jahr 1970. Sie erzählt von einer Begegnung zwischen Halbwüchsigen in einer Epoche des Aufbruchs. Truffaut, ein Sensibler, trifft auf Godard, einen Unruhigen. Filme und Bücher weisen den Weg in eine neue Zeit, aber ist überhaupt genügend Zeit, um alles zu lesen, alles zu sehen? Godard war fünfzehn Jahre alt, als Frankreich befreit wurde. Er ist also in seiner intellektuellen Formation ein Kind der libération. Seiner nationalen Zugehörigkeit nach ist er allerdings Schweizer, Sohn eines Arztes, der am Genfer See ein Krankenhaus für betuchte Patienten betrieb und Odile Monod, die Tochter einer großbürgerlichen Pariser Familie aus dem achten Arrondissement, geheiratet hatte. Die Generationenfolge hat Godard später in ein mythisches Bild übertragen: »Es war wie in einer griechischen Sage, meine Großeltern waren Götter, meine Eltern waren Halbgötter, und ich, das Kind, war nichts weiter als ein Mensch.«4 In dieser Deutung klingt die »Augenblicksapotheose« nach, die der Erzähler in Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit hat, als er die Familie Guermantes im Theater erblickt: »Und wenn ich meine Augen zu ihrer Loge erhob, so meinte ich, sehr viel überzeugender als an der mit kalten Allegorien geschmückten Decke des Zuschauerraums, (…) die Versammlung der Götter zu sehen, wie sie gerade dem Schauspiel der Sterblichen unter einem roten Baldachin, in einer schimmernden Lichtung zwischen zwei Pfeilern, die den Himmel trugen, zuzusehen sich herabließen.« Godards Combray liegt am Genfer See. Im kleinen Ort Anthy, wo sein Vater arbeitet, erlebt er eine paradiesische Kindheit5, zur Pariser Verwandtschaft hingegen hat er ein gespanntes Verhältnis. Unter den Monods gibt es strenge Petainisten, Anhänger des Regimes, das mit Deutschland kollaboriert, während die Eltern in der Schweiz eine pazifistische Position vertreten. Der Vater engagiert sich für das Rote Kreuz, der Sohn stellt sich unterdessen die Schicksale der großen Armeen nach dem Bild von Fußballmannschaften vor und legt dabei eine sportliche Neutralität an den Tag. Rommels Niederlage bei El Alamein empfindet er als Niederlage für sich selbst, den Fan. 1946 kehrte Godard aus der Schweiz nach Paris zurück, wo er die ersten vier Jahre seines Lebens verbracht hatte, bezog ein Zimmer in der Rue d’Assas in der Nähe des Jardin du Luxembourg und begann von hier aus eine neue Landschaft zu erkunden. Die vielen Angebote der Ciné-Clubs und der Cinémathèque française, damals in der Avenue de Messine, wurden für ihn ab 1947 zu einer alternativen Bildungsanstalt. »Ich habe das Kino mit siebzehn entdeckt, durch die Lektüre der Revue du cinéma, die mir eine neue Welt erschlossen hat, einen künstlerischen Kontinent, von dem ich davor nie gehört hatte und den ich dank der Forscher, die ihn beschrieben, nun selbst vermessen konnte.«6 Doch als er im Begriff war, sich in diese neue Welt zu stürzen, gab es einen empfindlichen Rückschlag zu verkraften. Den Bruch mit der Familie Monod provozierte er mit einem, wenn man deren Status als Götter in Betracht zieht, fast schon prometheischen Akt: Er stahl signierte Erstausgaben des Hausheiligen und persönlichen Freundes von Großvater Monod, Paul Valéry, aus einem eigens dafür reservierten »Valerianum« in der Wohnung am Boulevard Raspail, verkaufte diese weiter, wurde ertappt und musste deswegen 1947 für eine Weile in die Schweiz zurück. Die Kindheit, die ihm später im Rückblick »wie in einem Paradies« erscheinen konnte, war zu Ende. In einem Schriftstück, von dem sein Biograf Antoine de Baecque berichtet, polemisiert Godard gegen die Monods und bedient sich dabei eines Zitats von Bismarck: »Ich bin nicht zum Spion geboren, meiner ganzen Natur nach. Aber ich glaube, wir verdienen Ihren Dank, wenn wir uns dazu hergeben, bösartige Reptilien zu verfolgen bis in ihre Höhlen hinein, um zu sehen, was sie darin treiben.«7 Es gibt einen Begriff, der die streitbare Dimension seiner jungen Jahre verdeutlicht (und in ein eigenwilliges historisches Bild bringt): Zusammen mit François Truffaut zählte Godard um 1950 zu den »Jungtürken« einer Filmkritik, die eben mehr sein wollte als nur herkömmliche Auseinandersetzung, ohne deswegen in das andere Extrem eines vor allem politisch-ideologischen Jargons zu verfallen. Die historischen Jungtürken im Osmanischen Reich, auf die sich in den dreißiger Jahren auch radikale Gruppen der französischen Linken ausdrücklich beriefen, deklarierten sich durch ihre Selbstbezeichnung als leidenschaftliche Modernisierer. Auch wenn der Begriff von den jungen Kritikern nur spielerisch gemeint war, verrät er doch eine Menge. Denn die Anspielung auf eine historisch wirkmächtige Reformbewegung des frühen zwanzigsten Jahrhunderts konnte in Frankreich unmittelbar nach der Befreiung nur als mehrfache Provokation gelten, vor allem als Kritik an einer Gesellschaft, die dadurch als veraltet ausgewiesen wurde, obwohl sie sich doch scheinbar in Aufbruchsstimmung befand. Godards wichtigste kritische Vokabel in diesen Jahren, in denen er das Feld betritt, ist denn auch eine der geläufigsten und schillerndsten: »Entschieden modern«, findet er den Film Sait-on jamais von Roger Vadim, wie auch das Medium in seiner Gänze: »Überhaupt, das...