E-Book, Deutsch, 300 Seiten
Reihe: Hannibal-Jazz
Ratliff Coltrane
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-85445-638-4
Verlag: Hannibal Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Siegeszug eines Sounds
E-Book, Deutsch, 300 Seiten
Reihe: Hannibal-Jazz
ISBN: 978-3-85445-638-4
Verlag: Hannibal Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Es ist schwieriger, über John Coltrane zu schreiben als über jeden anderen Musiker des 20. Jahrhunderts. Im Vergleich mit
vielen anderen Jazzmusikern verlief sein Leben ohne große Ereignisse. Zwar war er eine Weile heroinsüchtig, und Miles Davis schlug ihn einmal nieder, aber nachdem er erst einmal 'spirituell erwacht' war, wie er es im Hüllentext seines Albums
A Love Supreme ausdrückt, widmete er sich mit extremer Zielstrebigkeit nur noch seiner Musik. Was war die Essenz dieser Musik, die Coltrane auch vierzig Jahre nach seinem Tod noch so einzigartig erscheinen lässt?
Was hatten seine Improvisationen, seine Kompositionen, seine Stellung gegenüber seinen Jazz-Zeitgenossen so Besonderes, dass sich so viele Musiker und Zuhörer zu ihm hingezogen fühlen? Und: Wie würde John Coltrane heute aussehen? Solche Fragen stellt der renommierte Jazzkritiker Ben Ratliff in seinem Buch über Coltrane, das sich dem Thema in zwei Teilen nähert. Im ersten Teil schildert Ratliff Coltranes Entwicklung von den ersten Plattenaufnahmen als unbekannter
Musiker in einer Navy-Band bis hin zu seinen letzten Sessions, als er vielen fast schon als Heiliger galt. Ratliff richtet den
Fokus vor allem auf die letzten zehn Jahre von Coltranes Leben, in denen er auf seiner fast religiösen Suche nach tieferer
Ausdruckskraft eine auffällige Serie von seelischen Zusammenbrüchen hatte. Im zweiten Teil seines Buchs verfolgt Ratliff einen anderen Faden: den Einfluss, den Coltrane auf andere Musiker hatte, und seine kreative Hinterlassenschaft. Diese Story beginnt in den Mittfünfzigern und untersucht die Reaktionen der Musiker und Kritiker im Hinblick auf die Frage: Warum nimmt Coltrane einen solch großen und unverrückbaren Stellenwert für die Basisidentität des Jazz ein? Ratliff stellt Coltrane in eine Reihe mit den größten amerikanischen Künstlern nicht nur im Jazz und schürft nach den Kraftquellen seiner Musik - nicht nur hinsichtlich der Spieltechnik, der Kompositionskunst und der musikalischen Konzepte, sondern auch in den tieferen
Frequenzen von Coltranes Sound.
Ben Ratliff ist seit 1996 Jazzkritiker der New York Times. Er lebt mit Frau und zwei Söhnen in Manhattan. Sein Buch New York Times Essential Library: Jazz wurde 2002 veröffentlicht.
Weitere Infos & Material
Einleitung Die gängige Meinung über den Saxofonisten John Coltrane ist, dass er die letzte bedeutende Musikerpersönlichkeit in der Geschichte des Jazz war, und dass der Jazz nach seinem plötzlichen Tod im Alter von vierzig Jahren 1967 an Schwung verloren hat, wenn nicht gar zum Stillstand gekommen ist. Was war so herausragend an Coltranes Werk, dass man ihn auch vierzig Jahre nach seinem Tod noch so schätzt? Woher kommt diese ungeheure Anziehungskraft, die er auf so viele Musiker und Hörer ausgeübt hat? Was war das Besondere an seiner Improvisationstechnik, seinen Bands, seinen Kompositionen, seinem Platz in der damaligen Jazzära? Welche Faktoren haben dazu beigetragen, dass Coltrane zu dem wurde, der er war? Und wie würde ein John Coltrane heute aussehen – oder ist es falsch, nach einer solchen Persönlichkeit Ausschau zu halten? Als Außenstehender fragt man sich immer wieder, welcher Musiker wohl den nächsten wirklich bedeutenden Schritt in der Entwicklung des Jazz tun wird. All jene, die als Kandidaten in Frage kommen, wiederholen sich, kreisen um sich selbst und bieten nichts Neues mehr; sie bringen keine überzeugenden Kompositionen zustande, verkaufen sich in irgendeiner Form oder beginnen ihr Publikum zu langweilen. Dann wieder fragt man sich, ob es überhaupt sinnvoll ist, evolutionäre Modelle auf den Jazz anzuwenden. Es scheint vielmehr der Fall zu sein, dass der Jazz Kurven dreht, sich zurückzieht und winzige Anpassungen vornimmt, die seine Sprache nicht wesentlich verändern. Das Problem ist jedoch, dass es zumindest bei Coltrane den Anschein hatte, als würde sich der Jazz immer weiter entwickeln. Er preschte voran, und andere folgten ihm. Manche folgen ihm noch immer. Seine Karriere, besonders in den letzten zehn Jahren seines Lebens, war beispiellos. In dem Moment, als man in ihm den prototypischen Jazzmusiker zu sehen begann, änderte sich auch das allgemeine Verständnis davon, wie und warum Jazz funktioniert. Dieses Wissen wurde nun lückenhaft, und gefährliche Halbwahrheiten schlichen sich ein. Jede halbe Wahrheit bedarf einer ganzen Erklärung. Dies ist kein Buch über Coltranes Leben, sondern die Geschichte seines Werks. Der erste Teil handelt davon, wie seine Musik entstand, von den ersten Aufnahmen als namenloses Mitglied einer Militärkapelle 1946 bis zu seinem Tod als Fast-Heiliger des Jazz im Jahr 1967. Der zweite Teil erzählt vom Einfluss, den er schon zu Lebzeiten hatte und bis zum heutigen Tage hat. Diese beiden Geschichten werden getrennt voneinander erzählt – auch wenn sie sich hin und wieder überschneiden. Grund dafür ist, dass Coltranes Werk und seine Rezeption zwei vollkommen verschiedene, in sich logische Eigenleben besitzen. Dieses Buch ist ein Buch über den Jazz als Sound. Ich meine damit „Sound“ in seiner Funktion, wie er lange unter Jazzmusikern gebräuchlich war, als einen mystischen Kunstbegriff: Irgendwann braucht jeder Musiker einen eigenen Sound, in dem sich seine künstlerische Persönlichkeit so ausdrücken und entfalten kann, dass man ihn im Idealfall schon beim ersten Ton erkennt. Der Sound von Miles Davis war zerbrechlich und punktiert. Der von Coleman Hawkins war reif, weich und großzügig. Der Sound von John Coltrane war mächtig und trocken, vielleicht ein bisschen halbgar – und sehr eindringlich. Ich meine aber auch Sound im Sinne eines ausgewogenen Klangs, der von einer kompletten Band ausgeht. Wie wichtig ist das? Für Coltrane ging der Sound über alles andere. Schließlich lief er sogar der Komposition den Rang ab: Die Stücke auf seinen späteren Platten sind sich zunehmend ähnlicher, da die Suche nach dem Sound längst Soli und Struktur verdrängt hat. Sein Respekt einflößender Sound, vor allem wie er ihn in Balladen einsetzen konnte, war der Grund dafür, dass ihn ältere Musiker so hoch schätzten – zum Beispiel sein Sound in den oberen Tonlagen in „Say It Over And Over Again“. Das war aber auch der Grund, warum sich jüngere und weniger formell geschulte Musiker für ihn begeisterten und manchmal sogar einen Platz auf seinem Konzertpodium fanden. Coltrane liebte musikalische Strukturen und die wissenschaftliche Harmonielehre. Daher blieb er auch als Klassenprimus des Jazz in Erinnerung. Wenn es jedoch um die außergewöhnlichen Eigenschaften von Coltranes Musik geht (etwa um die Macht, das Bewusstsein des Hörers ein klein wenig zu verändern), müssen wir den Fokus auf ein Gebiet jenseits der Konstrukte seiner Musik, seiner Kompositionen und seiner intellektuellen Selbstverliebtheit ausdehnen. So können wir schließlich zum Gesamtsound der Musik vorstoßen: wie sie sich erst im Ohr und später dann in der Erinnerung anfühlt, als Masse und als Metapher. Musikalische Strukturen beispielsweise können keine Botschaft enthalten. Der Sound hingegen kann es irgendwie. Coltranes ausladender, direkter, vibratoloser Sound übermittelte seinen grundlegendsten Wunsch – „dass es mir gelingen möge, so gut wie nur irgend möglich zu werden.“ Was Coltrane bewirkte und wie er rund um die Welt ein jazzbegeistertes Publikum ansprach, das scheint jeden denkbaren Karriereplan zu übersteigen und unterscheidet sich auf bemerkenswerte Weise von unserer Vorstellung eines im Wesentlichen europäisch geprägten künstlerischen Bewusstseins westlicher Kulturen. Dieses Buch unternimmt den Versuch, seine Arbeit nachzuzeichnen – wie und warum er sich von A nach B und weiter bis nach Z entwickelte – und schließlich eine Antwort auf die Frage zu finden, warum Coltrane im letzten halben Jahrhundert einen so bedeutenden Einfluss auf das Selbstverständnis des Jazz gehabt hat. Coltrane, dessen Musik sich auszeichnet durch eine bemerkenswerte Technik, durch Kraft in allen Registern des Tenor- und Sopransaxofons, eine etwas scharfe Intonation, wahrhafte Intensität und die rasche, bewegliche Erkundung von Akkorden, nicht nur von Melodien – dieser Coltrane spielte einen Jazz, der abwechselnd verführerisch, kommerziell und antagonistisch war. Unter seinen Aufnahmen finden sich die schnelle, harmonische Etüde „Giant Steps“ (1959); die exotischen, modalen Versionen von „My Favourite Things“ (1960) und „Greensleeves“ (1961); der kopflastige, manchmal dissonante fünfzehnminütige Blues in F, „Chasin’ The Trane“ (1961); die hingebungsvolle Suite „A Love Supreme“ (1964); die wehmütigen Balladen „Soul Eyes“ (1962) und „After The Rain“ (1963) und sein feuriges Freejazzduell mit dem Schlagzeug, „Interstellar Space“ (1967). Seine Arbeit wurde inoffiziell mit der Bürgerrechtsbewegung in Zusammenhang gebracht: Allein schon sein Sound ist zu einer Metapher für Würde und Beharrlichkeit geworden. Seine Kunst war fast bis zum Ende nicht isoliert, sondern zeigte unterschiedlichsten Menschen verschiedener Kulturen und Rassen immer wieder verschiedene Dinge. Hinter seiner (nach einem bestimmten Denkschema) hässlichsten Musik wird gemeinhin eine Schönheit jenseits des Hörerverständnisses vermutet, und dasselbe gilt umgekehrt für seine gefälligste Musik, die wiederum oft als Ausdruck tiefer Ernsthaftigkeit gedeutet wird. Meiner Einschätzung nach wurde über ihn mehr Poesie verfasst als über jeden anderen Jazzmusiker. Seine religiöse Selbstfindungsreise durch Christentum, Buddhismus, Kabbala und Sufismus wird nun im Nachhinein in seine Musik hineingedeutet. Im pluralistischen Amerika ist es heute schwierig geworden, Coltranes modale Musik – in der sich ein improvisierender Musiker, befreit von den Fesseln der Harmoniefolge, auf eine Forschungsreise begibt – nicht als Metapher für eine persönliche religiöse Suche zu verstehen. Coltrane, besonders der von 1961 bis 1964, klingt genau so, wie wir uns modernen Jazz vorstellen; ebenso wie Strawinsky genau so klingt, wie wir uns zeitgenössische Klassik vorstellen. Junge Bandleader, besonders die Saxofonisten, kennen ihn als sicheren Hafen, ja, als den sicheren Hafen schlechthin. Einige Musiker mögen mir aufgrund eigener Erfahrungen widersprechen, der Jazz besteht schließlich aus Hunderten von Mikroklimas, doch ich muss hier festhalten: Der Sound unzähliger Jazzkonzerte, die ich als Jazzkritiker in den vergangenen fünfzehn Jahren in New York besucht habe, ist der Sound von Alben wie Coltrane’s Sound oder Coltrane Plays The Blues, der Sound des Coltrane-Quartetts kurz vor oder während seiner ersten Schritte in Richtung eines modalen Jazzstils, als sich die Musik gerade straffte, noch vor „A Love Supreme“ und jener späteren Musik, die so persönlich ist, dass man von ihr nicht borgen kann, ohne damit aufzufallen (was nicht heißt, dass man nicht zuweilen davon borgen würde, was in seiner Dreistigkeit meist die Grenzen des guten Geschmacks überschreitet). Coltrane ist im Verlauf der letzten fünfzig Jahre weitaus öfter imitiert worden als jede andere Jazzgröße. Einige Musiker haben mir erzählt, dass sie ihn nach einer Phase der intensiven Beschäftigung mit seinem Werk nicht mehr hören konnten. Auch einigen Hörern ging es so. Ich habe in verschiedenen Bands eine andere Art von Musik gespielt und bei einem Jazzpianisten Unterricht genommen, aber ich bin ein Schreiber, kein Jazzmusiker. Als ich, noch ein Teenager, in den Achtzigerjahren Coltranes Platten – die Prestige-Sessions mit dem Miles Davis Quintett aus dem Jahr 1956, vor allem „Tune Up“ und „If I Were A Bell“ – zum ersten Mal hörte, klang er für mich wie ein großer See, dessen Dimensionen ich nachspüren wollte. Das nächste Album war...