Raymond Roter Nebel
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-927734-91-3
Verlag: PULP MASTER
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 1, 300 Seiten
Reihe: Pulp Master
ISBN: 978-3-927734-91-3
Verlag: PULP MASTER
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Derek Raymond wurde als Robert William Arthur Cook 1931 in London geboren. Er erlebte vier Jahre Spanien unter Franco, war für den Londoner Standard als Berichterstatter im Algerien-Krieg, arbeitete mehrere Jahre als Weinbauer in Italien und ließ sich für fast zwei Dekaden in Frankreich nieder, wo auch die meisten seiner Bücher entstanden. Er ist Autor der international bekannten Factory-Serie, zu der die Romane 'He Died With His Eyes Open', 'The Devil's Home On Leave', 'How The Dead Live', 'I Was Dora Suarez' und 'Dead Man Upright' gehören. Derek Raymond starb im Juli 1994 in London, kurz nachdem er das hier vorliegende Buch vollendet hatte.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
For he shall dance
And he shall sing,
And he shall turn his face to the wall.
Alte Ballade
1
Schwarze Schlieren liefen an der Stuckfassade des Palmyra hinunter, daran war jedoch nichts ungewöhnlich, denn hier in der übelsten Ecke von Earls Court war gewissermaßen alles schwarz. Wie alle anderen Häuser längs der Straße muss auch das Palmyra irgendwann einmal ein bürgerliches Wohnhaus gewesen sein, nur konnte sich niemand mehr daran erinnern; es war allgemein nur als Hotel Palmy bekannt, denn die letzten beiden Buchstaben hatten resigniert und sich aus dem Staub gemacht. Unkraut wucherte aus den Rissen im Dach und aus dem viktorianischen Eingangstor, und das Haus war das, wonach es aussah: eine fünftklassige Absteige mit ständig wechselnden Gästen, denen oft Gerichtsvollzieher, schmierige Zivilbullen und Schuldeneintreiber einen Besuch abstatteten. Genau die Sorte Haus, wo die wöchentliche Miete immer dann fällig wurde, wenn es regnete, wenn die Verzweiflung wie dicker Rauch durch alle Ritzen ins Zimmer drang und das Geld ausging.
Die meisten Gäste waren junge, durchtrainierte Männer aus Gegenden mit wärmeren Klimazonen, Tausende von Meilen weit entfernt, die jedoch bald erfahren sollten, dass selbst die größte Vorliebe für Sport im Freien der nasskalten Brühe in London nicht gewachsen war. Sie fanden das schnell heraus, wenn sie morgens um zwei am überfluteten Eingang von Earls Court Station standen, keine Züge mehr fuhren und ihnen nur noch das Palmyra blieb, dessen Lichter durch den Nebel drangen.
Die meisten blieben kurz davor stehen, änderten ihre Meinung und gingen weiter, aber manche waren jung genug, um zu erkennen, dass hier die Hölle los war: kurios, billig, eben die Art von Atmosphäre, derentwegen sie hergekommen waren, also überquerten sie die Straße und drückten auf die Nachtklingel. Nach dem Eintreten wischten sie sich den Regen aus dem Gesicht, sahen den Nachtportier den Korken auf die Flasche stecken und nach dem Gästebuch greifen, und nur die ein oder zwei mit genügend Phantasie spürten dann Zweifel in sich aufsteigen und fragten sich, ob es sich überhaupt lohne, hierzubleiben, auch wenn es wirklich billig war. Das Palmyra wurde in keinem Stadtführer erwähnt, seine Existenz vom Fremdenverkehrsbüro verschwiegen, und selbst kundige Taxifahrer kratzten sich am Kopf, wenn man ihnen den Namen nannte. Aber es war trotzdem da und lauerte auf der anderen Straßenseite wie eine verbitterte, in die Jahre gekommene Schauspielerin, die auf einem Ball für einsame Herzen verloren an der Bar hockt und mit ihrer Aufmachung und ihren Silikonimplantaten noch immer das Kostüm ihres letzten großen Auftritts trägt.
Ebenso verhielt es sich mit dem Metropol einige hundert Meter weiter, wenn es auch nicht ganz so in Ehren heruntergekommen war, und dem Europa und dem Tropical, über deren Eingängen Schilder verkündeten, man sei belegt. In Wirklichkeit besagten diese Schilder, dass der Staat hier Obdachlose unterbrachte und man die lebenden Toten auf den obersten Etagen am besten allein ließ.
Warum auch nicht? Das Palmyra war tot. Hier zu wohnen war ungemein schwermutfördernd, und so erschienen die Zimmer nur auf den ersten Blick billig, was häufig der Fall ist, wenn man am falschen Ende spart. Der Ort war auch deshalb so deprimierend, weil nicht jeder das Palmyra überlebte.
All das aber hielten Neuankömmlinge für Lokalkolorit, selbst die ewigen Straßenarbeiten am Hauseingang wurden von diesem Treibgut des Erdballs gleichmütig hingenommen — was kümmerte es sie? Sie waren froh, endlich einmal in fremden Gewässern zu fischen, und lachten bald genauso laut wie alle anderen über die Toilette im Erdgeschoss, eine der wenigen, wo immer Männer vor dem Damenklo warteten; wer sich auskannte und schon mal dort gewesen war, nannte sie die Cocktail-Bar. Diese Einrichtung erwähnte der lernwillige Tourist für gewöhnlich mit Ausrufezeichen auf seiner ersten Postkarte nach Hause, denn hier traf man die Mädels von den Agenturen für eine schnelle Nummer im Stehen. Wenn das Hotel überhaupt einen Ruf hatte, dann wegen dieser Institution, die so fest mit dem Parterre verwachsen war wie der Nachtportier und der defekte Fahrstuhl. Abgesehen von den Kakerlaken im Sommer, waren die Zimmer sauber; auf der obersten Etage indessen gab es nur Dreibettzimmer und kein fließend warmes Wasser. Mitunter beging auch mal jemand Selbstmord, bevorzugt bei heiterem Wetter. Den Leuten, die für vierzig Pfund oder weniger die Woche wohnen wollten, machte das nichts aus, sie verschwendeten kaum einen Gedanken daran. Jedoch jemand, der wehrlos war, hätte schon ziemlich verzweifelt sein müssen, um hier hängenzubleiben. Nicht so Sladden.
Sladden war nicht wehrlos, und an diesem Abend war er bereits seit halb elf hier. Zimmer fünfzehn befand sich im zweiten Stock am Ende des Flurs und hatte die Form eines Zeppelins; die Wände mit der abblätternden Farbe waren so schief, dass nicht ein Möbelstück die Chance hatte, mit der Wand abzuschließen, und es war stickig, weil das Fenster klemmte und nicht zu öffnen war. Er hockte schweißtriefend im Schrank, nur in Jeans und T-Shirt, und horchte auf die Schritte des Mieters, was sich sehr schwierig gestaltete angesichts des ohrenbetäubenden Lärms, der hier herrschte. Als ob in jedem Zimmer rings eine Party tobte. Aber schließlich, gegen eins, blieb jemand vor dem Zimmer stehen, der Schlüssel drehte sich, die Tür ging auf und das Licht an. Als Sladden sich sicher sein konnte, dass der Mann allein war, kam er mit seiner .25er Automatik aus dem Schrank. »Hallo, Bogdan.«
Der Mann schaute schockstarr in den Lauf der Waffe, dann sah er Sladden an: »Was wollen Sie?« fragte er. »Ich kenne Sie nicht.«
»Macht nichts«, antwortete Sladden und, mit der Pistole gestikulierend, »das reicht, um mich vorzustellen.« Er tastete den Mann ab, aber der war sauber. »Tu einfach so, als gäbe es das Ding gar nicht.«
Bogdan hatte damit seine Schwierigkeiten. »Warum gehst du nicht einfach rüber zum Bett und legst dich ein bisschen hin? Entspann dich.«
»Geht nicht, mit dem Ding vor der Nase.«
»Mach's trotzdem«, sagte Sladden. »Und zwar am besten gleich.«
Der Mann gehorchte selbstverständlich. »Schon viel besser«, sagte Sladden und schaute sich Bogdan von oben bis unten an; er gefiel ihm. Er war jünger und sah besser aus als auf den Schwarzweißfotos, die man heimlich von ihm gemacht hatte, als er sich in irgendwelche Bürogebäude stahl oder gerade herauskam. In natura hatte Bogdans Gesicht unter dem weichen, dunklen Haar das, was Sladden Klasse nannte. Hier war jemand, den er in jeden seiner Lieblingsclubs hätte mitnehmen können, und gegen ihren Willen wären die Stammkunden beeindruckt gewesen und hätten sich gefragt, wie Sladden den wohl hatte aufreißen können; sie hätten neidisch beobachtet, wie seine neue Eroberung ihm an die Bar gefolgt wäre, und hätten sich gefragt, ob sie's wohl schaffen würden, sich den dort selbst zu greifen und für eine Spritztour im Bentley und ein intimes Wochenende in Surry zu entführen. Unter anderen Umständen wäre Sladden ziemlich schnell zudringlich geworden, und, wie er glaubte, vermutlich nicht auf großen Widerstand gestoßen. Schade.
»Was ist eigentlich los?« fragte der Mann. »Was soll die Knarre?«
»Reg dich nicht auf Wir kriegen das schon alles geregelt.«
»Was, alles?«
»Tja, Bogdan, es ist nämlich so, du verlässt uns.« Sladden seufzte, es fiel ihm nicht leicht, seine sexuellen Begierden zu unterdrücken; sie mochten es nicht, wenn man ihnen eine Abfuhr erteilte. »Nur keine Angst, ich bin bloß der Reiseleiter. Ich bin dein Rückfahrticket, freu dich.«
»Rückfahrt wohin?«
»Kein bestimmtes Ziel.«
»Ich will nicht nach Moskau zurück. Wer sind Sie überhaupt? Einwanderungsbehörde?«
»Ausländerbehörde«, antwortete Sladden vage.
»Aber ich habe einen britischen Pass.«
Sladden hätte beinahe gesagt, dass der Weihnachtsmann den auch hatte, aber statt dessen sagte er nur: »Es gibt da ein paar Unannehmlichkeiten.«
»Welche denn?«
Sladden überhörte das. »Gefällt’s dir in England?« fragte er lediglich. »Fühlst du dich manchmal bedroht?«
»Nein«, sagte Bogdan, »nur durch diese Waffe.«
»Also hast du nichts getan, um dich hier unbeliebt zu machen? Gar nichts? Okay, mit mir kann man ja reden. Für deine Akte bin ich verantwortlich, momentan sogar für dein gesamtes Leben, würde ich sagen; also komm, vertragen wir uns. Schätzchen.« Er zwinkerte ihm zu. Verglichen mit Sladden, sah ein Triebtäter aus wie ein Teenager in einer Limonadenreklame.
Mit der Waffe in der Hand gab er Bogdan Anweisungen, sich möglichst ungezwungen aufs Bett zu legen. Bogdan beugte sich dem widerspruchslos. Er stellte keine Fragen mehr und beobachtete resigniert, wie Sladden sich durchs Zimmer bewegte. Der überprüfte aus verschiedenen Blickwinkeln, wie sich das Bild ausnahm, zupfte mal das Kissen, mal die Tagesdecke zurecht wie ein Modefotograf, bis er mit dem Gesamteindruck zufrieden war. Dann legte er sich neben Bogdan aufs Bett und nahm ihn in den Arm.
»Na«, fragte er, »wie gefällt es dir? Liegst du bequem?«
»Geht's nur darum? Wenn Sie Sex wollen, kann ich mich ja...




