Rebhandl | Ein echter Wiener geht nicht unter | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 160 Seiten

Rebhandl Ein echter Wiener geht nicht unter

Familie Sackbauer und Österreichs Aufbruch in die Moderne
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7076-0871-7
Verlag: Czernin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Familie Sackbauer und Österreichs Aufbruch in die Moderne

E-Book, Deutsch, 160 Seiten

ISBN: 978-3-7076-0871-7
Verlag: Czernin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



'Ein echter Wiener geht nicht unter' begann 1975 mit einem Skandal. So ordinär wie der Prolet Edmund 'Mundl' Sackbauer aus Favoriten hatte im österreichischen Fernsehen davor niemand gesprochen. Die TV-Serie, die heuer ihren 50. Geburtstag feiert, ist freilich längst zum nationalen Kulturgut avanciert, das Filmexperte Bert Rebhandl einer umfassenden Neubetrachtung unterzieht. Er stellt die Menschen vor, die sich den Mundl ausdachten und zum Leben erweckten, und zeichnet zugleich das Porträt eines umfassenden gesellschaftlichen und kulturellen Aufbruchs, der Österreich bis heute prägt. Ein Buch fu?r Fans und Philologen und zugleich das erste Standardwerk u?ber einen Höhepunkt der österreichischen Kulturgeschichte.

Bert Rebhandl, geboren 1964 in Oberösterreich, ist einer der profiliertesten deutschsprachigen Filmkritiker. Er schreibt vor allem für die Frankfurter Allgemeine Zeitung und den Standard. Bücher über Orson Welles, den Western (als Herausgeber) und über die Fernsehserie Seinfeld. Er lebt in Berlin.
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DER VOLKSSCHRIFTSTELLER


In Folge 3, Die Wohnung, sitzt die erweiterte Sackbauer-Familie um das Radio versammelt. Von Franzi, dem Freund von Hanni, wird das Hörspiel Brennpunkte ausgestrahlt. Zum ersten Mal macht er sich damit im literarischen und intellektuellen Betrieb des Landes bemerkbar. Schon in Folge 2, Der Urlaub, hatte Franzi an der »Krotenlacke«2, wo die Familie einen Ferientag verbringt, nachdem es mit Jesolo nichts geworden ist, mit ein paar Sätzen angedeutet, worum es in seinem Text geht: Er spielt »in einem Staat wie dem unseren, jedenfalls in einer Demokratie. Trotzdem sind hinter den Kulissen Kräfte am Werk, die sind antidemokratisch, weil sie die Bürger bespitzeln und überwachen.« Ein junger Mann, der Protagonist des Hörspiels, versucht, »aus diesem geheimen Terror auszubrechen«, indem er die Organisation infiltriert.

Es liegt nahe, diese Skizze auf den Roman zu beziehen, mit dem Ernst Hinterberger zehn Jahre davor sein Debüt im österreichischen Literaturbetrieb gegeben hatte. Beweisaufnahme erschien 1965 im renommierten Zsolnay Verlag. Hinterberger begriff sich später ausdrücklich als Volksschriftsteller und war nie Teil des literarischen Betriebs im engeren Sinn. Sein erster Roman weist allerdings noch viele Charakteristika auf, die man der sogenannten anspruchsvollen Literatur zuschreiben würde. Hinterberger erzählt von einem nicht mehr ganz jungen Mann namens Wehofer, der unerwartet eine »graue Karte« per Post erhält: eine Vorladung zu einer »Beweisaufnahme«. Er muss sich einen Tag frei nehmen und findet sich bei einem Amt ein, in dem ihn zwei Männer erwarten: Horak und Kirchpichler, klassische Verwaltungschargen, die bald deutlich machen, dass sie überraschend viel über Wehofer wissen. Sie schalten ein Tonband ein und lassen ihn erzählen. Es handelt sich nicht ausdrücklich um ein Verhör, die Beamten erwarten aber fortwährend so etwas wie Geständnisse. Wehofer verspürt wohl die Reflexe, die zu erwarten sind, wenn sich jemand mit einer Überwachungssituation konfrontiert sieht. Aber das Misstrauen ist nicht groß genug, um ihn zu einem Ausweichmanöver zu inspirieren. Er beginnt zu reden, und was er sich in der Folge und den ganzen Roman hindurch von der Seele redet, betrifft eine beispielhafte österreichische Kriegs- und Nachkriegsbiografie. Die latent kafkaeske Stimmung ergibt sich daraus, dass die beiden Beamten (»Kreaturen einer unfaßbaren, immer im Hintergrund bleibenden Organisation oder Persönlichkeit«) von vornherein wissen, was die wichtigsten Momente in Wehofers Leben waren. Sie wollen nun seine Darstellung hören und verstricken ihn dadurch zumindest in Ansätzen in eine Reflexion auf sein Verhalten.

Der Moment, in dem er zum ersten Mal aus der Anonymität hervortritt, ist während der Pogrome gegen Wiener Juden gleich nach dem »Anschluss«. Von da an durch die Kriegsjahre und die Zeit der Besetzung durch die »Russen« erweist sich der heranwachsende Wehofer als einer, der sich manches richtet, viele Gelegenheiten wahrnimmt, weitgehend aber immer nur auf wechselnde Umstände reagiert. Ein Eindruck von Persönlichkeit stellt sich nicht ein.

Beweisaufnahme hat Aspekte einer Beamtensatire. Horak und Kirchpichler sind »Typen«, und auch Wehofer (dessen Name auf den wienerischen Ausdruck »ein Weh« anspielt, ein erbärmlicher oder jämmerlicher Mensch) ist einer. Hinterberger hat Details seiner frühen Arbeitsbiografie eingearbeitet und konnte auf eigene Erfahrungen zurückgreifen. Als Jahrgang 1931 gehörte er selbst der Generation Wehofer an. Einer Generation, die gerade noch zu jung war, um sich Fragen über ihr verantwortliches Handeln im Nationalsozialismus stellen zu müssen. Das Ende der Kindheit fiel für Hinterberger mit dem Ende des Nationalsozialismus zusammen. Hinterberger wollte aber auf einen weiter gefassten Begriff von Schuld hinaus, wie er mit einem Zitat von Jean-Paul Sartre deutlich machte, das er als Motto voranstellte: »Es ist die Funktion des Schriftstellers, so zu wirken, daß keiner die Welt ignorieren und keiner sich in ihr unschuldig nennen kann.«

Eine der wichtigsten autobiografischen Parallelen betrifft eine Kinderlandverschickung nach Ungarn. Von diesen Monaten in der Nähe von Szeged handelt eines der Kapitel des Romans. Wehofer entdeckt dort seine Sexualität, wenn er mit anderen Jungen dabei zusieht, wie sich die Pflegeeltern »im Roßstall« paaren. Bald nach Kriegsende wird er in Wien mit einer älteren Frau (»scharf war die auf ein Hosentürl wie Gift«) seine ersten eigenen Erlebnisse haben. Der Übergang von der NS-Herrschaft in die Besatzungszeit wird vor allem mit den Plünderungen in Zusammenhang gebracht, also mit einer anarchischen Form von Selbstbehauptung. In diesem Zusammenhang fällt auch zum ersten Mal die Formulierung, die später in den Namen der Fernsehserie eingehen sollte: »Der echte Wiener ist auf alles gefasst.« Hinterberger ging es also schon damals darum, Wien durch einen repräsentativen Typus zu erfassen. Der echte Wiener ist demnach ein Mensch, der eher reagiert als agiert, und dem die Erfahrung sagt, dass es nichts Beständiges gibt. Wehofer erlebt die Regellosigkeit der Zeit der »Russen« (der sowjetischen Besatzer) als sexuell befreiend (er findet »in der Lobau ein freies Leben«3, auch hier wieder vorwiegend mit älteren Frauen). Die Gegenwart der jungen Zweiten Republik vermag ihn nicht aus seiner Uneigentlichkeit, die als eine Reaktion auf die Unbeständigkeit der historischen Erfahrungen in seinem jungen Leben gelesen werden kann, zu erlösen. Horak, ein »Erhebungsbeamter mit Pensionsberechtigung«, versucht ihn mit geläufigen Angeboten zu locken: Ein Parteieintritt würde Wehofer ein wenig Status verleihen und ihm einen Platz in der Gesellschaft zuweisen. Doch Hinterberger lässt den Roman drastisch enden: »Robert Wehofer, fünfunddreißig, mittelgroß, dicklich, zur Kahlköpfigkeit neigend, konnte nicht mehr viel gespürt haben.« Wehofer wirft sich vor eine Straßenbahn. Der Selbstmord wird von der Bürokratie als Unfall verbucht.

Noch im selben Jahr 1965 brachte Zsolnay den Roman noch einmal in einer Jubiläumsausgabe heraus, nun aber unter einem etwas befremdlichen neuen Titel: Ein gemütlicher Wiener. Damit verschiebt sich der Akzent. Wehofer wird zu einem Klischee-Typus, zu einem Vertreter einer Eigenschaft, mit der Wien auch für sich wirbt. Gemütlichkeit findet man beim Heurigen, wo man beim Wein und mit Musik die Widersprüche des Lebens vergessen kann. In Der Herr Karl von Carl Merz und Helmut Qualtinger, erschienen 1961, heißt es über den »Anschluss« an NS-Deutschland im Jahr 1938: »Endlich amal hat der Wiener a Freid g’habt … a Hetz (…).« Die Stimmung auf dem Heldenplatz wird so beschrieben: »Es war wia a riesiger Heiriger …! Aber feierlich. Ein Taumel.« Die Aneinanderreihung sehr unterschiedlicher Begriffe lässt erkennen, dass der Herr Karl sehr wohl Schwierigkeiten hat, das Erlebte zu verarbeiten – zumal er ja mit dem Wissen spricht, was danach kam. Das Stichwort Gemütlichkeit fällt in Der Herr Karl nicht, aber die Figur, zumal in der Interpretation durch Helmut Qualtinger, ist als eine ambivalente Verkörperung dieser vorgeblichen Wiener Grundeigenschaft zu sehen. Karl verzichtet auf die Medien der Auseinandersetzung: »I brauch des alles net … von mir aus brauchert’s ka Theater geben, ka Kino … a bisserl a Musi, des is alles, was i brauch.« Der Herr Karl wurde wenige Jahre vor Hinterbergers erstem Roman zum Grundtypus eines echten Wieners4, weil er von der Geschichte (»den Lebenskampf, wia mia ihn ham führn müssen«) nicht wirklich tangiert wird. Wehofer steht in einer entsprechenden Tradition der Immunisierung gegen das Zuviel, das er erlebt hat. Er ist eine Figur der Distanz, auch zu sich selbst. Das Verhör führt ihn zu sich selbst, allerdings kann er sich selbst nur gerecht werden, indem er sich umbringt.

Das überraschende, forciert negative Ende des Romans Beweisaufnahme lässt sich auf das Motto von Sartre zu Beginn zurückführen. Im juristischen Sinn ist Wehofer freizusprechen, es war ja nicht einmal ein richtiges Verfahren, das gegen ihn geführt wurde. Im existenziellen Sinn aber hat er keine Rechtfertigung. Er hat Dinge erlebt, auf die er nur mit einer Authentizität antworten könnte, die er gerade nicht aufbringt – es ist das Übermaß an Geschichte, für das Wehofers reduzierte Persönlichkeit ein Symptom ist. Noch sein Selbstmord hat Züge einer »schwachen« Tat – er legt nicht »Hand an sich«, wie es Jean Améry 1976 in seinem Essay über den Freitod zu einem dezidierten Akt der Freiheit erklärte. Wehofer lässt sich überfahren.

Hinterberger bekam für den Roman Lob von unerwarteter Seite. Der Kollege Johannes Mario Simmel, der Mitte der sechziger Jahre bereits als Bestsellerautor etabliert war, schrieb ihm einen langen Brief, in dem er seiner Begeisterung Ausdruck verlieh. »Sie sagen die Wahrheit. Bitte, sagen Sie sie weiter. Dann werden Sie ein großer, ein ganz großer Schriftsteller, davon bin ich überzeugt. Denn begabt genug sind Sie. Ein guter Schriftsteller muss die Wahrheit aufschreiben. Dann ist er ein großer Schriftsteller. Und das müssen Sie werden, denn jetzt kehrt sich der Spieß um. Beweisaufnahme, das ist eine lebenslange Verpflichtung für Sie von nun an. Das liest sich vielleicht komisch, aber Sie werden bald merken, dass es gar nicht komisch ist. Sie sind nicht mehr im Stand der Unschuld. Sie haben Roulette gespielt und gewonnen. Man gewinnt nicht immer.«5

Simmels erster Roman Mich wundert,...



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