E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Rabinowich Der Geruch von Ruß und Rosen
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-446-27859-2
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-446-27859-2
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der Krieg ist aus und Madina wagt die Reise in ihre alte Heimat, um endlich eine Antwort auf die quälende Frage nach dem Verbleib ihres Vaters zu erhalten. Und um sich von dem Leben zu verabschieden, das sie so fluchtartig hinter sich lassen musste. Die Wunden des Krieges sind noch frisch, Madina begegnet großem Leid und Misstrauen. Und sie muss feststellen, dass nicht jede Suche wie erhofft endet. Die Suche nach ihrem Vater führt Madina letztendlich zu sich selbst. Und sie begreift, dass es an der Zeit ist, die Verantwortung für ihre Familie abzugeben und ihren eigenen Träumen zu folgen. Dies ist eine Geschichte über die Abgründe, in die ein Krieg so viele Familien stürzt, und die Geschichte einer starken jungen Frau, die über sich hinauswächst und sich selbst findet - tiefgründig und kraftvoll.
Julya Rabinowich, geboren 1970 in St. Petersburg, lebt seit 1977 in Wien, wo sie auch studierte. Sie ist Schriftstellerin und Kolumnistin und war viele Jahre als Dolmetscherin tätig. Bei Deuticke erschienen Spaltkopf (2008, u. a. ausgezeichnet mit dem Rauriser Literaturpreis 2009), Herznovelle (2011, nominiert für den Prix du Livre Européen), Die Erdfresserin (2012) und Krötenliebe (2016). Ihr erstes Jugendbuch, Dazwischen: Ich (2016), wurde u. a. mit dem Friedrich-Gerstäcker-Preis, dem Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis und dem Luchs (Die Zeit & Radio Bremen) ausgezeichnet sowie unter die Besten 7 Bücher für junge Leser (Deutschlandfunk) gewählt. 2019 erschien ihr Jugendbuch Hinter Glas, 2022 folgte Dazwischen: Wir. Die Idee zu Der Geruch von Ruß und Rosen (2023) ist aus den unzähligen Gesprächen geboren, die die Autorin mit Kriegsüberlebenden und ihren Angehörigen geführt hat.
Autoren/Hrsg.
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1
Laura wartet vor dem Haus auf mich. Dort, wo die Idioten letztes Jahr Hier wohnt Gesindel. Ausländer raus! draufgeschrieben haben, ist noch eine leichte Farbveränderung wahrzunehmen. Ein etwas gelblicheres Beige als das elegante Beige, das Susi bei der Hausrenovierung wochenlang ausgesucht hat. Es macht nichts, finde ich. Das Haus trägt jetzt eine Narbe. Warum sollte es dem Haus anders gehen als uns? Wir sind alle vernarbt aus den letzten Jahren herausgekommen. Manche ganz real auf der Haut. Andere verborgener. Omas Füße sind voller heller Streifen, wo mal die blutroten Striemen waren, die man bekommt, wenn man wochenlang mit Blasen an den Füßen wandern muss, ohne Socken, mit kaputten Schuhsohlen. Sie schämt sich. Sie trägt strahlend weiß gewaschene Strümpfe, auch im Sommer.
Ich finde Narben wichtig. Sie erinnern daran, dass man schon einmal heilen konnte. Und heilen wird. Wieder und wieder.
»Wir gehen schwimmen«, sagt Laura und pfeift nach Kassandra.
Ja, das wird mir guttun. Das Abkühlen und dann das Auf-den-heißen-Planken-Rumliegen, eine wilde Heidelbeere nach der anderen in den Mund stecken und ins Wasser schauen, auf dem Sonnenflecken tanzen.
*
Der ganze Sommer war bis jetzt verregnet und schwül. Sogar Kassandra tat sich schwer, Abkühlung zu finden, da konnte sie noch so oft in den Teich springen oder sich in der Küche auf den Kacheln platt wie ein Bettvorleger hinlegen. Die rote Zunge hing ihr aus dem Maul und reichte bis auf den Boden, sodass ich immer wieder Angst hatte draufzutreten, wenn ich Eiswürfel aus dem Eisfach holte. Und sie sabberte ärger als jeder Troll.
Zum Schwimmen sind wir meistens zu dritt unterwegs, Laura, Kassandra und ich. Rami will zwar mit, und meine Mutter hätte es ihm sogar erlaubt, aber ich habe wahrlich keine Lust, die ganze Zeit aufpassen zu müssen, um ja keinen Blödsinn zu versäumen, zu dem er so fähig ist. Und er ist zu verdammt viel Blödsinn fähig, ich würde sagen, da entfalten sich in ihm unendliche Kombimöglichkeiten. Noch heißer ist er nur noch darauf, mit Markus etwas zu unternehmen.
Markus ist noch da, aber es ist ein bisschen seltsam zwischen uns, ich habe das Gefühl, er verheimlicht etwas vor mir, wahrscheinlich eine neue Freundin, was ich völlig unnötig finde. Ja, klar gibt es mir einen Stich, wenn es wirklich offiziell so sein sollte. Aber mir ist lieber, es gibt einen Stich, und dann ist Ruhe. Es ist okay, haben wir doch gesagt, bevor er in die Stadt zog, zum Studieren. Wir sind ja nicht mehr zusammen. Wir sind Freunde. Und zu Freunden ist man doch ehrlich! Aber nichts ist einfach, wenn Liebesmüh und diese seltsame, mir zu weiten Teilen unbekannte Sache namens Sex dazwischengeraten. Nichts! Dann kannst du das übereingekommenste Übereinkommen vergessen, pronto.
»Pronto«, sagt Laura jetzt die ganze Zeit, es ist nicht rauszuklopfen aus ihr, seit wir gemeinsam in Italien gewesen sind. Ich versuche, das als nette Erinnerung unserer Reise zu betrachten und nicht als den nervtötendsten Spleen, zu dem sie derzeit fähig ist. Was nicht ist, kann natürlich noch kommen, das ist bei Laura ähnlich wie bei Rami, die Skala ist nach oben hin offen.
Über diese nach oben hin offene Skala der Nervtöterei brauche ich mir im Unterschied zu anderen, nicht ganz so klaren und eindeutigen Dingen, wie zum Beispiel dem Verbleib meines Papas, keine Sorgen zu machen. Die Sorge bleibt vermutlich für immer. Im Unterschied zu meinem Papa. Der ist leider noch immer weg. Keiner weiß, was mit ihm passiert ist.
Der Sommer geht in die Schlussphase, wie er angefangen hatte: mit quälender Ungewissheit, mit täglichen Gängen zum Briefkasten in der immer geringer werdenden Hoffnung, da drin etwas zu finden, irgendetwas. Einen Brief. Eine Todesurkunde. Einen Hinweis. Gar nicht mal so unähnlich dem vorletzten Jahr, als mein Vater und ich ständig zum Briefkasten der Flüchtlingsunterkunft rannten, in der Hoffnung auf eine Art Erlösung, auf den positiven Bescheid.
Ich weiß, dass meine Mutter jeden meiner Schritte zum Briefkasten hin und vom Briefkasten weg stillschweigend verfolgt, ihre Blicke sind mein Schatten. Das macht mich noch nervöser.
Meine Großmutter sagt nie etwas dazu, wenn sie mich zum Briefkasten schleichen sieht. Meine Großmutter ist eine Urgewalt. Meine Großmutter ist ein freundlicher Vulkan. Sie steht noch im stärksten Hurrikan firm und fest am Boden. Sie ist ein weißer Zwerg. Ein Planet, der ein Vielfaches an Gewicht trägt und um den alle anderen kreisen, weil er einfach der dichteste und komprimierteste Planet weit und breit ist und die anderen, nicht ganz so imposanten sich seiner Schwerkraft beugen müssen.
Manchmal beneide ich sie sehr darum. Dass sie einfach dasitzen und ihre Kuchen backen kann. Mit Äpfeln und Zitrone. Ein Fixstern unseres Familienuniversums, noch immer ruhig, wenn es sonst niemand mehr ist. Sie muntert meine Mutter auf, bringt Rami in den Kindergarten, lässt meiner Tante die Badewanne mit Rosenblättern ein, wenn sie müde von der Arbeit nach Hause kommt.
Meine Tante hat seit dem Sommer einen Job. Sie verdient ihr eigenes Geld! Die erste Frau in unserer Familie! In Ramis ehemaligem Kindergarten, da kocht und putzt sie.
Und dann sitzt Oma mit mir abends im Garten und frisiert meine Haare. Sie frisiert und versucht, sie zu Zöpfen zu flechten, was nicht und nicht gelingen will, weil meine Locken noch immer zu wild sind und ihre Hände nicht mehr geschickt genug. Nie würde ich jemand anderem erlauben, mich wie ein Kind zu behandeln, aber bei ihr fühlt es sich so natürlich an, so passend, dass ich es genieße und nicht dagegen ankämpfen muss.
Sie hat so vieles verloren. Ihr Haus. Ihren Garten. Ihre Ziegen. Ihre Hühner. Ihren Mann. Ihre Söhne. Man könnte sagen, ich habe vorläufig meinen Vater verloren. Aber das lässt sich so nicht aufwiegen. Das Gewicht unserer Trauer nicht. Das Gewicht unserer Verluste. Jede von uns leidet, jede für sich. Manchmal leiden wir gemeinsam. Und oft suchen wir gemeinsam Trost. Weil wir Menschen sind. Vielleicht wäre es bei Katzen anders, denke ich. Die würden einfach fallen. Auf ihre vier Pfoten. Mit ihren sieben Leben. Und dann weitermachen. Apropos weitermachen: Da bin ich eigentlich Vollprofi darin. Das ist meine Königsdisziplin. »Königinnendisziplin«, würde Laura jetzt sagen.
*
Manchmal stelle ich mir die immergleiche Frage: Wie mein neues Leben angefangen hat? Schwer zu sagen. Vielleicht war es dieser Sommerabend, an dem ich das erste Mal meine Hand auf den Arm von Markus legte unter den Lampionlichtflecken, die im Sternenhimmel so hoch über uns hingen wie bei anderen die Geigen? Und bevor mein Vater kam, um mich mit ernster Miene noch vor elf Uhr nachts wieder heimzuholen? Vielleicht, als Laura sich das erste Mal in der Schule zu mir gesetzt hat und sich nicht lustig gemacht hat über meine lustigen Deutschfehler, die alle rundum lustig fanden, bloß ich nicht? Oder später, als sie im Hinterhof von McDonald’s weinend ihr rotzverschmiertes Gesicht in meiner Jacke versteckt hat und mir erzählte, was mit ihrer Mutter passiert war. Vielleicht in diesem magischen Augenblick, als ich meinen Fuß über die Grenze dieses Landes setzte? So wie mit den roten Zauberschuhen, die man aneinanderschlägt — ein Augenblick, und es ändert sich alles. Alles. Oder war es schon, bevor wir gingen, war es bereits, als ich unser Haus in Flammen aufgehen sah? War es das Gesicht meiner Oma vor ihrem brennenden Garten? Auf alle diese Fragen gibt es nur eine Antwort:
Sei eine Katze, Madina.
*
In der Schule wird alles anders sein, wenn die Ferien vorbei sind. Die King, unsere Klassenlehrerin, hat uns abgegeben. Ich habe keine Ahnung, wer uns in unserem letzten Jahr übernehmen wird. Ich verbiete ab jetzt auch allen, sie »Krähen-King« zu nennen, wie das im vergangenen Schuljahr alle gemacht haben, auch ich. Weil sie wie ein Trauervogel in ihren strengen schwarzen Kleidern mit ihrer strengen Frisur, den dunklen Strümpfen und der langen Nase durch...