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E-Book, Deutsch, 160 Seiten

Ramuz Derborence


2. Aufl
ISBN: 978-3-03855-085-3
Verlag: Limmat Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 160 Seiten

ISBN: 978-3-03855-085-3
Verlag: Limmat Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



"Frau", sagte er, "Frau, nimm dich in Acht. Sie sehen aus wie Körper, aber es ist nichts darunter. Bleib nur eine Nacht bei mir in der Hütte, unter dem Fels, wenn du sie hören und sehen willst. Ich habe sie gehört und gesehen; weiss sind sie, leer sind sie, und sie gehen umher und klagen; sie machen Töne, wie der Wind am Kamm eines Steinblocks, wie wenn ein Kiesel rollt auf dem Grund des Bachs." Und nun stand sie auch still, und er hob die Hand: "Weisst du, wie das heisst, da oben?. Ja, dort, siehst du, der Kamm und der Einschnitt darin. D.I.A. er hat es fertig gebracht, diesmal." Er nickte mit dem Kopf. "Und der, den du suchst, hör auf mich, der ist so falsch wie die andern. Er wagt sich nur weiter vor, darum ist er herabgekommen, aber er will dich bloss täuschen. Er will, dass du tot bist, damit er dich haben kann." Und er sagt: "Ah!, denn er kennt die schlimmen Stellen! Das ist hier voll von Löchern, zwischen den Felsblöcken, voll von Steinen, die umkippen; voller Falten und Spalten. Geh nicht, Thérèse, geh nicht!"

Charles-Ferdinand Ramuz wurde am 24. September 1878 in Lausanne geboren; sein Vater hatte ein Kolonialwarengeschäft und war später Weinhändler. Nach dem Collège classique besuchte Ramuz das Gymnasium und liess sich 1896 in der philosophischen Fakultät einschreiben. Ein Aufenthalt in Karlsruhe hinterliess wenig Erinnerungen, dafür den Entschluss, Dichter zu werden. Nicht ohne Schwierigkeiten erhielt er vom Vater die Erlaubnis, seine Studien in Paris fortzusetzen, um eine Doktorarbeit über den Dichter Maurice de Guérin zu schreiben. Daraus wurde nichts, dafür fand er sich in Paris als Dichter. Mehr als zehn Jahre verbrachte er - mit längeren Unterbrüchen - in Paris. Dort lernte er auch seine Frau kennen, die Malerin Cécile Cellier. Im Krieg lernte er Igor Strawinsky kennen; aus ihrer Zusammenarbeit entstand die "Histoire du Soldat". Hanno Helbling 1930-2005, geboren in Zuoz, Engadin. Schulen und Studium in Zürich, Promotion in Geschichte, Deutscher Literatur und Vergleichender Literaturgeschichte 1953. Weitere Studien in Neapel, München, Rom bis 1956. Verlagslektor in Zürich bis 1958. Redaktor der Neuen Zürcher Zeitung von 1958 bis 1995; Leiter der Feuilletonredaktion von 1973 bis 1992. Seit 1994 in Rom. Übersetzungen, vorwiegend lyrischer Texte, aus dem Französischen (Charles Ferdinand Ramuz, Benjamin Constant, Marcel Proust), Englischen (William Shakespeare, W. H. Auden) und Italienischen (Giacomo Leopardi, Eugenio Montale, Giuseppe Ungaretti, Giorgio Caproni, Mario Luzi, Dino Campana, Fabio Pusterla).

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I
Er hielt einen langen Stecken, der am Ende schwarz geworden war, er stieß ihn dann und wann ins Feuer, seine andere Hand lag auf dem linken Schenkel. Das war am 22. Juni, gegen neun Uhr am Abend. Er ließ Funken aus dem Feuer auffliegen mit seinem Stecken; sie blieben an der rußbedeckten Wand hängen und leuchteten dort wie Sterne an einem schwarzen Himmel. Dann konnte man ihn für einen Augenblick besser sehen, den Séraphin, während er seinen Schürstock ruhen ließ; und man sah den andern Mann besser, ihm gegenüber, viel jünger war er, hatte die Arme auch auf die angezogenen Knie gestützt, hielt den Kopf gesenkt. «Also», sagte Séraphin, «ich sehe schon … Die Zeit wird dir lang. Dabei sind wir noch nicht lang hier.» Sie waren gegen den 15. Juni heraufgekommen, mit denen von Aïre und einer oder zwei Familien aus einem Nachbardorf von Aïre, welches Premier heißt: Das war wirklich erst ein paar Tage her. Séraphin fing wieder an, die Gluten zu schüren, in die er einen, zwei Tannenäste geworfen hatte; und die Tannen­äste fingen Feuer, sie brannten so hell, dass man die zwei Männer ganz deutlich sehen konnte, wie sie sich gegenübersaßen, zu beiden Seiten des Herds, jeder am Ende seiner Bank: der eine schon bejahrt, dürr, ziemlich groß, mit kleinen hellen Augen, welche tief in Höhlen ohne Brauen lagen, unter einem alten Filzhut; der andere viel jünger, zwischen zwanzig und fünfundzwanzig, in weißem Hemd und brauner Jacke, mit einem kleinen schwarzen Schnurrbart und mit schwarzen, kurz geschnittenen Haaren. «Komm schon», sagte Séraphin … «Wie wenn du am anderen Ende der Welt wärst … Wie wenn du sie nie mehr sehn würdest …» Er wiegte den Kopf, er schwieg. Denn Antoine war erst seit zwei Monaten verheiratet, und man muss gleich wissen, dass diese Heirat nicht ohne Mühe zustande gekommen war. Als Waisenknabe war er dreizehnjährig zu einer Familie des Dorfs in Dienst gegeben worden; dagegen war das Mädchen, das er liebte, begütert. Und lange hatte ihre Mutter nichts von einem Schwiegersohn hören wollen, der nicht seinen rechten Teil zu dem Haushalt einbringen würde. Lange hatte die alte Philomène den Kopf geschüttelt, «Nein!» gesagt und «Nein!» und wieder «Nein!». Was wäre wohl geschehen, wenn Séraphin nicht gewesen wäre, nämlich ganz an der rechten Stelle, damit seine Meinung wichtig und sogar sehr wichtig war? Denn er war Philomènes Bruder, die den Maye geheiratet hatte und verwitwet war, und als Junggeselle verwaltete er den Besitz der Schwes­ter. Nun hatte Séraphin für Antoine Partei ergriffen; er hatte sich schließlich durchgesetzt. Die Heirat war im April gewesen; und jetzt waren Séraphin und Antoine, wie man sagt, zu Berg gegangen. Es ist bei den Leuten von Aïre der Brauch, dass sie mit ihrem Vieh gegen den 15. Juni hinaufziehen zu den Alpweiden; eine von ihnen ist die Weide von Derborence, wo sie eben an jenem Abend waren – Séraphin hatte Antoine mit sich genommen, um ihm alles zu zeigen, denn seine Kräfte ließen nach. Er hinkte, er hatte ein steifes Bein. Und da sich das Rheuma vor kurzem auf seine linke Achsel geworfen hatte, begann auch die, ihren Dienst zu verweigern; so wurde es mühsam auf alle Weise, denn die Arbeit lässt sich nicht aufschieben in diesen Berghütten, wo man zweimal am Tag das Vieh melken und jeden Tag Butter und Käse bereiten muss. So hatte Séraphin den Antoine mit heraufgenommen und gehofft, er werde bald imstande sein, ihn zu ersetzen: Aber nun sah er, dass Antoine bei diesen Verrichtungen, die ihm neu waren, nicht anbeißen wollte (wie man so sagt) und dass er Heimweh hatte nach seiner Frau. «Nun komm schon», fing er wieder an, «geht's denn nicht besser? Ist es denn so schrecklich, ungefähr noch drei, vier Tage lang mit mir zusammen zu sein, und dann hast du sie wieder?» Er dachte nicht an sich, er dachte nur an Antoine. Und zu Antoine redete er an dem Abend noch einmal, an diesem 22. Juni, gegen neun Uhr; und da die Flamme sich wieder zu senken begann, gibt er ihr neue Nahrung und macht sie mit ein paar Tannenästen wieder lebendig. «Oh, gewiss nicht», sagt Antoine. Das war alles; er verstummte wieder. Und in diesem Augenblick, Séraphin schwieg nun auch, hörten sie um sich her etwas wachsen, das unmenschlich war und auf die Dauer nicht zu ertragen: die Stille. Die Stille des Hochgebirges, die Stille dieser verlassenen Zonen, wo der Mensch nur zeitweise auftaucht; da muss einer nur zufällig selber still sein, so kann er lang hinhorchen, er hört nur, dass er nichts hört. So konnte man jetzt lang horchen: es war, als gäbe es nirgend mehr etwas zwischen uns und dem anderen Ende der Welt, zwischen uns und dem Himmelsgrund. Nichts, das leere Nichts, die vollkommene Leere, alles hört auf zu sein, als wäre die Welt noch gar nicht erschaffen, oder sie wäre nicht mehr, als stünde man vor dem Anfang der Welt oder hinter dem Weltuntergang. Und die Angst kommt, sie zieht in unsere Brust ein, und da ist es, wie wenn eine Hand sich um unser Herz schließt. Zum Glück beginnt das Feuer wieder zu knistern, oder ein Wassertropfen fällt herab, oder ein Wind streicht über das Dach. Und das leiseste Geräusch ist wie ein sehr lautes Geräusch. Der Tropfen fällt und hallt wider. Der Ast, den die Flamme verzehrt, kracht wie ein Gewehrschuss; das Streichen des Windes füllt ganz allein den Raum aus. Allerlei kleine Geräusche, die groß sind; da wird man selber wieder lebendig, weil sie selber lebendig sind. «Komm schon, komm schon!», begann Séraphin wieder. Das Feuer kracht von neuem: «Du gehst am Samstag hinunter … Du verbringst den Sonntag mit ihr …» «Und Ihr?» «Oh, ich!», sagt Séraphin … «Ich bin es gewohnt, allein zu sein. Sorg dich nicht um mich.» Er lächelt in seinen Bart, der fast weiß war, dabei war der Schnurrbart noch schwarz; gegen neun Uhr am Abend war das, am 22. Juni, in Derborence, in Philomènes Hütte, wo die zwei Männer am Feuer saßen. Im Dachwerk knackte es dann und wann. «Du kommst zurück, wann du willst; ich kann mir immer behelfen. Und wenn du zurückkommst, ist immer noch jemand bei dir.» Er lächelte in den weißen Bart, er hielt seine kleinen grauen Augen auf Antoine gerichtet: «Oder zähle ich etwa nicht?» «Redet nicht so», sagt Antoine. «Also kann man sich doch gut leiden?» «Aber sicher», sagt Antoine. «Was willst du noch mehr?» Noch einmal knackt etwas im Dachwerk, das aus Balken und großen flachen Steinen gemacht war, es stieg schräg über ihnen auf, nur in einer Richtung, denn die Hütte stand an einen Felsvorsprung gelehnt, der die Rückwand ersetzte. «Dann ist das abgemacht für den Samstag … Das sind nur noch drei Tage …» Etwas knackt im Dachwerk: denn die Schieferplatten sind tagsüber der Sonne ausgesetzt und dehnen sich stark in der Hitze; wenn dann der Abend kommt, ziehen sie sich in der Kälte zusammen, machen plötzliche, vereinzelte Bewegungen, als ob einer auf dem Dach umherginge. Ein Schritt, den einer droben sehr bedachtsam setzt, dann macht er Halt: wie wenn ein Dieb ganz sicher sein will, dass ihn keiner gehört hat, bevor er sich weiter vorwagt. Es knackte, knackte nicht mehr; und sie, unter dem Dachwerk, das wieder still war, sahen einander, dann sahen sie sich nicht mehr. Die Flamme steigt auf, die Flamme sinkt wieder zurück. Doch in diesem Augenblick hatte ein neues Geräusch sich gemeldet, und Antoine hob den Kopf. Das war nicht mehr das Dach, das knackte; ein viel dumpferer Ton war das, einer, der aus den Tiefen des Raums kam. Man hätte ihn für einen Donner halten können, dem ein scharfes Krachen vorangegangen war; und nun rollte er über ihnen fort durch den Raum. Séraphin lächelte. Er sagt: «Ah!, da fangen sie wieder an …» «Wer denn?» «Ja hast du denn nichts gehört in den letzten Nächten? Sei froh, du hast einen guten Schlaf … Und dann», fährt Séraphin fort, «kennst du dich auch in der Nachbarschaft hier noch nicht aus. Dabei müsstest du nur daran denken, wie der Berg heißt … Der Kamm, ja, wo der Gletscher ist … Die Diablerets …» Das Getöse erstarb allmählich, wurde sehr leise, fast unhörbar, wie wenn ein leichter Wind die Blätter der Bäume bewegt. «Du weißt doch, was man sich erzählt. Dass er dort oben wohnt, auf dem Gletscher, mit seiner Frau und den Kindern.» Das Tosen war jetzt ganz verstummt. «Da kommt es vor, dass er sich langweilt, und er sagt zu seinen Teufelchen: ‹Nehmt Wurfsteine.› Das ist dort oben auf der Platte, am Rand des Gletschers, dort wo der ‹Kegel› ist, du weißt doch, eben der Kegel des Teufels … Das ist ein Spiel, das sie machen. Sie zielen mit ihren Wurfsteinen auf den Kegel. Ah!, mit schönen Steinen, sag ich dir, mit Edelsteinen … Blau sind die, grün, durchsichtig … Ich kann davon erzählen. Denn es kommt vor, dass die Wurfsteine den Kegel verfehlen, und du kannst dir denken, wo sie dann hingehn, ihre Geschosse. Was kommt nach dem Gletscherrand, auf unserer Seite? Die Wurfsteine können nur noch fallen. Und manchmal sieht man sie fallen, wenn der Mond scheint, und gerade jetzt scheint der Mond …» Er sagt: «Willst du kommen und sehn? …» War Antoine unruhig?, das weiß man nicht, aber neugierig war er. Séraphin war aufgestanden, er steht auch auf. Séraphin geht voraus. Séraphin macht die Tür auf. Wirklich schien der Mond ganz hell; sein Licht liegt weiß und glänzend vor ihnen auf dem festgetretenen Boden. Ein Wiesengrund...



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