E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Rausch Trieb
11001. Auflage 2011
ISBN: 978-3-8270-7472-0
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
13 Storys
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
ISBN: 978-3-8270-7472-0
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jochen Rausch ist Autor, Journalist, Musiker. Der Grimmepreisträger veröffentlichte den Erzählungsband »Trieb« (2011), den Roman »Krieg« (2013, verfilmt von Rick Ostermann und vorgestellt beim Internationalen Film-Festival in Venedig 2017) sowie »Rache« (2015) und »Im Taxi. Eine Deutschlandreise« (2017) im Berlin Verlag und ist beim WDR Chef mehrerer Radioprogramme, u.a. 1LIVE und WDR2. Jochen Rausch lebt in Wuppertal.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
AUF ÖLAND
(Asa & Christoph)
Sie ist es. Das ahnt er. Nein, er weiß es. Auch wenn er nur ihren Rücken sieht, weiß er es. Der nackte Hals. Das Muttermal seitlich des Halswirbels. Die Haare nach oben gesteckt, auf ihrem Nacken eine feine Kette aus erbsengroßen Perlen. Immer hat sie diese Frisur getragen. Immer hat sie ihm den Nacken gezeigt. Beiß zu! Ich will deine Zähne spüren! Beiß mich! Los, mach schon, beiß!
»Verzeihen Sie, mein Herr. Ihre Zimmernummer bitte.«
»Was?«
»Ihre Zimmernummer.«
Die Kellnerin hat ein höfliches Lächeln. Sie räumt das zweite Gedeck von seinem Tisch.
»Sechshundertfünfzehn«, sagt Warring.
»Vielen Dank. Genießen Sie den Aufenthalt in unserem Restaurant!«
Noch immer sind ihre Haare blond. Einzelne Strähnen sind aus den Spangen gerutscht, flirren über den nackten Hals. Jetzt spielen die Finger mit der Perle. Die an einer winzigen goldenen Schlinge unter ihrem Ohr baumelt. Sie frühstückt nicht allein. Ein Mann, Mitte vierzig, Brille, hohe Stirn, schmales, gebräuntes Gesicht. Eine gepflegte, sportliche Erscheinung mit Chefarztlächeln. Als er mit dem Kellner spricht, hört Warring den amerikanischen Akzent.
Christoph Warring faltet die Serviette auf. Der Amerikaner führt die Gabel zum Mund. Der Bissen auf der Gabel ist nicht größer als eine Wespe. Der Mann lächelt, kaut, nickt, tupft die Stoffserviette in die Mundwinkel und lacht mit blinkenden Zähnen. Sie war eine gute Geschichtenerzählerin damals, denkt Warring. Offenbar ist sie es immer noch.
Er geht zum Buffet, hält sich im Rücken der blonden Frau. Vielleicht täuscht er sich ja. Vielleicht ist es nur Einbildung. Es wäre nicht das erste Mal, dass er sich irrt. Auf der Mütze des Frühstückskochs prangt das Logo des Hotels. Parkresidenz Konstanz.
»Ein Rührei, der Herr? Oder ein Spiegelei, ein Omelett?«
»Dann ein Omelett bitte!«
Warring legt Paprikastreifen, Gurkenscheiben, eine Ecke Frischkäse und eine Scheibe Vollkornbrot auf seinen Teller. Er hofft sogar, sich zu irren. Dann erst dreht er sich nach ihr um.
Es ist Asa Hakansson. Sie hat ein breiteres Gesicht bekommen. Ihre Haare sind stumpf geworden. Eine Tönung vielleicht. Sicher mag sie das Grau des Alters nicht, denkt Warring. Ihre Haut ist weich und faltig, aber das Blau ihrer Augen ist immer noch leuchtend. Asa Hakansson. Dann sind also zwanzig Jahre vergangen, denkt Warring. Wenn sie spricht, unterstreicht sie die Worte mit der Hand. Jetzt stellt sie den Kopf schräg. Die Perle an ihrem Ohr berührt ihre Schulter. Es sind noch nicht zwanzig, denkt Warring. Es sind erst siebzehn Jahre. Dann haben sie ihr Zeit geschenkt.
Die Kellnerin serviert ihm den Kaffee am Tisch. Asa Hakansson sitzt aufrecht. Nun redet der Amerikaner. Hin und wieder nickt sie, legt den Kopf mal auf diese, mal auf die andere Seite, beugt den Oberkörper vor. Sie winkt dem Kellner.
»Coffee, please!«
An ihre Stimme erinnert sich Warring wie an einen lange nicht gehörten Song. Sie hatte immer schon diese dunkle, kehlige Stimme, eine Stimme, die damals älter schien als sie selbst. Jetzt hat sie das richtige Alter für ihre Stimme. Wie oft ist diese Stimme wie eine Schlange zu ihm gekrochen?
Plötzlich friert er. Gleichzeitig treten ihm Schweißperlen auf die Stirn. Der Frühstückssaal beginnt zu wanken. Warring hält sich mit einer Hand am Tisch fest. Mit der anderen greift er nach der Zeitung, streicht sie glatt.
Pakistan ertrinkt. Chilenische Bergleute verschüttet.
Natürlich könnte er gehen. Jetzt gleich. Er könnte das Wochenende mit Brenda, Robby und Kim in Burlington verbringen. In ihrem Haus mit den Erkern und der Aussicht auf die endlosen Wälder von Vermont. Burlington erscheint Warring in diesem Moment als der friedlichste und schönste Ort der Welt.
Ein Kellner tritt an den Tisch des Paares, verbeugt sich, kann nicht ahnen, wen er vor sich hat. Würde er noch lächeln, wenn er es wüsste? Asa Hakansson lehnt sich zurück, bestellt Kaffee. Damals hätte sie geraucht. Aber das Rauchen ist hier untersagt. Sie sieht in den Park, wo ein Gärtner auf einem lächerlich schmalen Traktor hockt.
Immer noch hat sie die stolze Haltung einer Frau aus allerbestem Haus, denkt Warring. Die siebzehn Jahre haben daran nichts geändert. Ihr Vater, Lars-Olof Hakansson, hat seine Tochter auf die teuersten Internate und an die besten Universitäten geschickt. Paris, London, Chicago. Nach dem Studium wurde sie Assistentin von Tore Nordgren, dem besten schwedischen Herzchirurgen seiner Zeit.
Der Kellner bringt ihr den Kaffee. Warring nimmt einen ersten Bissen vom Omelett. Samuel Greenslade vom Massachusetts General Hospital betritt den Raum, sucht nach einem bekannten Gesicht. Warring senkt den Kopf, sieht aus dem Fenster, Greenslade geht vorüber. Nebel schwebt über den Ästen der Chausseebäume. Jetzt schiebt der Gärtner Laub zusammen.
Im Mai 1990 sind sie sich begegnet. Ein Kongress in Rom. Die Stadt roch nach Sommer. Sie hatten den eintönigen Singsang der Simultanübersetzer auf den Kopfhörern und ließen ihre Blicke gelangweilt durch das Kongresszentrum streifen. Die Blicke blieben aneinander hängen. Sie war damals siebenundzwanzig, er vierunddreißig. Seit einem Jahr war er Chefarzt in Kassel. Einer der jüngsten Chefärzte in Deutschland.
Sie verließen das Kongresszentrum und liefen zu einem Restaurant bei der Fontana di Trevi. Das Essen rührten sie kaum an, verfolgten sich lieber mit den Augen. Sie zahlten noch vor dem Hauptgang, fuhren mit dem Taxi zum Hotel. Warring packte sie im Flur. Biss ihr in den Nacken. Beiß mich! Noch bevor er Asa Hakansson auf den Mund küsste, schob er ihr die Zunge ins Ohr. Beim ersten Kuss dann fasste er ihr gleich unter den Rock. Nie zuvor, schon gar nicht bei Ruth, war er jemals so unbeherrscht gewesen.
Warring trinkt einen Schluck Tafelwasser. Der Mund ist ihm trocken geworden. Dann isst er die letzten Bissen von dem Omelett. Der Amerikaner lacht. Wieder blinken die Zähne. Asa Hakansson lacht, wenn auch nicht so ausgelassen wie ihr Gegenüber.
Damals in Rom wurde er hinweggeschwemmt von einer Woge aus Gier. Sie fanden gar kein Ende. Alle Anfänge und alle Enden hatten sich aufgelöst, waren ineinander verhakt, in einem endlosen Kreislauf.
Sie blieben in Rom, als der Kongress längst schon zu Ende war. »Sag mir, was ich tun soll«, sagte Asa, »und ich tu’s!«
Er sagte, sie solle sich die Haare hochstecken, damit er sie in den Nacken beißen könne. Sie schob die Haare hoch.
Er würde gerne rauchen jetzt, denkt Warring. Seit zwanzig Jahren hat er nicht mehr geraucht. Beiß mich, beiß mich! Sie steht auf. Dreht sich zu ihm, reckt das Kinn leicht nach vorne und geht, als wäre der Frühstücksraum ihr Laufsteg. Die Männer an den Tischen blicken auf. Sie bezahlt mit einem milden Lächeln.
Von Rom flog Warring nach Frankfurt und sie nach Stockholm. Nicht eine Sekunde verlor er sie aus den Gedanken. Nach der Landung rief er sie von einer Telefonzelle aus an. Es war der erste von unzähligen Anrufen. Sie telefonierten zwischen den Operationen, vor den Visiten, nach den Visiten. Er schloss sich in sein Büro ein, um am Telefon mit ihr zu schlafen.
»Wann kommst du zu mir?«, fragte sie immer wieder.
»Bald, sehr bald!«
Sie trafen sich in Hamburg, Genf, Oslo, in Chicago, in Lissabon. Warring arrangierte Termine mit Kollegen, nahm jede Fortbildung, jeden Kongress, jede Einladung zu Vorträgen wahr. Mit der Zeit fiel ihm das Lügen leicht, Ruth hegte ja nie einen Zweifel. So stolz, wie sie auf ihren Mann war. Sie mochte seinen Ehrgeiz, seinen Willen, eines Tages Chefarzt an einer der großen Kliniken zu werden, in Hamburg, Berlin, vielleicht sogar Chicago, New York oder Boston. Und Ruth hatte ja auch die Kinder. Zwillinge. Anderthalb Jahre damals. Kind 1 und Kind 2.
Warring beugt sich vor, als sie von den Waschräumen kommt und durch den Speisesaal schreitet. Den Stolz hat man ihr nicht gebrochen, denkt er. Der Amerikaner tätschelt Asa die Hand, winkt dem Kellner. Noch eine Bestellung.
Für ihre Briefe, Karten und Päckchen legte Warring ein Postfach an. Mietete ein möbliertes Zimmer, um ungestört mit ihr zu telefonieren. Wenn er das Zimmer betrat, blinkte der Anrufbeantworter von ihren Anrufen. Aus dem Faxgerät kam Nachricht um Nachricht. Und sie telefonierten. Immer wieder. Oft hörten sie sich nur beim Atmen zu.
Darüber vergingen der Sommer, der Herbst und der Winter. Im Frühjahr fragte Asa ihn, wann er seine Frau verlasse.
Jetzt löst sie eine der Haarspangen. Hält die Spange mit den Lippen, während sie die Haare am Hinterkopf ordnet.
In jenem Frühjahr hatte Warring damit begonnen, sie zu vertrösten. Für Ruth besuchte er noch mehr angebliche Kongresse. Aber jetzt log er auch bei Asa. Dass er seine Frau verlässt. Bald schon,...




