Rabinowich | Dazwischen: Ich | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Rabinowich Dazwischen: Ich


1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-446-25438-1
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-446-25438-1
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Madina ist endlich angekommen. In einem Land, das Sicherheit bedeuten könnte. Nach einer beschwerlichen Flucht vor dem Krieg in ihrer Heimat. Zerrissen zwischen Traditionen und dem neuen Leben in der westlichen Welt schildert sie ihre Zeit im Flüchtlingsheim. Und erzählt von ihrer Freundin Laura. Die als Einzige am ersten Schultag auf Madina zugekommen ist. Und die nicht über ihre Deutschfehler gelacht hat. Mit ihr kann Madina für einige Zeit die ärmlichen Zustände zu Hause vergessen. Die Hänseleien der Mitschüler. Und ihren Papa, der mit der neuen Situation nicht zurechtkommt. Eine bewegende Geschichte über Freundschaft und das Erwachsenwerden in Zeiten von Krieg, Verfolgung und Migration.

Julya Rabinowich, geboren 1970 in St. Petersburg, lebt seit 1977 in Wien, wo sie auch studierte. Sie ist Schriftstellerin und Kolumnistin und war viele Jahre als Dolmetscherin tätig. Bei Deuticke erschienen Spaltkopf (2008, u. a. ausgezeichnet mit dem Rauriser Literaturpreis 2009), Herznovelle (2011, nominiert für den Prix du Livre Européen), Die Erdfresserin (2012) und Krötenliebe (2016). Ihr erstes Jugendbuch, Dazwischen: Ich (2016), wurde u. a. mit dem Friedrich-Gerstäcker-Preis, dem Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis und dem Luchs (Die Zeit & Radio Bremen) ausgezeichnet sowie unter die Besten 7 Bücher für junge Leser (Deutschlandfunk) gewählt. 2019 erschien ihr Jugendbuch Hinter Glas, 2022 folgte Dazwischen: Wir. Die Idee zu Der Geruch von Ruß und Rosen (2023) ist aus den unzähligen Gesprächen geboren, die die Autorin mit Kriegsüberlebenden und ihren Angehörigen geführt hat.
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2


Habe die Katze heute heimlich ins Zimmer gelassen. Sie hat sich in meinem Bett zusammengerollt und geschnurrt. Ich habe meinen Kopf neben sie gelegt, damit ich das leise Beben ihres Körpers wahrnehmen kann. Das ist so angenehm wie die sanfteste Massage. Nur ohne Hände.

– – – – –

Amina sagt, sie verpetzt mich beim Pensionsbesitzer, den hier alle Chef nennen, wenn sie das »Drecksvieh« noch einmal in ihrem Zimmer erwischt, so wie gestern. In ihrem Zimmer. Sehr witzig.

– – – – –

Habe Papa gefragt, ob wir Amina nicht in ein eigenes Zimmer abschieben können.

Nein, können wir nicht. Wir hätten schon ein großes Zimmer, sagt der Chef. Die kleinen brauchen sie für Paare mit Babys. Einzelzimmer gibt es hier keine. Das lohnt sich nicht.

Papa hat das fast noch mehr bedauert als ich.

– – – – –

Ich will jetzt nicht total miese Laune haben. Herr Bast, unser Biolehrer, hat mal in einem philosophischen Anfall ein Glas mit Wasser auf das Lehrerpult gestellt. »Halb voll oder halb leer?«, hat er gefragt. Das komme nur drauf an, wie man es betrachte. Kurz vor der Pause hat er es leider umgeworfen, weil er immer, wenn er in Fahrt ist, mit seinen Armen ausholt wie eine Windmühle.

Ich sehe es so: Das Glas ist immer halb voll, auch wenn es in Wirklichkeit fast leer ist. Ich versuche es. Eigentlich ist noch gar nichts wirklich gelöst bei uns. Wir sind noch nicht wirklich hier, aber ich arbeite daran. Stimmt, den Bescheid haben wir nicht. Aber ich kann mich ja trotzdem anstrengen! Zum Beispiel wenn ich merke, dass ich schon bei fast allen Unterrichtsfächern mitkomme und keine Angst mehr haben muss, dass ich durchfalle und Laura weiterkommt und ich wieder allein bin. Zugegeben, wenn Laura mir nicht helfen würde, hätte ich sicher schon ein paar Klassenarbeiten in den Sand gesetzt. Vor allem in Deutsch. Mathe ist leichter. Ich glaube, die Deutschlehrerin – King heißt sie – weiß das. Ich glaube, sie sieht manchmal einfach weg. Das ist sehr lieb von ihr. Hoffentlich merkt das keiner außer mir.

– – – – –

Mama hat wieder einmal mit Tante Amina gestritten. Die kann einen bis aufs Blut reizen. Papa hat sich wie immer eingemischt, hat Mama rausgeschickt und dann mich. Rami hat sich hinter dem Schrank versteckt, den hat er nicht gesehen. Oder nicht sehen wollen.

Mama ist in den Hof gegangen, hat sich draußen auf die Bank gesetzt, in die Sonne, und hat sich das Taschentuch an die Augen gehalten und so getan, als ob sie Schnupfen hätte. Was hätte sie auch sonst tun sollen – auf dem Gang stehen, wo alle vorbeigehen? Die Küche ist am Nachmittag verschlossen. Im ganzen Haus gehen immer wieder Frauen herum, die leise weinen. Und Männer streiten lautstark. Manchmal streiten auch die Frauen laut und die Männer weinen, aber das passiert meist erst, wenn sie wirklich total am Ende sind, und dann passieren manchmal auch noch ärgere Sachen, bei denen der Arzt kommen muss oder die Polizei oder beides. Der Depp aus dem zweiten Stock wurde von seinen Eltern mal krankenhausreif geprügelt. Hat den Heimleiter nicht geschert. Der hat die Polizei nicht gerufen. Weiß nicht, wer das war. Und kaum war der Depp zurück, hat er Rami vermöbelt. Bis ich dazwischengegangen bin. Ist zwar die Pest, aber dennoch mein kleiner Bruder.

Ich habe mich zu Mama auf die Bank gesetzt, die rot getigerte Katze ist mir auf den Schoß gesprungen, hat geschnurrt. Ich habe die eine Hand auf die warme weiche Katze gelegt und die andere auf Mamas Arm und habe ihr lustige Dinge von der Schule erzählt. Die in echt gar nicht so lustig waren. Die habe ich einfach ausgeschmückt. Das ist aber in solchen Momenten in Ordnung, finde ich. Sie hat gelacht und sich die Augen abgetupft. Ich mag es, wenn sie nicht immer weint.

– – – – –

Papa läuft wie jeden Morgen zum Briefkasten, wie alle anderen hier, die nicht aufgegeben haben. Und kommt dann schweigend zurück. Dann weiß ich, dass wieder nichts drin war. Der Bescheid der Behörde, der Bescheid, in dem schwarz auf weiß steht, dass wir bleiben dürfen und hier Asyl bekommen. Endlich. Asyl bekommen klingt ein bisschen nach Kind bekommen. Es ist etwas, auf das man mit großer Hoffnung wartet. Dieser Asylbescheid reift und wächst und die Behörden brauchen leider viel länger als neun Monate. Und gleichzeitig hat man auch eine Riesenangst davor, vor diesem Augenblick. Dann ändert sich alles. Alles.

Jeder, der hier ausziehen durfte, hat davor diesen Brief erhalten. Das habe sogar ich mitbekommen. Entweder ausziehen, eigene Wohnung und hierbleiben. Oder abgeholt werden mit Polizei und raus aus dem Land. Manche sofort, andere ein bisschen später. Manchmal mit Geschrei und wilden Kämpfen im Haus oder vor dem Polizeiauto. Manche Polizisten waren lieb, die haben fast geweint. Manche waren einfach nur brutal und haben das auch noch genossen. Fast wie bei uns zu Hause. Ich konnte nicht wegschauen. Musste am Treppengeländer stehen und hinstarren, wie bei einem Horrorfilm – man denkt, wenn man wegschaut, passiert etwas noch Schlimmeres. Wie sie die Menschen an den Haaren gepackt haben. Die Köpfe zurückgerissen. Ich habe gezittert.

Papa war plötzlich da, ich hatte ihn nicht gehört. Hat mir die Hand ganz vorsichtig auf die Schulter gelegt. »Komm, Madina«, hat er gesagt. »Komm, gehen wir ins Zimmer. Na komm.«

Habe mich in seinen Arm hineingekuschelt, bin hineinversunken, habe seinen Oberkörper an meinem Hinterkopf gespürt. Breit, fest. War plötzlich wie in dichtem Nebel. Konnte mich nur mit seinem Arm im Rücken bewegen. Habe mich von ihm langsam vom Treppengeländer weglotsen lassen. Die Schreie sind unten im Treppenhaus verhallt. Er hat mich mit sanftem Druck ins Zimmer geschoben und das Radio aufgedreht, komische Musik, irgendein Sender, per Zufall erwischt. Ich habe mich auf die Musik und die Stimme der Sprecherin konzentriert. Sonst nichts mehr gehört. War ihm so dankbar.

»Uns passiert das nicht«, hat er gesagt. Total ruhig sagte er das. »Hörst du. Wir bleiben da.«

Die Eingangstür fiel ins Schloss, und draußen fuhr ein Auto weg.

Ich habe nichts geantwortet. Hatte bestimmte Bilder im Kopf.

Nein, das mag ich jetzt nicht schreiben. Aus. Schluss. Sofort. Ich gehe jetzt aufs Klo und trinke dann ein Glas Wasser.

– – – – –

Bin wieder da.

Also noch mal. Alle warten auf den Brief, den einen Brief, der sie rettet. Der Brief, in dem drinsteht, dass sie hier Asyl bekommen. Schwarz auf weiß. Sicher. Besser als nur geträumt. Und dieses Schwarz-auf-Weiß wiederum heißt hierbleiben. Rechte haben. Ein echter Mensch sein mit echtem Leben. Dann ziehen sie weg.

Ich habe schon drei Freundinnen auf diese Weise verloren.

Eine war fast fünf Jahre hier, hat sie mir erzählt. Ich habe sie kennengelernt, als wir hierherkamen. Sie hat meine Sprache gesprochen. Das war total schön. Hat mir das Haus gezeigt, die Katze, die Vögel. Hat mich gewarnt, wem ich aus dem Weg gehen soll. Hat mit mir im Hof Brettspiele gespielt und mir im Gemeinschaftsraum die Fernsehserien erklärt. Ich konnte ja kein Deutsch.

Zwei Monate später war sie weg. Sie hat sich sehr gefreut. Auf die neue Wohnung. Mit eigener Küche und eigenem Klo und eigenem Bad. Da müsste ich nur noch mit der Tante darum kämpfen, das wäre ein absoluter Fortschritt. Wir haben gesagt, wir würden uns noch sehen. Aber die neue Wohnung war an einem anderen Ort, ziemlich weit weg. Sie kam noch ein paarmal. Dann nicht mehr. Ich war wieder allein.

Darum möchte ich nicht, dass mir so was mit Laura passiert. Das wäre schrecklich. Ich bin mit Laura am längsten hier befreundet. Seit ich in der Schule bin. Seit fast eineinhalb Jahren. Und abgesehen davon ist sie die Einzige gewesen, die einfach so auf mich zugekommen ist. Sich ab und zu zu mir gesetzt hat. Nicht gelacht hat über meine Deutschfehler, die für alle lustig waren, nur nicht für mich. Am Anfang habe ich aus lauter Angst gestottert. Das war für die Klasse noch lustiger.

Manchmal vergesse ich, dass ich früher zu Hause eine noch bessere Freundin hatte. Das ist nicht fair. So was darf man eigentlich nicht vergessen. Andererseits bin ich manchmal sogar froh, wenn ich Mori vergesse. Ich kann doch sowieso nichts mehr für sie tun.

Und für ihre Schwestern auch nicht.

– – – – –

Mona ist eine noch größere Pest als mein kleiner Bruder. Ich habe ihr nichts getan.

– – – – –

Ich will lieber über etwas Schönes schreiben. Etwas, das ich mag. Zum Beispiel mein langes Haar. Um das haben mich schon viele beneidet, auch früher zu Hause. Ich habe es sicher seit sieben Jahren nicht mehr geschnitten. Wenn ich einen Zopf mache, reicht er mir fast bis zur Taille. Ein dicker, schöner, glänzender Zopf. Wenn ich meine Haare offen tragen will, wie die meisten anderen in der Schule, ist mein Vater sauer.

Laura steht auf fransige Kurzhaarschnitte. Und Sabine, auf die ich ein bisschen eifersüchtig bin, weil sie schon vor mir mit Laura befreundet war, und die auf mich ein wenig eifersüchtig ist, weil ich mich mit Laura besser verstehe als sie, würde sich nie so einen langweiligen Zopf flechten. Sabines Schwester arbeitet bei einem Friseur. Sabine hat eher dünnes Haar und jede zweite Woche etwas anderes auf ihrem Kopf, weil die Schwester immer an Sabine übt. Manchmal geht das gut. Manchmal übertreibt sie es. Und manchmal sind die Haare danach so, dass sie sie...


Rabinowich, Julya
Julya Rabinowich, geboren 1970 in St. Petersburg, lebt seit 1977 in Wien, wo sie auch studierte. Sie ist als Schriftstellerin, Kolumnistin und Malerin tätig sowie als Dolmetscherin. Bei Deuticke erschienen Spaltkopf (2008, u. a. ausgezeichnet mit dem Rauriser Literaturpreis 2009), Herznovelle (2011, nominiert für den Prix du Livre Européen), Die Erdfresserin (2012) und Krötenliebe (2016). Mit Dazwischen: Ich veröffentlichte sie bei Hanser 2016 ihr erstes Jugendbuch. Es wurde u. a. mit dem Friedrich-Gerstäcker-Preis, dem Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis und dem Luchs (Die Zeit & Radio Bremen) ausgezeichnet sowie unter die Besten 7 Bücher für junge Leser (Deutschlandfunk) gewählt. 2019 erschien ihr Jugendbuch Hinter Glas, 2022 folgt Dazwischen: Wir.



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