Rangnick Lämmerweid
13001. Auflage 2013
ISBN: 978-3-8437-0350-5
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein neuer Fall für Robert Walcher
E-Book, Deutsch, Band 9, 368 Seiten
Reihe: Ein Robert-Walcher-Krimi
ISBN: 978-3-8437-0350-5
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Joachim Rangnick, geboren 1947, ist studierter Grafiker und lebt in Weingarten. Heute widmet er sich ganz dem Schreiben. In seinen Kriminalromanen bringt sich Journalist Robert Walcher im beschaulichen Allgäu immer wieder in höchste Gefahr.
Autoren/Hrsg.
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Schonauers Erbin
Einen solchen Ansturm von Kunden auf den Kräutergarten hatte Walcher nicht erwartet. Schonauers Hofraum war dicht zugeparkt, und auf der Wiese neben dem Kräutergarten standen ebenfalls Autos, wild durcheinander. Im Kräutergarten wuselte es wie in einem Ameisenhaufen. An der Verkaufstheke, ein Biertisch unter einem aufgespannten Sonnenschirm, hatte sich eine lange Schlange gebildet, von Menschen, die alle irgendwelche Pflanzen in Händen hielten. Walcher erkannte Elli Huizer trotz ihrer gewagten Arbeitskleidung wieder. Über die Haare hatte sie ein Kopftuch gewunden, wie es Landfrauen früher bei der Arbeit trugen. Unter dem verblichenen grün-grauen Anorak lugte eine geblümte Kittelschürze hervor. Ihre Beine steckten in braunen Lederhosen, die in abgeschnittenen Stiefeln mündeten.
Elli Huizer stand so offensichtlich unter Stress, dass Walcher zum Wagen zurückging, seine Kamera holte und sich zum Steinkreis aufmachte. Er wollte die Kupferplatten fotografieren. Vielleicht fielen ihm dann die Texte von den herausgerissenen Platten wieder ein.
Lange hatte er sich überlegt, ob er Nora und Rolli mitnehmen sollte, es dann aber gelassen. Es musste für die Hündin beängstigend und irritierend sein, auf dem Hof weder Schonauer noch Rufillus anzutreffen. Oder hatte sie verstanden, dass es Schonauer nicht mehr gab? War sie deshalb freiwillig von der Alpe mitgekommen? Es kam ja immer wieder vor, dass Hunde noch lange Zeit an dem Ort ausharrten, an dem ihr Besitzer gestorben war. Hoffnung oder Trauer – für Walcher stellte sich nicht die Frage, ob Tiere solche Gefühle empfinden konnten. Wer mit Tieren zusammenlebte und sich die Mühe machte, ihr Verhalten zu beobachten, wusste, dass sie zu den Menschen, bei denen sie lebten, eine Beziehung hatten.
Die Wiese hinauf zum Steinkreis hatte sich noch nicht von den Autoreifen der Polizei und ihrem Tross erholt. Am Steinkreis hielt er die Kamera wie ein Schutzschild vor die Augen. Es war gut, dass die Tafeln an den Steinen durch den Sucher der Kamera Distanz erhielten. Auch die drei leeren Flächen, an denen die Mörder Schonauer festgekettet hatten, wirkten durch den Sucher erfreulich normal. Wie Steine, in die jemand Dübellöcher gebohrt hatte. Trotzdem flackerte in der Erinnerung das schreckliche Bild auf, als Walcher die Kamera absetzte. Warum waren die Mörder das hohe Risiko eingegangen und hatten Schonauer von seiner Alpe geschleppt, um ihn hier an seinen Schandkreis anzuketten? Eine Warnung an Schonauers Freundeskreis? Aber vielleicht konstruierte er sich ja nur irgendeinen Ablauf zusammen. Vielleicht war Schonauer nicht auf der Alpe, sondern hier auf seinem Hof derart zugerichtet worden. Wie auch immer, eine derart brutale Demonstration von Gewalt und Macht schüchterte nicht nur Schonauers Sympathisanten ein, sie musste auch als eine unerhörte Provokation des Rechtsstaats verstanden werden. Walcher konnte sich nicht vorstellen, dass eine so grausam inszenierte Hinrichtung im Interesse der Verantwortlichen war, und die vermutete er in jenen Industriebereichen, die sich gerne als Saubermänner und Menschenfreunde präsentierten, angetreten, um den Hunger auf der Welt zu beseitigen und Wohlstand zu festigen. Oder handelte es sich nur um einen psychisch kranken Killer, der einen Tötungsauftrag nicht in aller Stille abwickelte, sondern als sein persönliches Schlachtfest gestaltet hatte? Gerne hätte er solche Fragen mit Kommissar Brunner diskutiert und vor allem dessen bisherige Ermittlungsergebnisse gekannt. Vielleicht sollte er doch, natürlich aus reinem Opportunismus, den Kontakt zu Brunner suchen.
Nach den Aufnahmen schlenderte Walcher in einem großen Bogen zurück, vorbei an der Rückseite des Stalls. Eigentlich hatte er erwartet, den Traktor dort zu sehen, aber auf der Wiese hinter dem Stall standen nur eine Handvoll Kühe herum, die ihn neugierig beobachteten. Kurz nur, dann wandten sich die Tiere wieder ihrer unaufgeregten Futteraufnahme zu.
Bis Elli Huizer den Kräutergarten schloss und ihm bedeutete, dass sie sehr wohl seine Anwesenheit registriert hatte, dauerte es dann noch eine gute Stunde, die Walcher damit verbrachte, sich unter die letzten Kunden zu mischen und fünf unterschiedliche Minze-Sorten einzupacken, mit denen er nun an die Verkaufstheke kam und bezahlte. Es dauerte dann noch einmal seine Zeit, bis die beiden auf der Bank neben dem Hauseingang saßen.
Elli Huizer kam ohne Umschweife zur Sache, nämlich auf die Hündin Nora. Sie habe einen berechtigten Anspruch auf Nora, sie wüsste nämlich, was in Schonauers Testament stand, das in den nächsten Tagen offiziell verlesen würde, erklärte sie. Schonauer habe das Testament in ihrer Anwesenheit geschrieben. Rufillus und sie waren als gleichberechtigte Erben eingesetzt. Verwandtschaft gäbe es nur noch sehr weitläufige, außerhalb der direkten Erbfolge. Andererseits habe sie ja schon beobachten können, wie gern Nora mit ihm und seinem Hund offensichtlich zusammen war. Vielleicht sollte man deswegen die beiden nicht schon wieder trennen. Sie könnte sich auch an den Futterkosten beteiligen, bot sie an.
Walcher hatte ihr gespannt zugehört. Eine selbstbewusste Frau, die ohne Schnörkel sagte, was sie dachte.
»Warum haben Sie Nora nicht gleich mit hinuntergenommen?«
Elli Huizer zuckte mit den Achseln und wollte erst einmal wissen, ob es ihm etwas ausmachte, wenn sie sich duzten. Das sei einfach unkomplizierter als das gestelzte Sie, stellte sie fest und lächelte kurz, als Walcher Zustimmung nickte.
»Also, drei Tage nachdem wir uns dort oben begegnet sind, war ich wieder oben. Georg war nicht da, Nora in der Küche eingesperrt. Sie war völlig durchgedreht. Jagte davon, kreuz und quer immer an der Steilwand entlang. Ich konnte sie nicht beruhigen. Im Gegenteil, sie knurrte mich an, als ich ihr ein Halsband anlegen wollte. Dann habe ich Georg gesucht, bin dort oben den ganzen Tag herumgestiefelt, auch von unten an die Steilwand, und hab mich heiser gebrüllt … Die Nacht über bin ich oben geblieben …«
Elli betrachtete ihre schmutzigen Hände, hielt sie ihm hin und stellte fest: »Ich geh schnell ins Haus, magst auch einen Kaffee?«
Zehn Minuten später kam sie mit zwei großen dampfenden Tassen zurück. Sie waren aber Gott sei Dank nur halb gefüllt, denn der Kaffee schmeckte stark und bitter, wie ein Spritzmittel gegen Blattläuse. Vorsichtig schlürfte Walcher nur winzige Schlückchen und hätte Elli gerne um Wasser gebeten, doch er befürchtete, sie dadurch wieder zu unterbrechen. Elli Huizer hatte nämlich zu erzählen begonnen, kaum dass sie sich gesetzt hatte.
»Es war eine schreckliche Nacht. Ich wusste, dass Georg etwas passiert war. Man ist den eigenen Gedanken so furchtbar hilflos ausgeliefert, dass man die Wahrheit geradezu herbeisehnt, egal, wie sie aussieht. Du hast ihn dort oben gefunden.«
Elli deutete zum Steinkreis hinauf. Ihre Frage war mehr eine Feststellung, trotzdem nickte Walcher.
»Ich durfte ihn nicht sehen, bin ja nicht verwandt oder verheiratet mit ihm. Ein Polizist hat nur g’sagt, dass er übel zug’richt war … Würdest du … Ist mir sehr wichtig.«
Walcher konnte ihren unausgesprochenen Wunsch verstehen, nahm einen Schluck von dem schwarzen Gift und überlegte dabei, wie genau er Schonauers Zustand beschreiben sollte. »Ist das wirklich so wichtig für dich?«
»Ich glaub, ja …«, nickte Elli mehrmals, »ich muss die Mörder richtig hassen können, sonst erstick ich an meiner Trauer.«
Das war deutlich und verständlich, wenngleich Hass sicher keine besonders hilfreiche Therapie darstellte. Aber ihm stand nicht zu, das zu bewerten oder sich als Therapeut aufzuspielen.
»Hast du schon mal jemanden gesehen, der beim Bergsteigen abgestürzt ist?«, begann er vorsichtig und sah sie von der Seite an. Sie nickte nur und presste die Lippen fest zusammen. Er beschrieb Schonauers Zustand mit einem weiteren Bild aus den Bergen. Von einer Steilwand, die wie eine Riesenraspel wirkte, und dass am Ende nicht mehr viel von einem Menschen übrig blieb, was noch gut aussah. Sie würde es sich vorstellen können, hoffte er, ohne weitere Details erzählen zu müssen. Aber Elli Huizer fasste nach, sie wollte es genau wissen.
»Brauchst keine Rücksicht zu nehmen. Beschreib ihn mir. Welche Wunden hat er im Gesicht gehabt, war sein Genick gebrochen, die Arme noch dran und die Hände? Versteh doch, ich muss alles wissen!«
Nach einem tiefen Seufzer schüttelte Walcher den Kopf. »Besorg dir den Obduktionsbericht. Ich habe nur kurz hingesehen. Er sah einfach schrecklich aus. Nur auf den Zitronenfalter hab ich mich konzentriert, der auf seinen Kopf geflogen war, und die leeren Stellen auf den Steinen hab ich angeschaut, an die man ihn gekettet hat. Ich wollte es nicht so genau wissen. Schonauer ist ermordet worden, wahrscheinlich hat man ihn die Steilwand hinuntergestoßen, das muss dir doch genügen für deine Wut auf die Mörder.«
Ein paar Sekunden starrte Elli vor sich hin, bevor sie sich entspannte und tief einatmete. »Vielleicht hast du recht.«
»Ich hab vorhin die Tafeln da am Schandkreis fotografiert. Bin mir aber nicht sicher, dass ich zusammenbring, was auf den dreien stand, die sie herausgerissen haben. Hast du die Texte noch im Kopf? Es könnte wichtig sein und Hinweise geben, aus welchen Bereichen die Auftraggeber stammen.«
Elli zuckte mit den Schultern: »Ist mir nicht aufgefallen, dass dort oben etwas fehlt … Bin nur einmal herumgegangen.« Sie überlegte, stand auf, ging ins Haus und kam mit einem Schnellhefter in der Hand zurück. Es war einer aus dünnem Karton in einem sonnengebleichten Grün, schon recht abgegriffen, mehrmals beschriftet und mit einem Metallstreifen im gefalteten Bund. Einer, wie man sie nur noch auf Flohmärkten oder...