E-Book, Deutsch, 364 Seiten
Rauscher Das Herz des Schweigens
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7568-9592-2
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 364 Seiten
ISBN: 978-3-7568-9592-2
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Im Spiegel der Nacht sieht sich Madeleine von gräßlichen Dämonen umgeben. Am Morgen liegt sie in einem sonderbaren Koma. Die Ärzte in der Münchner Psychiatrie stellen eine Schizophrenie fest. Vollgepumpt mit Medikamenten sitzt Madeleine wochenlang reglos auf der Station. Ihr Mann Wolfgang will sich nicht damit zufriedengeben. Er erkennt seine Frau nicht wieder. Es muß bessere Behandlungsmethoden geben. Gemeinsam mit dem befreundeten Dorfarzt Dr. Selbiger macht sich Wolfgang auf die Suche. Damit beginnt für Madeleine ein dramatischer Heilungsweg, der sie um die halbe Welt führt.
Dr. Karl-Heinz Rauscher schreibt seit dreißig Jahren. Entstanden sind Romane, Drehbücher, Theaterstücke und Sachbücher. Nach Jahrzehnten als Arzt und Systemtherapeut ist Rauscher zum Geschichtenerzähler geworden. Seine Geschichten berühren den Kern des Menschseins. Das Herz des Schweigens ist sein Debütroman.
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Die Geschichte
Die Dämonen kamen in der Nacht. Sie waren von Anfang an grässlich, furchtbar im eigentlichen Sinne. Madeleine hatte nie dergleichen gesehen. Die Fratzen in den Horrorfilmen waren eben nur Fratzen ohne Leben, ohne Musik, ohne Blick. Die Dämonen, die Madeleine auf der schwarzen Leinwand der Nacht erblickte, waren lebende Wesen. Sie blickten sie aus gelben Augen an, in denen Leben wohnte, ewiges Leben. Die Dämonen sprachen zu ihr, wollten etwas von ihr. Und was das Schlimmste war: Sie schienen menschlich, Menschen, in grauer Vorzeit verwandelt in Teufel. Madeleine war darauf nicht vorbereitet, durch absolut nichts. Wolfgang schlief neben ihr wie sonst auch. Es war April wie sonst auch und es war ein Sonntag wie sonst auch. Madeleine schloss die Augen. Aber dadurch wurde es nur schlimmer. Immer mehr Dämonen erschienen. Madeleine hatte das Gefühl, wie wenn ihr innerster Grund schwinden würde. Der winzige Punkt in ihrer Körpermitte, an dem sie sie selbst war, Madeleine Haftbauer, kastanienbraune Haare, üppig, Bäuerin, eine Frau um die vierzig, Hühnerhalterin und Pferdemagd, Kuhpatronin und Solosängerin im Kirchenchor, Eingeheiratete und Zugereiste vom nächsten Tal, Ehefrau und Geliebte ihres Mannes, Madeleine Haftbauer eben, dieser Punkt wurde kleiner, so klein wie ein Stecknadelkopf und dann ... verschwand er. Hätte sie doch ihren Mann geweckt, Wolfgang, den Bären, ... ach wenn sie doch geschrien hätte ... aber da war sie schon zu schwach, wie gelähmt. Wie sollte sie auch widerstehen, angeschaut von Teufeln, die ihr das Mark aussogen, ihren Willen auslaufen ließen wie lauwarmes Badewasser und die es fertigbrachten, sie in sich hineinzusaugen und sie aus ihren gelben Augen in die Welt schauen zu lassen, während ihr Körper klein wurde und still. Und was war das für eine Welt, die Madeleine erblickte, dieselbe schöne Welt, doch betrachtet von Wesen, die das Wichtigste verloren hatten, das Menschen besitzen und das allein die Welt zusammenhält: alle Hoffnung und alle Liebe. Die Welt, die Madeleine plötzlich sah, war grau, nass, grell, voller Missgunst, gehässigem Hass und durchwoben von spinngewebigem Neid und hölzernem Gelächter ob der Ohnmacht der Menschen, auch nur einen Funken Glück über die Zeit zu retten, eine Welt, geprägt von Verlust und Häme und durchsteint von eingekerkerten Herzen. Madeleine sah sich von außen, eingeschart in die Riege der Dämonen, die ihr in den Ohren lagen wie Grammophone und die spitz lachten über die Kleinheit der Welt und einen Gott, der das alles zuließ, das Pech und das Mittelmaß und die Lügen. Mit spitzem Gelächter erzählten die Dämonen über den Mann, der sich im Schlaf neben ihr wälzte vor Sattheit, berauscht noch vom Wirtshaus und dick vom Fressen. Nein, nein, nein, wollte der verschwindende Punkt noch rufen, nein, aber da glaubte sie schon alles, was sie ihr aus spitzen Mündern eintrichterten. Sie schaute aus den Augen der Dämonen und begann, wie sie zu denken, nein, sie dachte nicht, sie hörte Sätze, Gedanken und hielt sie für ihre eigenen. Sie war zum Dämon geworden, einverleibt, im Gehirn gewaschen, vereinnahmt, fertig, durchdrungen und verschwunden. In der Frühe zwitscherten die Vögel in einen frischen Aprilmorgen. Wolfgang fand nur einen Körper neben sich, warm zwar und durchblutet, aber mit blinden Augen. Madeleine war nicht mehr da, Madeleine war woanders. Wolfgang wusste das nicht, wie sollte er auch, Wolfgang wusste nichts von Dämonen. Keiner wusste von ihnen. Wolfgang rüttelte den Körper neben sich, sah ihre leeren Augen, war ratlos. Dann holte er den Arzt. Dr. Balthasar Selbiger war ein Landarzt, wie er im Buche steht, mäßig beleibt, ergraut im Dienste an den Menschen. Ein einfacher Mann, der brav studierte, was es in der Medizin zu studieren gab, und der dann zurückgekehrt war in das bayerische Dorf, um die Praxis seines alten Vaters zu übernehmen. Er wurde das, was sein Vater gewesen war, der einzige Arzt in einer kleinen Gemeinde. Balthasar Selbiger gehörte zum Dorf wie die Kirche und manchmal wie das Wirtshaus. Er war ein Frühaufsteher. Als das Telefon klingelte, saß er bereits bei einer Tasse Kaffee im dämmrigen Morgen. Es gab nicht viele menschliche Zustände, die Balthasar noch nicht gesehen hatte. Der reglose Körper Madeleines gehörte dazu. „Sie muss ins Krankenhaus, Wolfgang“, sagte Balthasar, „und zwar sofort und mit dem Notarzt. Sie liegt im Koma. Aber welche Art von Koma ... wenn ich sie anfasse ....“ „Was meinst du damit“, fragte Wolfgang mit weiten Augen. „Ich weiß nicht, ich hab so was noch nicht erlebt. Der Blutdruck ist normal, das Herz auch, nun gut, es schlägt etwas schnell. Aber die Augen, mir gefällt das nicht, und wenn ich sie anfasse ... ich weiß nicht. Vielleicht eine Vergiftung, es riecht so komisch ... wirklich keine Ahnung.“ Balthasar wählte die Notfallnummer. „Wir konnten nichts feststellen, Herr Haftbauer“, sagte Chefarzt Framminger. Wolfgang und seine Schwester Vroni standen da wie zwei Ölgötzen, in blaue Kittel gehüllt und mit verständnislosen Augen. Intensivschwestern drängten sich vorbei. Framminger lotste Wolfgang, der mit seiner Körperfülle die Mitte des Ganges versperrte, zur Seite. „Wir haben alles untersucht. Das Schädel-CT ist unauffällig. Wir haben jedes Hormon überprüft. Allenfalls das EEG ist etwas niedervoltiert, aber auch das noch in der Norm.“ Framminger nickte seinem Oberarzt zu, der aus einer Intensivbox trat. „Aber“, brach Wolfgang das Ölgötzenschweigen „irgendwas muss sie doch haben. Wenn Sie nicht mehr weiterwissen, müssen Sie einen Spezialisten hinzuziehen.“ „Das haben wir bereits“, antwortete der Oberarzt, der einzig Dürre in der Versammlung der Ratlosen. Es steht nur noch der Nervenarzt aus. Er kommt nachher.“ Madeleine saß derweil auf einer Eisenstange, an der, wenn es nötig ist, das Beatmungsgerät festgemacht wird. Neben ihr einige unwichtige Dämonen, Aufpasser nur, niedere Chargen, die Alarm schlügen, sollte der Dämonenwelt unerwartet Gefahr drohen. Doch derlei war nicht in Sicht. Kein Mensch sah sie. Madeleine machte sich mit ihnen lustig über die hilflosen Menschen. Wolfgang und Vroni gegenüber war sie kalt. Die Dämonen hatten Madeleines Herz verpackt in das Eis uralter Rache. Ihr Körper lag unter ihr, überwacht mit piepsenden und blinkenden Apparaten. Seit Tagen starrte ihr Blick an die Zimmerdecke. Die Schwestern hatten ihr mit kleinen, schweren Kissen die Lider zugedrückt, damit die Augen nicht austrocknen. Doch von Zeit zu Zeit mussten sie die kleinen Kissen wieder entfernen. Dann starrte Madeleine wieder zur Decke, besser gesagt, ihr Körper starrte aus toten Augen. Ihre Essenz, ihre Seele hockte zwischen den Dämonen und wusste nichts mehr von sich. In diesem Moment trat der Neurologe und Psychiater Neumeier ein, ein durchgeistigter, an den schönen Dingen interessierter Mensch. Das sah man gleich. Einen sauber geschnittenen Schnurrbart mit leicht nach oben gezwirbelten Spitzen trug er ebenso wie eine goldene Uhr, die an seinem haarigen Handgelenk deplaziert wirkte. Graue, ruhige Augen, milder Ausdruck. Hinter ihm kam der Chefarzt mit ratloser Miene. Der dürre Oberarzt schickte Wolfgang und Vroni kurz vor die Tür und trat dann ebenfalls neben Madeleines Bett. „Wir stehen vor einem Rätsel“, begann Framminger. Alle Körperfunktionen sind normal, manches nur leicht verlangsamt. Sie reagiert auf nichts, auf keinen Schmerzreiz, auf keinen akustischen Stimulus. Die Reflexe sind seitengleich, doch etwas abgeschwächt. So etwas habe ich noch nicht gesehen.“ „Haben Sie die Kornealreflexe geprüft“, fragte Neumeier. „Haben wir?“ Framminger schaute den Oberarzt fragend an. „Nein“, sagte der Dürre, „das nicht.“ Neumeier öffnete ein kleines Köfferchen und zog eine kleine Feder hervor. Damit strich er ganz leicht über die Hornhaut von Madleines rechtem Auge. Ganz langsam senkte sich das Lid bis zur Hälfte und öffnete sich ebenso langsam wieder. Neumeier wiederholte den Vorgang am selben Auge, dann auch am linken. Immer dieselbe träge, verzögerte, halbe Reaktion. Plötzlich klatschte er vor Madeleines Gesicht kräftig in die Hände. Der Chefarzt zuckte zusammen. Doch in Madeleines Gesicht rührte sich nichts. Neumeier machte ein bedenkliches Gesicht. Er trat einen Schritt zurück. „So weit weg ist sie nicht. Ich kann noch nicht viel sagen. Ich muss sie in Ruhe untersuchen. Doch es würde mich nicht wundern, wenn es sich um einen Stupor handeln würde. Oft habe ich das nicht gesehen und es ist auch nicht immer gleich.“ Framminger nickte leise. Eine junge Krankenschwester, sie hieß Else, trat ans Bett und träufelte künstliche Tränen in Madeleines weit geöffnete Augen. Als sie sich über das Bett beugte lief ihr eine Gänsehaut über den gesamten Körper. Neumeier sah es an ihren Unterarmen. „Frieren Sie, junge Frau“, fragte...