E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Rea Nostalgia
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-8438-0716-6
Verlag: marix Verlag ein Imprint von Verlagshaus Römerweg
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman | Über den Schmerz der Rückkehr, die Dämonen der Vergangenheit und die schicksalhafte Freundschaft zweier Jungen aus Neapel
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-8438-0716-6
Verlag: marix Verlag ein Imprint von Verlagshaus Römerweg
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Nach fünfundvierzig Jahren kehrt Felice Lasco nach Neapel zurück, in das Viertel Sanità, wo er geboren wurde. Seine Mutter liegt im Sterben, und er kümmert sich verspätet, doch mit Hingabe bis zuletzt um sie. Nach ihrem Tod gehorcht Felice seiner inneren Stimme und bleibt, trotz seiner Frau, die in Kairo auf ihn wartet. Er selbst wartet auf die Begegnung mit Oreste, seinem Jugendfreund, der als hartgesottener Krimineller gilt.
Felice erzählt einem pensionierten Kardiologen und Don Luigi Rega, dem kämpferischen Priester der Sanità, seine Geschichte:
Felice ist siebzehn Jahre alt, stolz auf sein Motorrad und auf seine Freundschaft mit Oreste Spasiano. Er wird zu dessen Kompagnon bei immer waghalsigeren Überfällen. Dann endet ein Einbruch fatal. Felice erstarrt in qualvollem Schweigen, bis ihn der Bruder seiner Mutter nach Beirut mitnimmt. Die Flucht in ein neues Leben. Geplagt von Nostalgie und den Schatten der Vergangenheit.
Jetzt, nach dieser langen Zeit, setzt sich Felice der schmerzhaften Schönheit seiner Stadt aus. Er begleitet Don Rega durch das heimatliche Viertel.
Bis er wirklich auf Oreste trifft. Es gibt kein Lösegeld, um sich aus der eigenen Geschichte freizukaufen.
Ein meisterhaftes Werk, in dem Ermanno Rea Realität und soziale Tragödie eindrücklich miteinander verschränkt. Eine Liebeserklärung an das Neapel der Sanità, an seine Helden, an seine Opfer.
Ermanno Rea (geboren 1927 in Neapel, gestorben 2016 in Rom) war Journalist, Schriftsteller und Fotograf. Er arbeitete für eine Vielzahl von Zeitungen, bevor er sich ausschließlich dem literarischen Schreiben widmete. 1996 wurde er für seinen Roman Mistero Napoletano mit dem Premio Viareggio ausgezeichnet, 1999 erhielt er den Premio Campiello und 2011 den Premio Brancati-Zafferana. Ermanno Rea zählt zu den großen italienischen Erzählern unserer Zeit.
Klaudia Ruschkowski 1959 in Dortmund geboren, ist Autorin und Dramaturgin, Herausgeberin und Kuratorin und arbeitet als literarische Übersetzerin aus dem Englischen und Italienischen. Sie wirkte an verschiedenen deutschen Theatern, leitete im Duo ein europäisches Kulturzentrum, entwickelte internationale Werkstätten zu Stücken von Heiner Müller. Sie konzipiert künstlerisch-literarische Projekte und Hörspiele. Einer ihrer Schwerpunkte ist das Werk von Etel Adnan, das sie übersetzt und herausgibt. Magnete ihres Schaffens sind Margaret Fuller und Elsa Morante. Sie lebt zwischen Volterra und Berlin. Rot, sagte er ist ihr erster Roman. Und auch das erste Buch einer Trilogie, die in und um Volterra spielt.
Weitere Infos & Material
1.
Oreste Spasiano, der seit seiner Kindheit auf den Spitznamen Malommo hört, Kanaille (fast eine Verdammung, vielleicht auch ein Omen), sitzt in seinem Plüschschlafanzug vor einem heißen Milchkaffee und einer vor ihm auf dem Tisch wie ein Bettlaken aufgeschlagenen Zeitung. Er ist konzentriert, aber nicht angespannt. In Anbetracht der Umstände wirkt er eher zu selbstbewusst. Du schickst nicht ohne höhere Gewalt den Freund, ja Zwillingsbruder deiner Kindheit und Jugend ins Jenseits: Das wiederholt er sich unablässig, auch laut, in dem nachlässigen Italienisch, zu dem er greift, wenn er seine Entscheidungen in feierlichen Ernst kleiden will. Er meint, einem Befehl von oben gehorcht zu haben, erteilt von einer unbestimmten übernatürlichen Kraft. Manchmal sagt dir das Leben: Schieß! Und du kannst nichts anderes tun, als zu schießen. Seit jeher verhilft ihm der morgendliche Milchkaffee zu einem inneren Gleichgewicht, zum Zusammenleben mit dem eigenen hitzigen Temperament, vielleicht weil das Getränk den unschlagbaren Geruch der Absolution und der Unschuld besitzt. Oreste Spasiano nennt die Dinge nie bei ihrem wahren Namen: Die Nachsicht mit sich selbst macht ihn zum Freund von Umschreibungen und Metaphern. Vor zwei Nächten hat er den Abzug gedrückt, in einem sorgsam gelegten Hinterhalt. Jetzt liest er ein ums andere Mal die Chronik des Verbrechens. Er will das Radio anschalten, überlegt es sich dann aber. Er schaut sich um und sagt mit der kalten Stimme von einem, dem etwas durch den Sinn rauscht: Arsch! Du bist voll der Arsch. Arsch, Arsch, Arsch … Plötzlich klingt ihm die Stimme deutlich im Kopf. Sie gehört dem Mann, der nach einem Bauchschuss am Boden liegt, und er geht mit großen Schritten auf ihn zu, die Pistole in der Hand. Wie oft haben sie sich als Jungs gegenseitig mit diesen Worten der Wut-Ironie-Liebe-Verachtung-Anklage bedacht. Immer ohne Konsequenzen. Arsch! Kotz dich zu Tode. Schön, seine komfortable Küche. Schön, seine großzügige Wohnung im letzten Stock eines alten heruntergekommenen Gebäudes im Rione. Die Straße unten trägt anmaßend den Titel »Vico« und windet sich zwischen zwei engen Klippen, von denen ein bunter Auswurf an Lappen quillt, die für alle Ewigkeit zwischen den Mauern zum Trocknen hängen. Wie Triumphbögen. Sie sollten die Luft zum Duften bringen, dabei erfüllen sie sie mit einem seltsam fauligen Gestank. Seine morgendliche Freude pflegt Spasiano, die Kanaille, vom Moment des Erwachens an mit banger Wollust. Er öffnet die Augen, und sofort versetzt der Gedanke an den unvergleichlichen Geschmack seine Sinne in Aufruhr. Kurz darauf, am gedeckten Tisch (Milch, Butter, Toast, Zucker, Kaffee, verschiedene Gläser mit Marmelade und Honig), zelebriert er das Ritual des ersten Schlucks, stets mit geschlossenen Augen und beinahe religiöser Konzentration. Alles beginnt in der Nasenhöhle, dort sammelt sich der Duft des heißen Milchkaffees, wie angesogen von einer unsichtbaren Pumpe. Von der Nasenhöhle zieht er in den Riechkolben. Der Weg ist kurz, blitzartig, erklärt er seinen ergebensten Kumpanen, die ihn ungläubig anschauen. Noch kürzer ist die Strecke vom Riechkolben zum Gehirn, über das Siebbein. Ende Gelände. Fazit: Ohne Gehirn kriegst du im Leben nichts auf die Reihe. Du schmeckst nicht mal einen Milchkaffee. Kapiert? Steht alles im Medizinlexikon. Ich kenn mich aus, Scheiße nochmal. Sein Ruf als harter Typ, zu dem man nie nein sagen sollte, ist allerdings nicht unumstritten. Nicht nur jetzt, in dieser an Schicksalsschlägen reichen Phase, wodurch die Camorra in der Sanità in tausend Grüppchen zersplittert ist, von denen keins mehr echte Autorität besitzt. Schon vorher, als bestimmte Bosse das Sagen hatten, denen es nicht nur gelungen war, Angst zu verbreiten, sondern die dank Hoheitsrechten, Protektionen und Begünstigungen auf einen gewissen Konsens zählen konnten. Es hatte also welche gegeben, die es geschafft hatten, sich im Laufe der Zeit weit über ihm zu platzieren, manchmal sogar mit Unterstützung von Spasiano selbst, der prinzipiell darauf achtet, sich Feinde seiner Kragenweite auszusuchen, um keine Kämpfe auszufechten, die über seine Kräfte gehen. Vom Drogengeschäft ausgeschlossen, kontrolliert er die Maschinerie von Schutzgeld, Wucher, Prostitution, Hehlerei (Schmuck und Edelmetall) und die eine oder andere kleine, aber durchaus einträgliche Aktivität. Malommo lebt allein. Er hat verschiedene Geliebte, die er abwechselnd zu sich zitiert. Die Hausarbeit liegt in den Händen von zwei Filipinos, ein Ehepaar, absolut vertrauenswürdig. Sie wohnen im selben Gebäude, besitzen einen Schlüssel zu seiner Wohnung und kommen jeden Morgen Punkt sieben. PERFEKTES VERBRECHEN IN DER SANITÀ?, so der Titel des Zeitungsartikels. Der kleine abgesetzte Vorspann fasst die Geschichte folgendermaßen zusammen: »Unbekannt die Identität des Opfers wie die des Täters. Der Ermordete ohne Papiere stammte möglicherweise aus Nordafrika.« Spasiano hat den Bericht bereits dreimal gelesen, aber es reicht ihm nicht: Er findet, dass es in diesem Meer aus Wörtern noch zu fischen gilt. Der Reporter beschreibt den gekrümmten Körper eines Mannes neben zwei Müllcontainern. Die Polizei hat kein einziges Dokument bei der Leiche gefunden. In der Straße gibt es niemanden, der ihn gekannt hat. Alles deutet auf eine eiskalte Hinrichtung, ausgeführt mit zwei Pistolenschüssen: einer aus der Ferne, der andere aus nächster Nähe. Zwei Löcher: eins im Bauch, eins mitten auf der Stirn. Spasiano greift nach der Tasse, aus der er gedankenverloren einen großen Schluck nimmt, der ihm wie eine glühende Klinge über die Zunge in die Kehle dringt. Er fährt zusammen, drauf und dran, die Welt zu verfluchen. Doch noch ehe ihm der Fluch von den Lippen kommt, hat sich der Groll schon in neuen Genuss verwandelt. Der Duft des Milchkaffees breitet sich nun überall aus, so als würde sein eigener Atem ihn verströmen, sein Körper, seine Vergangenheit, seine Verbundenheit mit einem nie durchbrochenen Ritual. Er steht auf und öffnet das Fenster. Die Küche füllt sich schlagartig mit dem Lärm und den Stimmen der Straße. Herrgott, wie viel wird in Neapel gequatscht! Und vor allem in diesem Viertel. Als wenn gleichzeitig mit den Lebenden auch die Toten redeten, dieses unüberschaubare Heer, das vom Sensenmann innerhalb von zwanzig Jahrhunderten (oder mehr?) dahingemäht wurde. Ein solches Gebrüll, das Angstschreie auslöst: Ruhig jetzt mal, verflucht! Haltet eure Mäuler, macht diese verfluchten Motorräder aus, die wie Apachenpfeile durch die Gassen zischen: Was rast ihr so? Wo jagt ihr hin, als wäre der Teufel hinter euch her? Er lacht. Sie fürchten alle, von diesem Peppino erwischt zu werden, der sich von einem seiner Jungs auf dem Motorrad herumfahren lässt, mit der Pistole fuchtelt und schreit: Hier habe ich das Sagen! Aber Orestes Protest ist nicht ganz aufrichtig. Sicher, manchmal ärgert ihn der Lärm. Aber meistens hat er seine Freude daran. Alles in allem hält er diese Sinfonie voller Geschrei und Geschepper, die aus den Eingeweiden seiner Sanità aufsteigt, für die Manifestation einer gewaltigen Vitalität. Auch das Öffnen des Küchenfensters ist für ihn ein Ritual, eine Gewohnheit, vielleicht sogar ein neurotischer Moment. Jeden Morgen muss er sofort in Kontakt mit der Straße treten, er braucht den verdammten Lärm ebenso wie seinen Milchkaffee, um sich am richtigen Punkt gestärkt zu fühlen: gerade so, wie es die Führung einer Firma wie der seinen verlangt (Firma, so nennt er das). Malommo, die Kanaille, ist ein planvoller, penibler Arbeiter, der zur Bürokratie neigt und, wenn nötig, imstande ist, seine rabiate Natur zugunsten von Strategie und List zu beherrschen. Auch in der Rache kennt er die Kunst der Geduld. Nicht, dass er vergisst. Im Gegenteil. Aber er weiß seinen Durst nach Rache zu kontrollieren. Er zieht sich ins Schlafzimmer zurück, lässt sich in einen weißen Ledersessel fallen und liest zum vierten Mal den Bericht in der Zeitung, die ihm der Mann vom Kiosk wie jeden Morgen vor die Tür gelegt hat. »Nach vierundzwanzigstündigen Ermittlungen ist die Identität des Ermordeten, der gestern früh neben den Müllcontainern an der Salita dei Cinesi gefunden wurde, weiterhin ungeklärt. Niemand will ihn gekannt oder je gesehen haben, was die Ermittler nicht ganz zu glauben scheinen. Die Anwohner haben allerdings auch uns gegenüber, die wir den Ort ausgiebig inspizieren konnten, dieselbe Aussage gemacht. Mit dem Unterschied, dass ihre Angaben beim Berichterstatter einen aufrichtigen und zuverlässigen Eindruck hinterließen. Das Mysterium wird uns noch länger in Atem halten. Wir kommen zu diesem Schluss, da es sich bei dem Opfer anscheinend um einen Fremden handelt, wahrscheinlich aus Nordafrika (zumindest dem Etikett von Hemd und Jacke nach), was seine Identifizierung weder vereinfachen noch beschleunigen wird. Die Leiche des etwa...