Rabuza | Verräumlichte Erinnerung | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 299 Seiten

Rabuza Verräumlichte Erinnerung

Die Grenzen der Darstellung nationalsozialistischer Gewalt am Modell der KZ-Gedenkstätte Dachau
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-593-45523-5
Verlag: Campus Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Die Grenzen der Darstellung nationalsozialistischer Gewalt am Modell der KZ-Gedenkstätte Dachau

E-Book, Deutsch, 299 Seiten

ISBN: 978-3-593-45523-5
Verlag: Campus Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



KZ-Gedenkstätten haben einen Doppelcharakter: Sie sind einerseits unumstößliche Beweise der nationalsozialistischen Verbrechen, andererseits tritt in ihnen die Vergangenheit nicht offen zutage. Die Erinnerung, das Gedenken und die Aufklärung der Verbrechen sind angewiesen auf die Darstellung der Vergangenheit durch Landschaftsgestaltung, Denkmäler, Ausstellungen und die Inszenierung der Spuren. Ausgehend von dieser Beobachtung analysiert Nina Rabuza am Beispiel der Gedenkstätte Dachau die historischen Darstellungsschichten der nationalsozialistischen Gewalt und diskutiert, wo diese Darstellung an ihre Grenzen stößt. Hierzu bezieht sie sich unter anderem auf philosophische Überlegungen Hannah Arendts, Theodor W. Adornos und Walter Benjamins.

Nina Rabuza ist Universitätsassistentin am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Innsbruck.
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Einleitung: Return to Dachau


1951 schilderte der Kunsthistoriker Alfred Werner unter dem Titel »Return to Dachau« in der Monatszeitschrift »Commentary« einen Besuch der kleinen Gedenkstätte im ehemaligen Krematoriumsbereich des Konzentrationslagers Dachau. Sein Besuch war tatsächlich eine Rückkehr nach Dachau: Werner wurde 1938 nach den Novemberpogromen in Wien verhaftet und in das Konzentrationslager Dachau deportiert.1 Nach seiner Entlassung im Frühling 1939 floh er in die USA.2 Die antisemitische Verfolgung und die Inhaftierung in Dachau ließen ihn nicht los:

»It mattered little that in the spring of 1945 the headlines reported ›Infamous Dachau Falls: 32000 Freed‹; as a phenomenon of my soul, Dachau continued to exist. […] And although there was no gas chamber in Dachau in 1939, I could not think of the place at all except in images of roaring fire and red ashes. I had to return to see with my own eyes that the fire no longer burned in the crematoria furnaces, and the chimney no longer smoked.«3

Werner wollte den Ort Dachau mit dem Dachau seiner Erinnerung4 konfrontieren, um sich zu vergewissern, dass die Verfolgung und das Morden in den Lagern wirklich vorbei waren. Das ehemalige Lager diente ihm als Beweis, nicht für die Realität der Verfolgung, sondern für das tatsächliche Ende der Verfolgung.

Fünf Jahre später veröffentlichte Bruno Bettelheim einen Artikel unter beinahe identischem Titel. In »Returning to Dachau« schilderte Bettelheim, wie er das ehemalige Konzentrationslager im Jahr 1954 aufsuchte.5 Auch für Bettelheim war es eine Rückkehr nach Dachau. Bettelheim war im November 1938 von Wien zunächst nach Dachau und später nach Buchenwald deportiert worden.6 Wie Werner wurde Bettelheim entlassen und konnte in die USA emigrieren. Dort veröffentlichte er noch während des Krieges den ersten Artikel über die psychologische Wirkung der Konzentrationslagerhaft.7 1954 reiste Bettelheim für einen Forschungsaufenthalt nach Frankfurt am Main. Er untersuchte, wie deutsche Überlebende der Konzentrationslager mit ihren Verfolgungserfahrungen umgingen.8 Bettelheim besuchte die Gedenkstätte einerseits aus wissenschaftlichem Interesse, da er hier Antworten suchte auf seine Frage nach dem Umgang der deutschen Gesellschaft mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit.9 Andererseits kam er als Überlebender mit seiner persönlichen Erinnerung an die Verfolgungszeit nach Dachau.

Werner und Bettelheim blickten also aus unterschiedlichen Perspektiven auf Dachau als Gedenkstätte, auch wenn sie eine ähnliche Verfolgungsgeschichte hatten. Enttäuscht waren am Ende ihrer Besuche beide: Bettelheim interpretierte die Gedenkstätte als Manifestation deutscher Schuldabwehr. Die kleine Gedenkstätte am Krematorium, die als Parkfriedhof gestaltet wurde, und das ehemalige Häftlingslager, das in den 1950er Jahren noch als Wohnsiedlung genutzt wurde, führten nicht dazu, dass sich Bettelheim an Dachau erinnerte, sondern bewirkten vielmehr das Gegenteil:

»Standing there in Dachau, the concentration camp was more over and done for me than when I had thought of it in faraway Chicago.«10

Werner war schockiert angesichts der Inszenierung des ehemaligen Krematoriumsbereichs als Sehenswürdigkeit und brach seinen Besuch überstürzt ab:

»I was tired and felt sick, and wanted to shake the cursed soil of Germany from my shoes.«11

Auch heute lässt sich die Kritik Bettelheims und Werners an der Gestaltung des Krematoriumsbereichs als Parkfriedhof einerseits und der Zuschaustellung der Verbrechen andererseits nachvollziehen. Die Gedenkstätte am ehemaligen Krematorium in Dachau wurde seit den 1950er Jahren kaum verändert. Geht man die schmalen Pfade entlang, die durch den kleinen Park um das ehemalige Krematorium führen, trifft man auf Gedenksteine mit den Inschriften »Blutgraben« und »Asche von Tausenden Ermordeten«. Von den Sitzbänken, die zum Ausruhen einladen, blickt man auf den »alten Galgenstand« und die »Baracke X«, eines der zwei Gebäude, in denen sich die Verbrennungsöfen befanden. Die Gestaltung des Ortes scheint auseinanderzubrechen: Zum einen sind die Verbrechen, die dort verübt worden, in einer beinahe brutalen Deutlichkeit bezeichnet. Zum anderen ist der Ort als idyllische Landschaft gestaltet, die keine Rückschlüsse auf die gewalttätige Vergangenheit des Ortes zulässt.

An den Einwänden Werners und Bettelheims, wie auch in der knappen Phänomenbeschreibung aus der Gegenwart, zeigt sich, dass es in den KZ-Gedenkstätten nicht nur darum geht, erinnert wird. Es stellt sich auch die Frage, erinnert wird: Wie werden in den ehemaligen Konzentrationslagern, die zu KZ-Gedenkstätten transformiert wurden, die Verfolgung, der Terror, die Gewalt und die Morde im Lager dargestellt?

Die Frage nach der Art und Weise der Darstellung wurde in der historischen und kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung vor allem mit Blick auf die Geschichte und die Gesellschaft beantwortet.12 In den KZ-Gedenkstätten materialisieren sich demzufolge gesellschaftliche Reaktionen auf die nationalsozialistische Vergangenheit in ihren jeweiligen zeithistorischen Kontexten. Die historisch-gesellschaftliche Perspektive auf die Gedenkstätten ist aus gedächtnistheoretischer Perspektive plausibel. So lässt sich mit Paul Ricœur darauf hinweisen, dass das Gedächtnis und die Erinnerung in die Gemengelage der Gegenwart verwoben sind. Sie folgen dem gegenwärtigen Blick auf die Vergangenheit und sind auf eine imaginierte Zukunft ausgerichtet.13 Ohne die gesellschaftliche und historische Perspektive ist also der Frage nach der Darstellungsweise nicht zu beantworten.

Jedoch geht die Darstellungsweise in ihrer Genese nicht auf: Als ästhetische Objekte erheben die Darstellungen der Vergangenheit einen Geltungsanspruch in der Gegenwart. Die Besucher:innen nehmen die Darstellung der Vergangenheit, im Gegensatz zu ihrer Geschichte, sinnlich wahr. Der dekonstruktive Blick der Gedächtnisforschung ist hingegen für die Besucher:innen nicht sinnlich präsent, und so prägen Gestaltungsweisen, die schon längst als überholt, gar als historisch nicht zutreffend, zurückgewiesen wurden, weiterhin das Bild der Vergangenheit in der KZ-Gedenkstätte.

Die gesellschaftliche Analyse und die historische Rekonstruktion der konkreten Entstehungsprozesse der Geschichtswissenschaft entlasten also nicht von der Kritik der Darstellung. Versteht man den Zweck der Gedenkstätte in der ethischen Verpflichtung, der Opfer zu gedenken und über die Verbrechen aufzuklären, so richtet sich an die Darstellungsweisen die Frage, ob und wie dieser Zweck erfüllt wird. Angesichts der nationalsozialistischen Tötungspolitik und der Shoah steht zudem grundsätzlich zur Diskussion, ob die nationalsozialistische Gewalt und Tötungspolitik überhaupt adäquat medial vermittelbar sind oder ob die Möglichkeiten der Darstellung nicht immerzu an die Grenzen der Darstellbarkeit stoßen.

Dass in den Gedenkstätten mitunter das Ausmaß der nationalsozialistischen Gewalt viele Jahre (bewusst oder unbewusst) überdeckt wurde, lässt sich am Phänomen ihrer Gestaltung nachvollziehen. Die Gestaltung (nicht nur) der deutschen Gedenkstätten orientierte sich bis in die 1960er Jahre vor allem an den Kriegsgräberstätten.14 Friedliche Erinnerungslandschaften, Heldenerzählungen, Deutungen des Sterbens für die Nation oder den Glauben, wie sie vor allem in diesen frühen Phasen der Gedenkstättengestaltung üblich waren,15 integrierten den Terror und das Morden in den Lagern in nationale Gedenkformeln.16

Als Reaktion auf diese »Pathosformeln der Nachkriegsdenkmäler«17 setzte sich seit den 1980er Jahren eine Gestaltung der KZ-Gedenkstätten anhand von reflexiven, geschichtswissenschaftlichen Kriterien durch. Im Fokus der Gestaltung stand nun die Topografie des historischen Geschehens der nationalsozialistischen Gewalt.18 Aber auch die Geschichte des Ortes als Gedenkstätte wurde zum Gegenstand von Ausstellungen am historischen Ort. So entstanden an den KZ-Gedenkstätten in Deutschland vielschichtige Gedächtnisorte, in denen die Vergangenheit als Konzentrationslager, aber in vielen Fällen...



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