Raabe Der Schock
13001. Auflage 2013
ISBN: 978-3-8437-0452-6
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Psychothriller
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-0452-6
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Marc Raabe hat eine TV- und Medienproduktion aufgebaut, bevor er sich 2021 für ein Leben als Autor entschied. Zu diesem Zeitpunkt begann er mit der Art-Mayer-Serie. Raabes Bestseller erscheinen in mehr als zehn Sprachen. Sein Handwerkszeug sind filmisches Erzählen, Schnitttechniken, Cliffhanger und Psychologie. Das Ergebnis: ein rasantes Kopfkino mit Tiefe. So wie seine Ermittlerfiguren bricht auch Marc Raabe hin und wieder Regeln.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Kapitel 3
Beaulieu-sur-Mer – Côte d’Azur, 17. Oktober, 22:07 Uhr
Laura hatte sich kaum auf die Rückbank des Cherokee gesetzt, als Greg schon das Gaspedal trat und scharf wendete. Die Fliehkraft riss an der Tür, und Laura schaffte es nur mit Mühe, sie zu schließen.
»Würdest du mir bitte einen Gefallen tun und nicht fahren wie ein Teenie auf Speed«, schnappte Laura.
»Klar«, knurrte Greg, »wenn du uns das nächste Mal Bescheid sagst, bevor du für zwanzig Minuten auf dem Supermarktklo verschwindest. Und das auch noch kurz vor Ladenschluss! Wir haben uns Sorgen gemacht.«
»Glaubst du, mir macht das Spaß? Es ging halt nicht anders.«
»Es ging nicht anders?«
»Ich bin ’ne Frau, verdammt!«
»Ach ja?«, knurrte Greg. »Und Frauen können nicht Bescheid sagen?«
Laura rollte mit den Augen. »Katy, erklär du’s ihm bitte, ja.«
Katy schwieg, drehte den Kopf zur Seite und sah zum Fenster hinaus.
»Ach, Scheiße«, murmelte Laura. Sie wusste, dass Greg recht hatte – irgendwie. Und den Teil, wo er nicht recht hatte, den vollgesogenen Tampon, die blutige Hose und die ganzen übrigen Scherereien, diesen Teil konnte und wollte sie nicht erklären.
Sie beugte sich leicht nach vorne; etwas Regen war ihr unter den Kragen der Jacke gelaufen, und jetzt klebte die nasse Kleidung an ihrem Rücken. In ihrem Bauch rumorte es immer noch, und zwischen Becken und Rückenwirbeln tobte ein krampfartiger Schmerz, ganz zu schweigen von den Kopfschmerzen und der Übelkeit. Sie hatte gestern schon geahnt, dass es wieder so weit war. Doch wie immer hatte sie es verdrängt, bis es aus ihr herausbrach.
Ihre Tage als notwendiges Übel zu bezeichnen wäre eine Untertreibung gewesen. Übel ja. Aber notwendig? Wofür denn? In ihrem ersten Leben war sie zu jung für Kinder gewesen. In ihrem zweiten Leben zu verloren und zu kaputt.
Und jetzt, in ihrem dritten Leben?
Sie hatte noch nicht einmal einen Partner, geschweige denn jemanden, mit dem sie ein Kind haben wollte. Alleine der Gedanke, die Verantwortung für ein Kind tragen zu müssen, schnürte ihr die Kehle zu, weil sie immerzu an ihre eigene Kindheit denken musste, an die drückende Einsamkeit in der Villa in der Finkenstraße, an ihren Vater, der dauerabwesend war, entweder auf Geschäftsreise in Wien oder in irgendeinem seiner Zimmer, immer unansprechbar, während ihre Mutter … nun ja …
Dann schon lieber wirklich alleine. So wie jetzt. Sie hatte ihre Wohnung, ihre Arbeit bei Ultimate-Action, einer Sport-Event-Agentur, und den Rest der Zeit war sie damit beschäftigt, nicht wieder zurückzufallen in alte Gewohnheiten. Sie war gewissermaßen immerzu auf der Flucht vor Leben Nummer zwei.
Wozu also brauchte es diese elenden Regelschmerzen? Ihre Tage waren ein ständiger Störfaktor. Auch für ihren Job bei Ultimate-Action. Eine Reihe von Fallschirm-Tandemsprüngen – abgesagt. Die letzte Klettertour – ebenfalls abgesagt. Sie hatte Glück, dass Gerald, ihr Chef, sie nach wie vor mochte, und das, obwohl sie seine Annäherungsversuche bisher beharrlich ignoriert hatte.
Laura seufzte und sah aus der Seitenscheibe des Cherokee. Hinter den vom Fahrtwind verzerrten Tropfenbächen wischten die letzten Häuser von Beaulieu-sur-Mer vorbei. Ihr feuchter Rücken erinnerte sie an den gestrigen Abend, an Jan und an das, was vor dem Haus passiert war.
Sie hatte einen Rappel bekommen und vor die Tür gemusst, an die frische Luft. Auf Dauer hielt sie es einfach nicht in geschlossenen Räumen aus. In einer ihrer Jackentaschen hatte noch eine angebrochene Packung Lucky Strikes gesteckt, von einem ihrer Kollegen. Zigaretten waren eigentlich nicht ihr Ding, wenn überhaupt war sie Gelegenheitsraucherin, doch hier und jetzt war es die perfekte Ausrede gewesen, um für einen Moment alleine vor die Tür zu gehen – zumal die anderen nicht rauchten. Eine Viertelstunde alleine, nur mit einer Zigarette, das erschien ihr als Paradies.
Das Paradies hielt ganze drei Minuten an. Sie hatte draußen gestanden, mit dem Rücken zur Eingangstür, über ihr das vorkragende Wohnzimmer des Hauses, das wie eine riesige Zigarettenschachtel in den oberen Teil des Steilhangs gerammt war. Vor ihren Augen rannen Wasserfäden vom Dach, und das Ende ihrer Zigarette glühte auf, als sie daran zog.
In der Dunkelheit, rechts von ihr, zwischen den Bäumen am Hang, blitzte plötzlich etwas auf. War da nicht ein Schatten? Sie kniff die Augen zusammen und spähte in die Nacht. Vielleicht ein Tier?
In diesem Moment trat Jan hinter ihr aus der Tür, stellte sich still neben sie und sah aufs dunkle Meer und die tiefhängenden Wolken. Sie schwiegen in stillem Einvernehmen. Nur der Regen prasselte, und die See brandete weit unter ihnen gegen die Felsen.
Laura schnippte die Zigarette in den Regen und zündete sich eine weitere an.
»Du rauchst eigentlich nicht, oder?«, fragte Jan, ohne den Blick vom Meer abzuwenden.
»Ach, nein?«
»Nein«, sagte Jan.
Laura stieß den Rauch in den Regen und musste lachen. Es klang überraschend rau und etwas spöttisch. »Was hat mich verraten, Kommissar Floss?«
Jan lächelte und zuckte mit den Schultern. »Deine Haltung. Die Hände …«
»Ich seh schon«, sagte Laura, »ein echter Fachmann. Auch eine?« Sie hielt ihm die Schachtel hin.
»Danke. Ich rauch nicht.«
Skeptisch sah sie ihn an. »So wie ich, meinst du?«
Jan zog fröstelnd den Kopf zwischen die Schultern. »Mir wär jetzt eher nach ’nem Kaffee.«
»Kaffee? Um die Uhrzeit? Da würde ich die ganze Nacht senkrecht im Bett stehen.«
Jan lächelte schief. »Alles eine Frage der Übung.«
»Wo übt man denn bitte nachts Kaffee trinken?«
»Marktforschung. Oder Werbung. Man fängt morgens damit an und hält den Koffein-Pegel die ganze Zeit über auf konstantem Niveau.«
Laura erinnerte sich dunkel daran, dass Jans und Katys Vater Inhaber einer Werbeagentur war. Deswegen auch das Ferienhaus an der Côte d’Azur. Auch wenn es inzwischen so heruntergekommen war – es hatte sicher einmal ein kleines Vermögen gekostet. »Also lange Tage im Job?«
Jan nickte. »24 Stunden, sieben Tage die Woche. Zumindest gefühlt.«
»Bravo. Beste Voraussetzungen für einen Burn-out.«
»Yepp«, sagte Jan.
»Und warum machst du es dann?«
Wieder ein schiefes Lächeln. »Mach ich ja gar nicht mehr. Ich bin raus. Ist vorbei.«
»Aha. Bist du freiwillig ausgestiegen … oder …?«
»Mehr ›oder‹«, sagte Jan und schwieg einen Moment. »Ist ’ne komplizierte Geschichte.«
»Aha.« Laura zog an ihrer Zigarette. Wenn er nicht darüber reden wollte, kein Problem. Sie mochte es schließlich auch nicht, ausgefragt zu werden. Sie drehte die Zigarette in ihrer Hand und betrachtete die Glut, die sich durch den Tabak fraß.
»Mein Vater hatte einen Schlaganfall«, sagte Jan unvermittelt.
»Oh«, rutschte es Laura heraus. »Das tut mir leid, ich –«
»Nein, nein«, beeilte sich Jan zu sagen. »Schon okay, er hat’s überlebt. Ist jetzt in einem wirklich guten Altenheim untergebracht, Residenz Blankenburg. Ich war nur so dumm, zu glauben, dass er meine Hilfe braucht. Also hab ich gekündigt. Ich habe Marktforschung gemacht, hatte eine ganz gute Stellung bei einem Institut, als Psychologe, seit acht Jahren. Die waren ziemlich sauer, weil ich von jetzt auf gleich aufgehört habe.«
»Und dann?«
»Ich hab mich um die Werbeagentur meines Vaters gekümmert.«
»Einfach so? Ich dachte, du bist Psychologe.«
»Du wirst lachen«, sagte Jan ohne einen Anflug von Humor, »eigentlich habe ich Psychologie studiert, weil ich dachte, dann würde ich auf jeden Fall etwas anderes machen als mein Vater.«
»Hört sich so an, als wärt ihr nicht sonderlich gut miteinander klargekommen, du und dein Vater.«
Jan schwieg einen langen Moment. »Immer zweihundert Prozent verlangen, aber nie da sein, wenn man ihn braucht. Das ist mein Vater.«
Laura sagte nichts. Sie wusste nur zu gut, was Jan meinte – und wie es sich anfühlte. Nur dass ihr Vater nie etwas verlangt hatte. Sie war ihm schlicht egal gewesen.
»Nach dem Studium«, fuhr Jan fort, »habe ich dann die Ausbildung zum Psychotherapeuten angefangen, mit einem praktischen Jahr in einer Tagesklinik. Schon am dritten Tag sollte ich eine Gruppe leiten. 18 Alkoholiker und ich als Azubi, ohne jede Praxiserfahrung. Genauso gut kannst du einen Medizinstudenten alleine in den OP stellen und sagen, er solle jetzt gefälligst am offenen Herzen operieren. Meine Patienten waren teilweise hochaggressiv, die hatten nicht das geringste Bedürfnis, behandelt zu werden. Einer ist auf mich losgegangen und hat mir die Nase gebrochen. Danach habe ich mich umorientiert und bin in die Marktforschung. Und die ist letztlich eng mit der Werbung verknüpft.«
»Also genau das, was du eigentlich nicht machen wolltest.«
»Na ja.« Jan zuckte mit den Schultern. »Im Grunde hatte ich nichts gegen Werbung. Es ging eher um meinen Vater …«
»Und er? War vermutlich begeistert, als das verlorene Schaf endlich heimgekehrt ist.«
»Mein Vater ist nicht zu begeistern. Jedenfalls nicht von mir.«
»Vielleicht ist er’s, kann es aber...