E-Book, Deutsch, 384 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Ranisch Nackt über Berlin
18001. Auflage 2018
ISBN: 978-3-8437-1713-7
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 384 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-1713-7
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Axel Ranisch, Regisseur, Schauspieler und Opernschreiber ist ein kreativer Tausendsassa. Nach den Filmen »Dicke Mädchen«, »Ich fühl mich Disco« und »Alki Alki« hat er nun seinen Einfallsreichtum in Literatur gegossen.
Autoren/Hrsg.
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1
4. September 2015
Papa war im Ausland und Mama beim Zumba. Es konnte mich also niemand stören.
Rachmaninoff. Sinfonische Tänze op. 45 – der Morgen.
Ich legte die CD ein, zog meine Hose aus und kroch mit der Fernbedienung unter die Bettdecke. Ich drückte auf Play. Noch vor dem ersten Ton schoss mir das Blut in den Unterleib. Ich drehte mich auf den Bauch und bohrte meine Erektion in die Matratze.
Die Musik begann. Ein Pulsieren der Streicher. Wie die Hüter einer Traumwelt warfen die Holzbläser Bedenken in den Raum. Es klang wie »Lass es sein … lass es sein, lass es sein, lass es sein …«.
Erst Englischhorn, dann Klarinette, Fagott und schließlich noch grummelnd, verstummend die Bassklarinette. Ihre Warnungen halfen nichts. Ich war bereit. Das Orchester und ich holten tief Luft, um zum großen Tutti anzuschwellen. Auf die Plätze, fertig, LOS:
»Bamm, bamm, bamm, bamm. Dadadiii Damm.«
Ich sang laut mit und schlug unisono mit den Fäusten auf mein Kopfkissen:
»Bamm, bamm, bamm, bamm. Ramtatiii Tamm.«
Die Pauke pfefferte mir ihre Schläge ins Gesicht.
»Badabaaaaa!«
Das Hauptthema bohrte sich durch meinen ganzen Körper und zog mich hinein in einen Strudel aus Monsterwellen und Warpantrieb und Gletschereis und Weltuntergang.
Ich hatte nichts als theoretische Vorstellungen davon, aber so in etwa musste sich Sex anfühlen. Zeit und Raum und Lust und Dasein und Totsein strömten zu einem gewaltigen Fluss zusammen und spülten mich willenlos vor die Füße von Tai.
Er stand barfuß mit seiner Kamera auf einer Lichtung und filmte zwei ineinander verknotete Schlangen. Die Holzbläser errichteten einen Bambuswald um ihn. Nebelschwaden zogen auf. Es roch nach Jasminreis und Zimt. Ich ging zu Tai und nahm ihm die Kamera aus der Hand. Statt der blöden Schlangen filmte ich ihn. Die Kamera schwebte wie von allein über seine schlanken Füße, seine Waden, über die von einer kurzen Hose bedeckten Oberschenkel, über den schmalen Spalt von blanker Haut, den das kurze Leinenhemd über seinem Hosenbund freigab und der wie ein Meer schimmerte, in dem ich gern ertrunken wäre. Tai schloss die Augen und ließ sich filmen. Kleine Härchen erwachten auf seiner Haut und stellten sich der Kamera entgegen. Aus seinem Nacken kam Wärme, die mich schwerelos machte. Ich wollte im Ganzen verdampfen, um in tausend Tröpfchen auf Tais Haut zu kondensieren.
Doch Rachmaninoff formierte seine Truppen erneut und rief mit höllenhaftem Krächzen des Englischhorns das Hauptthema zurück in den Wald. Erneut schlug ich in mein Kissen, erneut sang ich mir die Kehle aus dem Leib, erneut durchfuhr der gewaltige Orchesterapparat meinen jugendlichen Körper und brachte mit dem Knarzen der Bleche und dem Wirbeln der Pauken Verstand und Fleisch zum Bersten.
Völlig verausgabt sank ich auf meine Matratze nieder. Rachmaninoff hatte mich erlegt, und ich hatte es nicht anders gewollt.
Hämisch zogen Streicher und Holzbläser über meinen Leichnam hinweg, auf dem Weg zum Nächsten, der sie für seine Träume missbrauchen wollte.
Nach einigen Sekunden Ruhe kam ich zu mir. Ich hatte, ganz ohne meine Hände zu gebrauchen, in meine Bettwäsche kondensiert. Ein unbeschreibliches Gefühl.
Die Tür wurde aufgerissen. Mama steckte ihren Kopf in mein Zimmer.
»Das ist zu laut, Janni, das weißte doch.«
Ruckartig zog ich die Decke über den Kopf und versuchte unbeteiligt zu wirken. Meine Mutter trat ins Zimmer und näherte sich meinem Bett:
»Janni, was is’n los? Biste krank?«
Warum sind ausgerechnet Eltern die unsensibelsten aller Geschöpfe auf dieser Erde?
»Nein, Mama, dein Janni hat sich zu russischer Spätromantik einen von der Palme gewedelt, weil er dachte, dass du beim Zumba bist, und liegt deshalb nackig und vollgesifft unter seiner Bettdecke und möchte, dass du ganz schnell sein Zimmer verlässt!«
Es gibt ja Kinder, die mit ihren Eltern so sprechen können. Ich konnte das nie, und ich wollte auch nicht. Das Einzige, was ich in diesem Moment dringend wollte, war meine Ruhe. Mama setzte sich zu mir auf die Bettkante.
»Du bist ja ganz rot und außer Atem.«
Sie fasste mir auf die Stirn.
»Hast du Fieber?«
Ich schüttelte den Kopf und drehte mich zur Seite:
»Bin nur müde, Mama.«
Endlich stand sie auf.
»Ich mach dir mal ’nen Ingwertee, mein Hase, und lass dir ’ne warme Badewanne ein.«
Mama ging, ohne die Tür hinter sich zu schließen. Selbst Buckelwale sind einfühlsamer.
*
Mama versorgte mich mit Brühe, Tee und ihrer Anwesenheit. Anscheinend wollte sie ihren Feierabend partout nicht alleine verbringen.
Sie legte sich in meinen Sitzsack und wollte Musik hören. Das wollte sie nie! Sie wusste, dass sie sich mit dem Interesse an meiner Musik ein Bleiberecht in meinem Zimmer erkaufen konnte. Also legte ich auf. MC Jannik Schade an der Stereoanlage.
Gerade hatte ich Schönbergs zwölfdiatonischen KZ-Brecher Ein Überlebender aus Warschau aus dem Regal gefischt, da schob Mama noch mit großen braunen Rehaugen die Bitte hinterher, sie nicht allzu hart ranzunehmen.
»Denk dran, ich hatte einen langen Tag, Janni.«
Na gut. Ich wollte Mama ja tatsächlich etwas beibringen.
Irgendwie war die Klassische Musik an ihr vorübergegangen. ABBA mochte sie, die Beatles, Manne Krug … Da sprach ja auch grundsätzlich nichts dagegen. Trotzdem war mir vollkommen schleierhaft, wie auch nur ein halbwegs vernünftiger Mensch aus Mama hatte werden können, wo ihr doch die Werke von Mahler, Saint-Saëns oder Mussorgski nicht vertraut waren.
Ich musste geschickt vorgehen. Ein langsames Stück musste einem schnellen folgen, ein emotionales einem leichten. Mama durfte weder einschlafen noch überfordert werden. Außerdem musste sie durch kleine Anekdoten aus der Werkshistorie für die Dreh- und Angelpunkte im jeweiligen Stück sensibilisiert werden.
Ich begann mit Giovanni Bottesinis Elegie in D. Um die Musikstunde interaktiv zu gestalten, forderte ich sie auf, das Soloinstrument zu erraten. Wie ich erhofft hatte, tippte sie auf das Cello. Und schon waren wir im Gespräch. Bottesini gehört nämlich zu den ganz wenigen Komponisten, die im 19. Jahrhundert überhaupt Solowerke für den Kontrabass geschrieben haben.
Dieser freundlich nasalen Liebeskantilene des säuselnden Basses musste nun etwas mit größerem Wiedererkennungswert folgen. So brachte ich die Callas mit Madame Butterfly. Mama und mir schossen augenblicklich die Tränen in die Augen. Die kleine Cio-Cio-San wartete seit Jahren auf die Heimkehr ihres Mannes.
Ein japanisches Mädchen, das sich unsterblich in einen amerikanischen Marineoffizier verliebt und ihn überstürzt geheiratet hatte. Nun saß sie da. Allein, mit dem Kind, das er ihr gemacht hatte, und sang so herzzerreißend schön.
Ein bisschen erinnerte mich die Situation an Mama und mich. Auf Papa musste man auch immer warten. Immer und überall. Bisher war er stets wiedergekommen. Auch wenn die Tage seiner Anwesenheit nicht unbedingt angenehmer waren als die seines Fortbleibens. Papa hatte den nervigen Ehrgeiz, seinen über Jahre und Monate angewachsenen Erziehungsrückstand in den wenigen Tagen seiner Heimatbesuche aufzuholen. Das machte die Sache mit der bedingungslosen Vaterliebe schwer.
Mama kullerten die Tränen über die Augen. Maria Callas hatte wie immer den richtigen Tonfall getroffen. Jetzt brauchte ich, beziehungsweise Mama, etwas Aufmunterndes. Man darf die Gefühle der Frauen nicht endlos strapazieren. Sie werden sonst unberechenbar. Und irgendwie hatte der Abend gerade so schön begonnen. Ich entscheid mich für den Schneeflockenwalzer aus Tschaikowskis Nussknacker.
Tschaikowski hat die Kraft, mich glücklich zu machen. Es gibt da eine Seelenverwandtschaft. Ich kann es nicht erklären. Tschaikowski ist vielleicht mein bester Freund. Das klingt furchtbar seltsam, ich weiß. Tschaikowski ist über 120 Jahre tot und trotzdem verstehe ich mich besser mit ihm als mit allen anderen Menschen, Mama vielleicht ausgenommen.
Da ist hinter den Walzern und Tänzen, den eingängigen Melodien und kitschigen Geschichten eine verträumte, weltvergessene Melancholie, die mich genau da abholt, wo auch immer ich gerade stehe. Ich liebe ihn. Mama kann ich solche Sachen nicht wirklich sagen. Sie macht sich dann Sorgen um mich und bittet Papa, mir einen Platz im Wasserballteam zu organisieren, damit ich abnehme und Freunde finde.
Warum glauben Eltern, dass man dringend gleichaltrige Freunde braucht, um glücklich zu sein? Vielleicht brauche ich gar keine Freunde. Jedenfalls keine in meinem Alter. Auf Schule könnte ich komplett verzichten. Alles, was da kreucht und fleucht, kann mir gestohlen bleiben. Außer Tai. Aber das ist was anderes. Tai ist nicht von dieser Welt.
Mama war kurz vorm Einschlafen. Sie hatte die Augen geschlossen und begann geräuschvoll zu atmen. Ich ermahnte sie. Mama räusperte sich und gab vor zu genießen. Wir wussten beide, dass das nicht stimmte.
Ich musste ein Stück auswählen, dass sie bei Laune hielt. Ich spielte ihr Paganinis dämonisches 24. Capriccio in a-Moll vor, um dann einen Sprung durch die Epochen hin zu Rachmaninow zu unternehmen, der dieses Capriccio zum Thema seiner Paganinivariationen gemacht hatte. Die ersten Töne erklangen kraftvoll wie Glockenschläge, und schon regte es sich wieder in meiner Unterhose. Mein Gott, wann endet endlich diese Zeit, in der zu jeder unpassenden Gelegenheit ein Gruß aus der Lendenregion die Sinne...