Rauchfleisch Begleitung und Therapie straffälliger Menschen
4., unveränderte Auflage 2013
ISBN: 978-3-647-99520-5
Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 127 Seiten
ISBN: 978-3-647-99520-5
Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Die Begleitung und Therapie Straffälliger stellt hohe Anforderungen. Leicht drohen die professionell und ehrenamtlich Tätigen von der Fülle der Aufgaben erdrückt und in einen emotionalen Strudel hineingezogen zu werden. Die Kommunikations- und Umgangsweisen straffälliger Klienten und Klientinnen bringen ihre Betreuer immer wieder an die Grenzen ihrer Kraft. Zahlreiche Beispiele schildern typische Situationen aus der Betreuungsarbeit und zeigen, wie wichtig dabei die Selbstreflexion und die Wahrnehmung des eigenen Erlebens der professionellen Begleiter ist. Das äußerst praxisorientierte Buch verzichtet weitgehend auf theoretische Ausführungen und richtet sich an Psychotherapeuten, Sozialarbeiter, Bewährungshelfer und Seelsorger, aber auch an ehrenamtlich Tätige, die Straffällige begleiten.Die erste Auflage des Buches erschien im Matthias-Grünewald-Verlag.
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1 »Ich kann mich doch nicht um alles kümmern« Übernimmt man die Begleitung oder Therapie eines straffälligen Menschen, so entsteht im Betreuenden zumeist schon nach kurzer Zeit der Eindruck, von der Fülle der Aufgaben geradezu erdrückt zu werden: finanzielle Überschuldung, Wohn- und Arbeitsprobleme, familiäre Notsituationen und Konflikte, Kontakte zu Angehörigen und zu den Mitarbeitern der verschiedensten Sozialdienststellen – und nicht zuletzt schwerwiegende psychische Probleme der Klienten. Wie soll eine einzige Person, ob Professioneller oder freier Mitarbeiter, diese vielen verschiedenen Aufgaben auch nur annähernd erfüllen? Sollte man sich nicht lieber ganz von dieser Arbeit zurückziehen oder sich zumindest aufeine eng umschriebene Aufgabe beschränken und vor allem übrigen die Augen verschließen? Diese und ähnliche Gedanken drängen sich über kurz oder lang wohl jedem auf, der sich auf eine intensive Betreuung straffälliger Klienten einlässt. Es ist nach meiner Erfahrung sogar wichtig, dass man derartige Gefühle auftauchen lässt und bewusst wahrnimmt und sie nicht, weil sie den eigenen Idealvorstellungen von der guten Therapeutin oder vom guten Betreuer widersprechen, sofort beiseite schiebt. Es gibt zumindest zwei Gründe, die dafür sprechen, solche eigenen Gefühle sehr ernst zu nehmen: Zum einen erfasst man damit eine – wenn auch sehr bedrückende – Realität dieser Klienten, die unter vielfältigen Problemen sozialer und psychischer Art leiden. Blenden wir als Begleiterinnen und Begleiter von Straffälligen diese Dimension aus, so nehmen wir einen zentralen Teil ihrer Not nicht wahr und können ihnen deshalb mit unserem betreuerischen und therapeutischen Angebot letztlich auch nicht gerecht werden. Zum anderen ist nicht nur die Realität des Klienten wichtig, sondern sind auch unsere eigenen Gefühle und Reaktionen von großer Bedeutung – nicht zuletzt deshalb, weil wir mit unserer Persönlichkeit das »Instrument« sind, das wir für unsere Arbeit einsetzen. Auch wenn wir von uns erwarten, dass wir den Anforderungen, welche die Arbeit mit Delinquenten an uns stellt, gerecht werden, sollten wir uns nicht scheuen, uns Gefühle der Überforderung einzugestehen und uns mit ihnen auseinanderzusetzen. Gerade die Arbeit mit Klienten dieser Art zeichnet sich dadurch aus, dass wir auf Schritt und Tritt mit derartigen Widersprüchen und Konflikten in uns selbst und im Klienten konfrontiert sind. Man sollte es sich als Betreuerin oder Betreuer deshalb zur Grundregel machen, auch Gedanken und Gefühle, die einem selbst peinlich sind, zum Erleben zuzulassen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und dann eine bewusste Entscheidung zu treffen. Die Begleitung straffälliger Menschen stellt uns vor eine Fülle verschiedener Aufgaben, und es ist, wie angedeutet, durchaus berechtigt, wenn die Betreuenden sich davon fast erdrückt fühlen. Untersucht man solche Situationen genauer, so kann man feststellen, dass zumeist zwei Gründe für dieses Gefühl ausschlaggebend sind: Zum einen fühlt sich der Betreuer angesichts der vielen sozialen und psychischen Schwierigkeiten seines Klienten selbst hilflos und erlebt damit etwas von den Gefühlen der Resignation und Verzweiflung, unter denen der Straffällige leidet. Zum anderen fühlen sich die Begleiterinnen und Begleiter, aber auch Therapeuten und Therapeutinnen, oft deshalb erdrückt von der Fülle der Probleme, weil sie unter dem Eindruck stehen, sie kämen wegen der vielen sozialen Schwierigkeiten dieser Menschen gar nicht zum »Eigentlichen«, nämlich zu »therapeutischen« Gesprächen, sei dies in Form einer Psychotherapie im engeren Sinne, sei es als Beratungsgespräch allgemeinerer Art, sei es die Auseinandersetzung mit dem Delikt und seinen Folgen. Gewiss ist es angesichts der schwierigen psychischen Situation, in der sich viele dieser Klienten befinden, wichtig, sich für derartige tiefergehende Gespräche über zentrale Themen ihres Lebens Zeit zu nehmen. Es erscheint mir jedoch verhängnisvoll, wenn damit eine Bewertung verbunden wird, welche den Gesprächen über das psychische Befinden eine größere Bedeutung beimisst als denen über alltägliche soziale Probleme. Nach meiner Erfahrung ist es oft notwendig, sich zunächst intensiv mit dem Alltagsleben der Klienten zu beschäftigen (und in dieser Zeit eine einigermaßen tragfähige Beziehung aufzubauen), ehe man sich ihren psychischen Problemen zuwenden kann. Dies ist durchaus verständlich: Zum einen ist es nachvollziehbar, dass ein Klient nicht einer »wildfremden« Person Einblick in sein Innenleben gestatten möchte. Abgesehen davon, dass schwerste Delikte wie Mord, Vergewaltigung oder Inzest für den Täter selbst letztlich unbegreiflich bleiben, sind zum anderen viele der psychischen Probleme dieser Menschen derart schwerwiegend und schmerzhaft für sie, dass ihr Zurückweichen davor durchaus verstehbar ist. Aus diesem Grund wäre es völlig unangebracht, ja unter Umständen grausam, als Betreuende von Anfang an darauf zu bestehen, »tiefe« Gespräche führen zu wollen. Hinzu kommt, dass das, was bei oberflächlicher Betrachtung vielleicht als Ausweichmanöver erscheint, als »raffinierte Technik«, die Betreuer mit nebensächlichen, unwichtigen Fragen und »Problemchen« vom »Eigentlichen« abzubringen, sich bei genauerer Untersuchung als wichtige Informationen erweisen. Oft artikulieren diese Klientinnen und Klienten zentrale Anliegen und Konflikte in Berichten über scheinbar völlig banale Erlebnisse oder im Wunsch nach Hilfe bei einer – dem Außenstehenden vielleicht lächerlich erscheinenden – Angelegenheit. In einer solchen Situation kommt es darauf an, dass wir als Begleiter die Sprache unserer Klienten zu verstehen lernen und uns nicht durch irgendwelche Vorurteile (beispielsweise was den Wert »tiefer« oder »oberflächlicher« Gespräche betrifft) selbst den Weg zu ihnen verbauen. Ich möchte die bisherigen Ausführungen an zwei Beispielen veranschaulichen. Eine auf den ersten Blick vielleicht merkwürdig erscheinende Situation war die folgende: Martin, ein junger, mehrfach straffällig gewordener Patient, fragte mich zu Beginn einer Therapiesitzung etwas verschämt, ob er mir einen von ihm verfassten Liebesbrief zeigen dürfe. Er sei mir dankbar, wenn ich ihn zumindest auf grobe orthographische Fehler hin anschauen könnte. Der sechsseitige Brief, den er mir daraufhin gab, enthielt eine detaillierte Schilderung seines bisherigen Lebens, und zwar vor allem eine Darstellung seiner Delikte, seiner bisherigen mehrfachen Gefängnisaufenthalte und der sozial schwierigen Situation, in der er sich zur Zeit befand. Aufmeine Frage, an wen er diesen Brief schicken wolle (die Anrede lautete lediglich »Liebes Fräulein«), erklärte er mir, dass er am Vorabend am Nachbartisch des Restaurants, in dem er häufig verkehre, eine junge Frau gesehen habe, in die er sich »Knall auf Fall« verliebt habe. Er habe allerdings kein Wort mit ihr gewechselt, sondern habe von Kollegen lediglich erfahren, dass sie im Nachbarhaus wohne. Ihren Namen kenne er nicht; er habe vor, den Hauseingang gegen Abend, wenn sie vermutlich von der Arbeit zurückkomme, zu beobachten und zu schauen, aus welchem Briefkasten sie ihre Post herausnehme. In diesen Kasten wolle er dann seinen Brief stecken. Es wäre meines Erachtens völlig verfehlt, wenn man als Betreuer oder Therapeut einen Brief, wie Martin ihn mir vorgelegt hat, zurückwiese, um zu »wichtigeren therapeutischen Themen« zu kommen. Dies wäre nicht nur eine empfindliche Kränkung des Patienten gewesen, der Scheu und Scham hatte überwinden müssen, um mir den Brief überhaupt zu zeigen. Ich hätte durch ein solches taktloses Vorgehen vielmehr auch gezeigt, dass ich die eigentliche Botschaft, die Martin durch seine Bitte an mich richtete, nicht verstanden hätte. Hätte ich mir nicht Zeit für diese – Außenstehenden vielleicht unwichtig erscheinende – Angelegenheit genommen, hätte ich mir einen wichtigen Zugang zum Erleben und Handeln meines Patienten verbaut. Gestattete mir Martin durch seinen Briefdoch Einblick in seine Innenwelt und ließ mich erkennen, wie hilflos und zwiespältig er sich in seinen sozialen Kontakten fühlte und wie wenig realistisch er die innere und äußere Situation seiner Bezugspersonen einzuschätzen vermochte. So extrem diese Situation einerseits ist, so charakteristisch ist sie andererseits doch in Bezug auf die Anonymität der Beziehungen, welche Straffällige oft zu anderen Menschen aufnehmen. Hinzu kommt, dass, wie im beschriebenen Beispiel, solche Beziehungen von Anfang an geradezu überladen werden mit ungeheuren Erwartungen an die potenziellen Partner, ohne deren eigene soziale Realität und deren Gefühle auch nur im geringsten zu berücksichtigen (diese Dynamik entfaltet sich natürlich auch in der Beziehung zu den Betreuenden, worauf ich in Kapitel 7 noch eingehen werde). In Martins Fall betrifft dies etwa seine Unfähigkeit, sich in die junge Frau einzufühlen. Wie sich im weiteren Gespräch über diesen Brief zeigte, hatte er sich keinerlei Gedanken darüber gemacht, wie ein solcher »Liebesbrief« (in dem sich der Patient im Grunde nur von seinen »Schattenseiten« darstellte) auf die Frau wirken würde. Martin hatte ferner in keiner Weise berücksichtigt, dass die Frau unter Umständen einen Ehemann oder Freund haben könnte. Auch die Tatsache, dass ein ihr völlig fremder Mann ihr ein Liebesgeständnis macht, ohne bisher ein einziges Wort mit ihr gewechselt zu haben, war für Martin in keiner Weise bemerkenswert. Für ihn war nur sein eigenes Gefühl maßgebend, sein Wunsch nach einer Liebesbeziehung ließ ihn jeglichen Realitätsaspekt vergessen. Anzumerken ist hier, dass neben diesem...