E-Book, Deutsch, Band 1, 320 Seiten
Reihe: Die Lügenhaus-Serie
Ragde Das Lügenhaus
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-641-14699-3
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, Band 1, 320 Seiten
Reihe: Die Lügenhaus-Serie
ISBN: 978-3-641-14699-3
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Drei Generationen, drei Männer, ein dunkles Geheimnis.
Trondheim in Norwegen: Als die Bäuerin Anna nach einem Schlaganfall im Sterben liegt, kommt die Familie nach Jahrzehnten erstmals wieder zusammen. Tor, der älteste Sohn, der den Hof übernommen hat und eine Schweinezucht betreibt, verständigt nicht nur seine beiden Brüder - Margido, der vor Jahren den Kontakt zum Elternhaus abgebrochen und sich als Bestattungsunternehmer selbstständig gemacht hat, und Erlend, der mit seinem Lebensgefährten als Schaufensterdekorateur in Kopenhagen lebt -, sondern auch seine Tochter Torunn, die er nur ein einziges Mal gesehen und vor seiner Familie verheimlicht hat. Nun, am Sterbebett der Mutter, hält ausgerechnet der unscheinbare Vater eine riesige Überraschung bereit, die das bisherige Leben in Frage stellt ...
Ausgezeichnet mit dem norwegischen Buchhandelspreis.
Anne B. Ragde wurde 1957 im westnorwegischen Hardanger geboren. Sie ist eine der beliebtesten und erfolgreichsten Autorinnen Norwegens und wurde mehrfach ausgezeichnet. Mit ihren Romanen 'Das Lügenhaus', 'Einsiedlerkrebse' und 'Hitzewelle' gelang ihr einer der größten norwegischen Bucherfolge aller Zeiten. Nachdem Anne B. Ragde zunächst angekündigt hatte, die Lügenhaus-Serie nicht weiterzuschreiben, erscheint nach 'Sonntags in Trondheim' und 'Die Liebhaber' mit 'Rückkehr' das große Finale der auch in Deutschland gefeierten Buchserie.
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Als an einem Sonntagabend um halb elf das Telefon schellte, wusste er natürlich, was los war. Er griff nach der Fernbedienung und drehte den Fernseher leiser, über den Bildschirm flimmerte eine Reportage über Al-Quaida.
»Hallo, hier spricht Margido Neshov.«
Und er dachte: Ich hoffe, da ist ein alter Mensch in seinem Bett gestorben, ich hoffe, es ist kein Verkehrsunfall.
Es war jedoch keins von beiden, sondern ein Junge, der sich erhängt hatte. Der Vater rief an, Lars Kotum, Margido wusste genau, wo in Byneset der große Kotumhof lag.
Im Hintergrund hörte er laute Schreie, tierisch, schrill. Schreie, mit denen er in gewisser Weise vertraut war, die Schreie einer Mutter. Er fragte, ob der Vater bereits Polizei und Ärztin verständigt habe. Nein, der Vater hatte sofort Margido angerufen, er wusste, wer Margido war und welchen Beruf er ausübte.
»Du musst auch Polizei und Ärztin anrufen, oder soll ich das tun?«
»Er hat sich nicht ... auf normale Weise erhängt. Er hat sich eher ... erwürgt. Es ist einfach entsetzlich. Ruf du an. Und komm. Bitte, komm.«
Er nahm nicht den schwarzen Leichenwagen, sondern den Citroën. Sollte doch die Polizei einen Krankenwagen kommen lassen.
Er rief von unterwegs an, während die Autoheizung wütend gegen die Windschutzscheibe blies, er musste rufen, um das Rauschen zu übertönen, es waren viele Grade unter null an diesem dritten Adventssonntag. Er erreichte Polizei und Ärztin, die Sonntagabende waren immer ruhig. An diesem kalten, stillen Abend würde es auf einem Hof bald schwarz vor Autos sein, die Leute von den Nachbarhöfen würden sich zu den Fenstern vorbeugen und sich wundern. Sie würden den Krankenwagen sehen, die Wagen von Polizei und Ärztin und einen weißen Citroën CX, einen Kombi, den einige von ihnen vielleicht erkennen würden. Sie würden Licht hinter den Fenstern sehen, wenn es sonst schon längst dunkel dort war, aber sie würden es nicht wagen, so spät noch anzurufen, sie würden bis tief in die Nacht hinein wach liegen und leise in der Dunkelheit über alles reden, was auf dem Nachbarhof passiert sein könnte und wem, und insgeheim würden sie eine beschämte Freude verspüren, dass nicht sie betroffen waren.
Der Vater empfing ihn in der Tür. Polizei und Ärztin waren schon da, sie hatten einen kürzeren Weg. Sie saßen in der Küche, vor ihren Kaffeetassen, und die Mutter stand da, mit glotzendem, kohlschwarzem Blick und trockenen Augen. Margido stellte sich ihr vor, obwohl er wusste, dass sie ihn erkannt hatte. Sie hatten sich jedoch noch nie die Hand gereicht.
»Dass du herkommen musst. Du. Seinetwegen«, sagte sie. Ihr Tonfall war monoton, ihre Stimme klang ein wenig heiser.
Ein Adventsgesteck mit elektrischen Kerzen stand vor dem Fenster, das auf den Hofplatz hinausblickte. Der Dorfpolizist erhob sich und lief vor Margido her zum Schlafzimmer. Die Ärztin ging vor die Tür, als ihr Telefon schellte. Ein gelber Papierstern, in dem eine Glühbirne saß, hing vor einem kleinen Fenster auf dem Flur, das elektrische Licht durchdrang die Löcher im Papier, das in der Mitte hellgelb war und sich zu den Zackenspitzen hin orange färbte. Der Vater blieb in der Küche. Er starrte aus dem Fenster und schien sich nicht um die Mutter des Jungen kümmern zu wollen, die einfach nur dasaß, plötzlich gleichgültig, die Hände in den Schoß gelegt, die Füße auf den Boden gestellt, die Tassen vor sich auf dem Tisch, das Ticken der Uhr, die Rechnungen im Regal, die Kühe im Stall, der Mann am Fenster, das Wetter und die Minusgrade, die Weihnachtsbäckerei, die Tage, die kommen würden, ganz von selbst. Sie saß da und war nur überrascht, dass sie weiteratmete, dass ihre Lunge sich von selbst bewegte. Sie wusste noch nicht, was Trauer ist, sie saß nur da und war ehrlich überrascht, dass die Uhr immer noch tickte.
Margido registrierte das alles. Woher sollte er wissen, wie es ist, einen Sohn zu verlieren, er wusste ja nicht einmal, wie es ist, einen zu bekommen. Außerdem konnte er sich keine Gefühle erlauben, seine Aufgabe bestand darin zu erfassen, wie die Gefühle der Hinterbliebenen zum Ausdruck kamen, damit er sie dazu bringen konnte, sich um die praktischen Dinge zu kümmern. Das Mitgefühl und die Trauer, die sich hinter seiner Professionalität verbargen, versuchte er immer dadurch zu zeigen, dass er genau tat, was die Hinterbliebenen von ihm wünschten und erwarteten.
Er war nicht auf den Anblick vorbereitet, obwohl der Vater ja gesagt hatte, der Junge habe sich nicht auf normale Weise erhängt. Der Vater hatte sicher an ein an der Decke befestigtes Seil gedacht, an einen umgekippten Stuhl auf dem Boden, an eine Leiche, die sich langsam um ihre eigene Achse drehte oder ganz ruhig dahing. Das klassische Szenario, das alle im Film gesehen hatten, in allen Details, abgesehen von den Exkrementen, die am Hosenbein entlangliefen und auf dem Boden eine Lache bildeten. So war es nicht, der Junge hing nicht hoch und frei da. Er lag vornübergebeugt auf Knien im Bett, fast nackt, bekleidet nur mit weinroten Boxershorts. Das Seil war um den Bettpfosten gewickelt und zog sich schräg von seinem Nacken hin aufwärts. Sein Gesicht war blassblau, seine Augen aufgerissen, die Zunge hing trocken und geschwollen zwischen seinen Lippen. Der Dorfpolizist hatte die Tür hinter ihnen geschlossen und sagte jetzt: »Er hätte sich die Sache jederzeit anders überlegen können.«
Margido nickte, ohne den Blick von der Leiche abzuwenden.
»Wie lange bist du schon in der Branche?«, fragte der Dorfpolizist.
»Fast dreißig Jahre.«
»Hast du so etwas schon einmal gesehen?«
»Ja.«
»Hast du Schlimmeres gesehen?«
»Vielleicht einmal ein Mädchen an einer Tür. Es war nicht weit genug zum Boden, sie hatte die Knie an den Brustkasten gezogen.«
»Oh verdammt. Dann wollen sie es wirklich.«
»Das tun sie. Sehen keine andere Lösung. Sind wohl zu jung, um eine andere Lösung zu sehen, die Armen.«
Er hatte gelogen, er hatte diese Variante von Selbstmord noch nie gesehen, aber er musste blasierte Ruhe vortäuschen, dann arbeitete er am besten, hatte seine Ruhe und wurde als Fachmann wahrgenommen, und nur als das. Ja, oft wurde von ihm eine größere professionelle Distanz erwartet als zum Beispiel von Polizisten. Man ging wohl davon aus, dass er nicht vom Tod berührt wurde, da er jeden Tag damit zu tun hatte. Er hatte schon mehrere Male zusammen mit Krankenwagenbesatzung und Polizei Körperteile vom Asphalt aufgelesen, und den anderen war krisenpsychiatrische Betreuung angeboten worden, ihm aber nicht.
Er musterte den Jungen. Auch wenn der Anblick ihn schockte, war er doch auf makabere Weise davon beeindruckt, dass ein Junge sich einfach im Bett vorbeugt und sein Gewicht auf Knie und Oberschenkel legt, das Seil auf Adern und Nervenzentren drücken lässt und auf die Finsternis wartet. Und wenn die Finsternis dann einsetzt, zuerst in Form von roten Flecken vor den Augen, dann stemmt er nicht die Hände auf die Matratze, um sich wieder aufzurichten. Er tut es nicht. Er schafft es, das nicht zu tun. Er hat sich entschieden.
»Ich habe von einer Art Sexspiel gelesen«, flüsterte der Polizist und trat von einem Bein auf das andere.
Margido warf ihm einen kurzen Blick zu, dann sah er wieder die Leiche an.
»Ich verstehe nicht, was du meinst«, sagte er.
»Es geht darum, fast erwürgt zu werden, ehe du ...«
»Er trägt doch eine Unterhose.«
»Ja. Du hast recht. Ist mir nur so eingefallen. Der ganze Fall ist klar. Absolut kein Verdacht auf ... irgendetwas Kriminelles. Er hat auch einen Brief hinterlassen. Nur eine Zeile, eine Entschuldigung. Die Eltern waren auf der Nachfeier eines frischverheirateten Paars. Der Junge wusste, dass er mehrere Stunden Zeit haben würde. Er hätte eigentlich mitkommen sollen. Er ist der Jüngste. Sie haben zwei Mädchen, die eine studiert in Trondheim irgendeinen unnützen Hokuspokus, die andere geht zum Glück auf die Landwirtschaftsschule. Aber der hier ... Yngve, hat noch zu Hause gewohnt, wusste nicht so recht, was er wollte. Ich hab ihn oft mit dem Fernglas über der Schulter nach Gaulosen fahren sehen, er wollte Vögel beobachten, hier machen doch verdammt viele Vogelarten Zwischenlandung, weißt du. Aber für den Vater muss es ein Problem gewesen sein, einen Vogelgucker zum Sohn zu haben, wo auf einem Hof doch immer so viel zu tun ist, auch wenn ja nicht Yngve der Anerbe war. Aber sich aufzuhängen, auf Knien! Das tut doch verdammt noch mal kein normaler Mensch...«
Margido holte aus dem Auto den Behälter für Sondermüll. Der Krankenwagen war noch nicht gekommen. Die Ärztin saß mit den Eltern in der Küche. Er hörte die Stimmen, als er auf dem Rückweg an der offenen Tür vorbeikam. Sätze mit wenigen Wörtern, gefolgt von langen Pausen. Die Ärztin kam hinter ihm her ins Schlafzimmer, zog die Tür zu.
»Wir dürfen ihn losschneiden«, sagte der Polizist. Die Ärztin hatte eine Schere geliehen, so eine mit Handgriffen aus orangem Kunststoff, und reichte sie dem Polizisten. Er schnitt. Der Kopf fiel auf die Bettdecke. Margido band das Seilende vom Bettpfosten.
»Der Krankenwagen kann jeden Moment hier sein«, sagte der Polizist. »Du erledigst den Rest? Morgen im Krankenhaus?«
»Natürlich«, sagte Margido.
»Ja, für diesen Patienten kann ich jedenfalls nichts mehr tun«, sagte die Ärztin.
Margido stutzte, weil von der Ärztin überhaupt kein mitfühlender Kommentar kam. Sie war zwar Ärztin, aber doch auch eine Frau. Sie redete, als ob sie jeden Tag Knaben fand, die im eigenen Bett auf Knien gestorben...