Wie der Dichter in Frankreich dem Tod entging
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-8393-2143-0
Verlag: BeBra Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Gabriele Radecke und Robert Rauh erzählen den spektakulären Fall aus zwei Perspektiven: Fontanes dramatische Odyssee durch Frankreichs Festungen und die verzweifelten Rettungsbemühungen seiner Freunde in Berlin. Dabei nehmen sie den Leser nicht nur mit zu den Originalschauplätzen, sondern decken anhand unbekannter Notizen, Briefe und Dokumente auf, was Fontane in seinem autobiografischen Buch "Kriegsgefangen" verschweigt.
"Die Fontane-Experten Gabriele Radecke und Robert Rauh schöpfen aus dem Vollen. Und erwecken in ihren Büchern Fontane zu neuem Leben."
der tagesspiegel
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ABERMALS EIN KRIEGSBUCH
Zwischen den Fronten
Wellen in Warnemünde
Es sollte ein entspannter Urlaub werden. Im Juli 1870 befand sich Theodor Fontane zur Sommerfrische an der Ostsee, bevor der Fünfzigjährige Mitte August bei der Vossischen Zeitung seine neue Stelle als Theaterkritiker antreten würde.[1] Zusammen mit seiner Frau Emilie und zwei seiner Söhne, dem dreizehnjährigen Theodor und dem sechsjährigen Friedrich, hielt er sich seit dem 12. Juli in Warnemünde auf.[2] Doch das Urlaubsidyll war von Anfang an getrübt. An der Ostseeküste tobten Sturm und Regen.[3] Und in Europa kündigte sich ein neuer Krieg an. Die Kandidatur des katholischen Erbprinzen Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen für die vakante spanische Krone hatte einen Konflikt zwischen Frankreich und Preußen ausgelöst, den der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck zu verschärfen verstand. Nachdem der preußische König Wilhelm I. die spanische Thronbewerbung seines Verwandten zurückgezogen und damit dem französischen Druck nachgegeben hatte, glaubte die französische Regierung, den diplomatischen Erfolg ausweiten zu können. Und überspannte den Bogen. Der französische Botschafter reiste in den Kurort Bad Ems und verlangte am 13. Juli auf der Kurpromenade von Wilhelm die Zusicherung, auch künftig keine Hohenzollernkandidatur in Spanien mehr zu billigen – was der preußische König entschieden ablehnte. Bismarcks Mitarbeiter Heinrich Abeken, der den König in Bad Ems begleitete, protokollierte die Vorgänge und telegrafierte den Bericht nach Berlin. Diese »Emser Depesche« wurde von Bismarck in einer gekürzten und verschärften Version an die Presse gegeben. Die Pressemeldung erweckte nun den Eindruck, der französische Botschafter sei in Bad Ems in ungebührender Weise aufgetreten und der König hätte weitere diplomatische Kontakte abgelehnt. Daraufhin sah sich der brüskierte und innenpolitisch ohnehin unter Druck stehende Kaiser Napoléon III. am 19. Juli 1870 zur Kriegserklärung an Preußen veranlasst. Eine einzige Depesche, wenn auch nichts drinsteht, kommentierte Fontane einen Monat später, wiegt ganze Berge von Literatur auf.[4] Die Kriegserklärung war der offizielle Beginn des Deutsch-Französischen Krieges, der erst im Mai 1871 mit dem Frieden von Frankfurt am Main sein Ende fand. Ein ungeheurer Lärm brach los, dessen Wellen wir selbst in dem stillen Warnemünde verspürten, notierte Fontane später im Tagebuch.[5] Unmittelbare Auswirkungen spürten sowohl das kleine Ostseebad als auch die Fontanes selbst: Während an der Ostsee das Gerücht umging, man müsse mit dem Erscheinen von 14 [französischen] Panzerschiffen vor Warnemünde rechnen[6], nahm Fontanes ältester Sohn auf preußischer Seite am Feldzug teil. Detailliert wird der neunzehnjährige George Fontane in den folgenden Monaten den Eltern über seine Erlebnisse an der Front berichten. Am Tag der Kriegserklärung hatte George im Schnellverfahren seine letzten Prüfungen für das Offiziersexamen bestanden[7] und rückte am 26. Juli als »Seconde-Lieutnant« der preußischen Armee Richtung Westen aus. Stolz verkündete er, wahrscheinlich werde seine Division die Avantgarde bilden.[8] Weder er noch seine Eltern ahnten zu diesem Zeitpunkt, dass der Vater dem Sohn bald nach Frankreich folgen würde – als Kriegsjournalist. Am 1. August entschieden die Fontanes, ihren Urlaub in Warnemünde abzubrechen. Emilie kehrte mit den beiden Söhnen direkt nach Berlin zurück; Fontane fuhr über Rostock nach Dobbertin, wo er seine langjährige Vertraute und Förderin Mathilde von Rohr besuchte.[9] Auch in der klösterlichen Abgeschiedenheit holten ihn die Frontnachrichten ein. Und die preußische Propaganda, die er im Hinblick auf die Mär vom nationalen Verteidigungskrieg kritiklos übernahm: Man hat nur 2 Dinge als Trost, schrieb er an Emilie, dieser Kampf wurde uns aufgedrängt, er trat als Unvermeidlichkeit an uns heran und dann zweitens die Vorstellung, 500.000 Muttersöhne haben dasselbe durchzumachen [wie ihr Sohn George].[10] Die erste Siegesnachricht traf am 5. August ein. Tags zuvor hatte ein gesamtdeutsches Heer in der Schlacht bei Weißenburg die Franzosen geschlagen. Auf deutscher Seite kamen circa siebenhundert Soldaten und Offiziere ums Leben, auf französischer über tausend. Die Nachricht löste bei Fontane zwiespältige Empfindungen aus. Mein Herz schlug […] höher, bekennt er gegenüber seiner Frau, doch könne er ein Schmerzgefühl nicht los werden. Wozu das alles? Um nichts! Blos damit Lude Napoleon festsitzt oder damit der Franzose sich ferner einbilden kann, er sei das Prachtstück der Schöpfung – um solcher Chimäre willen der Tod von Tausenden![11] Ungeheurer Lärm in dem stillen Warnemünde: Blick auf die Strandpromenade und den Leuchtturm, Postkarte, um 1900 Ein drittes Mal im Felde
Am 7. August, als George Fontane mit seinem Bataillon »unter donnernden Hurras die [französische] Grenze« überschritt[12], kehrte sein Vater in die flaggende, siegestrunkene Hauptstadt zurück.[13] In der Wohnung fand er einen Brief seines Verlegers vor und hielt im Tagebuch fest: Herr v. Decker wünscht abermals ein Kriegsbuch. So wird es denn eine Trilogie: 1864, 66, 70.[14] Rudolf von Decker, Eigentümer und Verleger der Königlichen Geheimen Ober-Hofbuchdruckerei, war durch die Wanderungen durch die Mark Brandenburg auf Fontane aufmerksam geworden[15] und hatte ihn zunächst mit einem Buch über den Deutsch-Dänischen Krieg von 1864[16] beauftragt; zwei Jahre später mit einer Publikation über den preußisch-österreichischen Krieg von 1866[17], dessen zweiter Halbband im Juli 1870 erschienen war. Nun also ein Buch über den Deutsch-Französischen Krieg. Dabei hatte Fontane das Gefühl: nun sei es auf Lebenszeit an Siegen und Siegesbeschreibung genug. Es hat anders kommen sollen; alles steht ein drittes Mal im Felde, so denn auch wir.[18] Während Fontane mit Decker über die Vertragsbedingungen für das neue Kriegsbuch, unter anderem ein Honorar [von] 50 T[alern] pro Bogen[19], verhandelte, wurde sein jüngstes Manuskript, das er als Briefe aus Mecklenburg veröffentlichen wollte, [u]nter den obwaltenden Umständen nicht mehr angenommen. Wer will jetzt, schrieb er an Mathilde von Rohr, Plaudereien über Warnemünde und Doberan lesen![20] Dafür floss frisches Geld aus einer anderen Quelle in die stets klamme Familienkasse. Fontane nahm am 15. August seine neue Referenten-Tätigkeit als Theaterkritiker für die Vossische Zeitung auf.[21] In seiner ersten Rezension über die Aufführung von Schillers Wilhelm Tell, mit der am 17. August im Königlichen Opernhaus die Berliner Theatersaison eröffnet wurde, rechtfertigte er den Krieg gegen Frankreich nun auch öffentlich: Der Tell enthalte kaum eine Seite, gewiss keine Scene, die nicht völlig zwangslos auf die Gegenwart, auf unser Recht und unseren Kampf gedeutet werden könnte.[22] Nachdem Decker auf alle Bedingungen eingegangen war[23], begann Fontane seine Reise nach Frankreich zu planen. Im September legte er ein neues Notizbuch an, das er mit dem Titel Kriegsschauplatz 1870 versah und worin er unter anderem beteiligte Regimenter und Namen führender Offiziere notierte.[24] Über den Kriegsverlauf diskutierte Fontane mit seinem Freund Bernhard von Lepel – und war nach wie vor hin- und hergerissen: Welche Siege, welche Verluste! Am Ende kam er jedoch zu dem Schluss, dass es keinen Sinn mache, alle diese Verluste aufzuzählen, wie er Mathilde von Rohr schrieb. Erfreuen wir uns an der einen großen Tatsache, dass wir wenigstens gesiegt haben und dass wir auf Feindes Land stehn.[25] Welche Siege, welche Verluste! Das Dorf Bazeilles bei Sedan nach der Schlacht vom 1. September 1870, Holzstich 1895 Anfang September überschlugen sich die Ereignisse. Nachdem die französische Armee infolge der kriegsentscheidenden Schlacht von Sedan in der Nähe der belgischen Grenze vom 1./2. September 1870 kapituliert hatte und Napoléon III. sowie über 10.000 französische Armeeangehörige in Gefangenschaft geraten waren, wurde am 4. September in Paris die Dritte Republik ausgerufen. »Eigentlich müsste der Krieg aus sein«, konstatierte der preußische Generalstabschef Helmuth von Moltke.[26] Aber die provisorische »Regierung der Nationalen Verteidigung« unter General Louis Jules Trochu und seinem Innenminister Léon Gambetta führte den Krieg fort. Da die französische Armee aufgrund von Tod, Desertation und Gefangennahme dezimiert war, setzte die provisorische Regierung nun auf die Mobilisierung der Bevölkerung – mit antideutscher, stellenweise hasserfüllter Propaganda sowie der massenhaften Einberufung wehrfähiger Männer, die im Schnellverfahren ausgebildet und bewaffnet wurden. Aus einem kontrollierten »Kabinettskrieg« der Regierung entwickelte sich ein enthemmter Volkskrieg, wozu auch die Partisanenkämpfe von »Franctireur«-Einheiten [Freikorps] gehörten. Hauptkriegsschauplätze wurden jetzt die Kämpfe um Metz und die...