Rauchensteiner | Gegenverkehr | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 136 Seiten

Rauchensteiner Gegenverkehr

Miniaturen
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7076-0741-3
Verlag: Czernin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Miniaturen

E-Book, Deutsch, 136 Seiten

ISBN: 978-3-7076-0741-3
Verlag: Czernin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Meinhard Rauchensteiners Miniaturen sind wie bittere und heitere Pillen zugleich. Sie reihen sich in die Riege der Wiener Großautoren der Kleinen Form und schreiben so eine Tradition fort, die man ihnen nicht gleich ansieht. In immer neuen Ansätzen versucht der Autor, Momente festzuhalten, Stimmungen gerecht zu werden oder Gefu?hlen auf die Schliche zu kommen. Die Sprachbilder zeichnen Alltagssituationen wie Außergewöhnliches, stellen einzelne Wörter in den Fokus, beinhalten Fliegen, Bu?cher oder Gläser. Der Zauber der Texte liegt jedoch oft im Ungesagten.

Meinhard Rauchensteiner, geboren 1970 in Wien, Studium der Philosophie, Theologie, Sprach- und Politikwissenschaft, Geschichte, auf der Angewandten und der Akademie fu?r bildende Ku?nste. Schrieb fu?r die Frankfurter Hefte und den Morgen. Seither Veröffentlichungen in Tageszeitungen und Periodika. Choreografien im Aktionsradius Wien und dem ORF-Radiokulturhaus. Filmemacher. Lehrt an der Universität fu?r angewandte Kunst Wien. Arbeitet seit knapp 20 Jahren in der österreichischen Präsidentschaftskanzlei, zuletzt als Abteilungsleiter für Wissenschaft, Kunst und Kultur. Bu?cher: 'Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Couch' (2009), 'Wie man einen Picasso zersägt' (2010), 'Das kleine ABC des Staatsbesuches ' (2011, Neuauflage 2020); Filme: 'Herbst' (UF diagonale 2017), 'Mk. 10,25' (UF diagonale 2019), 'Papa Roma' (UF diagonale 2020).
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Dämmerung


Die Regentropfen fielen vom Himmel, als hätten sie gerade nichts Besseres zu tun. Nebenher, fast gelangweilt, setzten sie sich auf Mauern und Jacken oder wurden eins mit dem zerriebenen Schotter im Rinnsal. Und vielleicht war es auch so. Denn auch der Postbote schlenderte wie zufällig von Haus zu Haus, fand in seiner Tasche Briefe und verteilte diese gerecht und beiläufig auf die Fächer neben dem Eingang. Und selbst die Hunde pinkelten achselzuckend an Bäume und Laternenmasten, als wäre ihnen eins wie das andere. Im Wetterbericht hatten sie ein Sturmtief angekündigt, dieses aber augenscheinlich nicht zeitgerecht von seiner Existenz informiert. Nichts weiter war also zu tun, als sich gelassen in den Abend zu bewegen, der sich auch zusehends verspätete, denn immerhin war bereits März.

WG


Seit zwei Tagen schon wohnte er mit einer Fliege zusammen. Er hatte sich dies nicht ausgesucht. Sie wohl auch nicht. Nach anfänglichen Streitereien und gar Mordversuchen stellte sich ein duldendes Miteinander ein, auf der Grundlage des Leben- und Fliegenlassens. Andere, dachte er, haben Hunde, Katzen, Papageien. Er hatte die dicke, schwarze Fliege, deren Wege ihm immer vertrauter wurden. Nur in der Nacht packte ihn manchmal die Angst, sie unwissend zu verschlucken, wenn sie sich im Schlaf auf seine Lippen setzen sollte. Tags darauf lag sie vertrocknet am Küchenboden und er kehrte diese Fliege weg.

Schreiberling


Zu jedem Anlass wurden ihm leere Notizbücher geschenkt. Weil er doch schriebe, also schreibe. Ja, ja. Weihnachten, Ostern, Geburts- und Namenstag, und selbst noch an den wenigen Fugen zwischen den Festen, laufend füllten Blöcke und Blindbände seinen Bestand. Wurde eine Wohnung geräumt, ein Schreibtisch neu geordnet: Da, bitte, gerne, für dich. Danke.

Wie schweigende Türme wuchsen die Notizbücher vom Boden über die Tischkante bis hin zum Fensterbrett. Säuberlich ein Turm neben dem anderen, eine ganze Stadt aus leeren Seiten, deren enge Straßenfluchten man mit Helikopteraugen durchwandern konnte.

Oft wünschte er sich die Kraft, diese tausendfachen Seiten zu füllen, Wort an Wort, Satz an Satz zu reihen, ganz so wie es die Großmeister des Sentenzenschleuderns vorgemacht hatten. Alleine, es war ihm nicht gegeben, und mit der Zeit ging von der Stadt eine unmittelbare Bedrohung aus.

Als es kälter wurde, warf er einen um den anderen Band in den offenen Kamin und vernichtete mit einer dünnen Geste des Triumphs seine ungeschriebenen Werke.

Familie


Wie jeden Morgen betätigte er die Mischbatterie und aus dem Duschkopf begann es zu regnen. In der Wanne aber wohnte ein Staubkorn mit seiner Familie. Diese wurden vom Katarakt erfasst und im Uhrzeigersinn fortgerissen. Lange zogen sie Runden um den Abfluss, tänzelten auf den Wellen, blieben unversehens am Rande stehen, und dann wieder zog sie das Wasser in seinen Bann. Immer enger wurden die Kreise, immer schneller der kreisende Tanz. Und dann, ganz ohne Abschied, zog sie der Strudel mit sich weg.

Sowjetische Sehnsucht


Ein Seeräuberschatz, der nach langem Schlaf auf dem Meeresgrund ans Land gehoben wird, so hatte er seine Plattensammlung in einer Kiste entdeckt. Jedes Cover eine Erinnerung. Diese eine hatte ihm sein Vater aus Moskau mitgebracht, als der jünger war als sein Sohn jetzt. Nie konnte er die kyrillischen Schriftzeichen entziffern, und selbst wenn, hätten die Laute ihm kein Wort gebildet und kein Bild gezeichnet. Zu sehen war ein LKW, der ein Artilleriegeschütz einsam zwischen Birken stellt, während Infanteristen eine flüchtige Stellung errichten. Rückzug 1941, hätte sein Vater vermutlich gesagt. Dem entsprachen die Lieder, als er sie endlich abspielte. Wieder abspielte. Schwermütige und von einem bitteren Heldenmut geformte Töne schleppten sich durch sein Zimmer und unvermittelt kam über ihn der Geruch des Kalten Krieges seiner Kindheit.

Soziales Gefälle


Wien hat zwei Seiten, welche eine abschätzig Transdanubien genannt wird, wohingegen die andere nicht Cisdanubien heißt, wie es sich eigentlich gehörte, sondern, zumal den dort Anrainenden, schlicht Wien. Es soll solche »Wiener« geben, die noch nie einen Fuß auf das andere, das nördliche Ufer der Donau gesetzt haben. Demensprechend besuchen sie das Krapfenwaldlbad, eingefügt zwischen die Döblinger Villen und herausgeputzten Buschenschanken, die auch Tafelspitz auf der Speisekarte führen, und nicht das Gänsehäufel, das sie bestenfalls vom Hörensagen kennen und wo die Lángos ungestört den Charme und das beständige Öl der 1970er-Jahre versprühen.

Selbst in der Geologie schlägt sich diese tiefe Kluft nieder, nämlich zwischen dem steil aufragenden Leopoldsberg und dem sanft ansteigenden Bisamberg, die gemeinsam die »Wiener Pforte« bilden. Da hilft es wenig, dass der Bisamberg für sich in Anspruch nehmen kann, das östliche Ende der Alpen zu bilden; solche Feinheiten werden durch den Hinweis, dass anno 1683 das christliche Abendland von Kahlen- und Leopoldsberg errettet wurde, mit einer wegwerfenden Bewegung zunichtegemacht, und souverän besiegt das Historische die Natur. Da hilft es auch wenig, dass der Bisamberg noch ins Treffen führen könnte, dass sich an seinem Fuße das »Erholungsgebiet Seeschlacht« findet, denn auch dies ist bei näherem Hinsehen ein Schotterteich umringt von Fertigteilhäusern für Abteilungsleiter in der IT-Branche. Die Kluft der Wiener Pforte, durch deren Mitte immerhin die Donau fließt, geht so tief, dass selbst unter den beiderseitig beheimateten Winzern kaum Verbindungen existieren. Findet doch einmal eine Hochzeit zwischen einer Stammersdorferin und einem Nussdorfer statt, so bedeutet dies sozialen Auf-, für den Nussdorfer sozialen Abstieg. Folglich müssen Mannsbilder, die sich – Gott sei’s geklagt – doch hin und wieder in eine Drübige verschauten, danach trachten, sie herüberzuziehen, gleichsam aus dem Schlamm in die zwischen den Villen angesiedelten Winzerhöfe Cisdanubiens, pardon: nach Wien.

Es ist ein weiterer bitterer Triumph der Geschichte, dass noch anderthalb Jahrtausende nach seinem Verschwinden der römische Limes die Zivilisation von der Barbarei trennt.

Abseits


Ein Dorn im Auge ist der Stadtverwaltung die Gstettn; ihr sozialer Status ist gering, weder Fisch noch Fleisch, nicht einmal eindeutig Müllhalde, wenngleich die Dichte an zertretenen Bierdosen jene des übrigen urbanen Raumes um ein Vielfaches übersteigt. Und wenn Kommunalpolitiker von Zwischennutzung leerstehender Geschäftslokale sprechen, dann eignet der Gstettn eine Zwischenunnutzung. Zwischen Zivilisation und Natur angesiedelt, zwischen Industrie- und Wohnbauten, wuchert sie jedweder Nützlichkeit bar vor sich hin. Sie entzieht sich, so lange sie kann, der Vermarktung, es gibt dort nichts zu kaufen, nichts zu mieten, zu wohnen, ja nicht einmal viel zu sehen. Ein paar wilde Rosen, Grasbüschel, Erde, Steine, ein schief gewachsener Haselstrauch, an dessen einer Seite brüderlich und verloren ein Einkaufswagen aus dem nahen Supermarkt lehnt, als wollte er sich ausruhen. Auch den Passanten ist sie ein Dorn im Auge, die Gstettn. Von einer »Schande« reden sie, und davon, dass es dort, wo die »Großkopferten«, also die sozial bessergestellten Leute wohnen, dass es dort so etwas nicht gebe, und dass sie der Stadtverwaltung und der Politik im Allgemeinen und eben »denen dort oben« seit jeher gleichgültig wären.

Der Gstettn ist das Gezetere einerlei, sie ist es gewohnt, kennt es nicht anders und erträgt es mit der stoischen Ruhe der Gescheiterten. Vor tätlicher Zudringlichkeit schützt sie ein Maschendrahtzaun, der dort und da aufgebogen ist und der gleichzeitig die Pforte zu ihrem einzigen Stolz bildet. Denn freitags und samstags schlüpfen im Schutz der angehenden Dämmerung schlaksige Figuren durch die Öffnungen hindurch, sammeln sich bei einer sandigen Lichtung, drehen die mitgebrachten Lautsprecher auf und erzählen sich Variationen dessen, was sie sich den Tag oder die Woche zuvor erzählt hatten. Beim Öffnen knacken durstig die Bierdosen und die Mädchen tragen den stillen Wettkampf aus, wer gelangweilter dreinschauen kann.

An solchen Abenden ist die Gstettn auf einer Höhe mit den angesagten Lokalen der Inneren Stadt und wenns ganz gut läuft, wird sie zum Club, wo minimalistische Tanzbewegungen den Takt vorgeben. Da nimmt sie es auf mit dem Flex und dem Fluc, der Pratersauna, der Grellen Forelle und dem Jenseits. Sie selbst, die Gstettn, trägt daher die zusätzlichen Bierdosen, derer es am nächsten Morgen zuhauf gibt, wie einen Orden, wie ein Zertifikat, das sie mit dumpfen Bässen aus dem Abseits zieht und zur werden lässt.

Glaubensbe(un)kenntnis im Vorstadtwirtshaus


Gott ist vermutlich eine gusseiserne Gestalt im Winkel...



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