E-Book, Deutsch, 270 Seiten
R. Lockridge NACHT DER SCHATTEN
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7554-0133-9
Verlag: BookRix
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Der Krimi-Klassiker!
E-Book, Deutsch, 270 Seiten
ISBN: 978-3-7554-0133-9
Verlag: BookRix
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Unmittelbar vor der St.-Patricks-Kathedrale war es dann passiert. Ein Windstoß hatte ihm das winzige Persönchen fast in die Arme geweht. Ihr leuchtendblauer Mantel war vor ihr her geflattert. Langes, braunes Haar fiel ihr über das zarte Gesicht, nahm ihr die Sicht. Mit einer feingliedrigen, kleinen Hand versuchte sie vergeblich die ungehörigen Strähnen einzufangen. Sie schien es eilig zu haben. Ihre hohen Absätze klapperten ein schnelles Stakkato über das Pflaster. Es war ihr Schritt, ihr Gang, der die Erinnerung in ihm wachrief - eine verschwommene, höchst unscharfe Erinnerung, noch ehe er ihr halb abgewandtes, unter der wilden Haarmähne verborgenes Gesicht gesehen und erkannt hatte. Er war bereits ein Stück an ihr vorbeigegangen, als ihn die Erkenntnis plötzlich wie ein Blitz durchzuckte. Der Roman Nacht der Schatten von F. R. Lockridge (eigentlich Richard Orson Lockridge; * 26. September 1898 in Missouri; ? 19. Juni 1982 in South Carolina) erschien erstmals im Jahr 1962; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte 1964. Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
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Erstes Kapitel
Das Haus, das er suchte, schien ganz am Ende des Blockes zu liegen. Fast schon Ecke Madison Avenue, Aber wenn man einen Parkplatz suchte, konnte man es sich nicht leisten, wählerisch zu sein. Nicht in einer Stadt wie New York, wo die Parkplätze Seltenheitswert besaßen. Er fuhr ein Stück an der Lücke vorbei, bis er sich auf gleicher Höhe mit dem Steuer eines Kleinwagens befand. Er hoffte, dass der Platz für seinen Sportwagen ausreichen würde. Dann bremste er, schlug scharf ein und setzte zurück. Der rechte Hinterreifen prallte unsanft gegen die Bordschwelle. Er fuhr wieder ein Stück vor, drehte das Steuer bis zum äußersten Radius und glitt hinein - der Reifen hatte zwar unter misstönendem Quietschen den Kantstein gestreift, aber Hauptsache - es war geschafft! Er schaltete den Motor ab und trocknete sich die Stirn. Jetzt, in der zweiten Septemberhälfte, war es plötzlich noch einmal Sommer geworden. Mit aller Macht sogar. Wie ein wildes Tier hatte die sengende Hitze New York angefallen. Ein schwüler Samstag wie der heutige bedeutete für alle, die arbeiten mussten, eine Qual. Auf der Straße war es kaum auszuhalten. Auch wenn es lange her war, so hätte er sich doch erinnern müssen, wie drückend heiß es hier sein konnte. Es wäre klüger gewesen, das Verdeck seines Kabrioletts nicht zu öffnen. An jeder roten Ampel war er sich auf seinem glühenden Ledersitz vorgekommen wie ein Hähnchen am Spieß. Er hätte den Wagen überhaupt von vornherein in der Garage stehen lassen sollen. Weshalb war er bloß nicht auf die Idee gekommen, ein Taxi zu nehmen, das ihn bequem direkt vor der Haustür absetzte? Dann wäre es ihm erspart geblieben, sich im wahrsten Sinne des Wortes im Schweiße seines Angesichts einen Parkplatz zu erkämpfen. Der obendrein noch weiß Gott wie weit von seinem Ziel entfernt lag. Er fand sich im Großstadttrubel einfach nicht mehr zurecht, stellte Evans Parten reumütig fest; er benahm sich wie ein Bauernbursche, der zum ersten Mal nach New York kam. Am Mittwoch war er klüger gewesen. Da war er zu Fuß gegangen. Den Wagen hatte er friedlich in der kühlen, dunklen Garage zurückgelassen. Am Mittwoch... Er war die Fifth Avenue hinuntergegangen. Der Wind hatte ihm den Sand ins Gesicht getrieben. Erstaunlich, was für ein steifer Wind hier in New York blasen konnte! Er hatte sich noch darüber gewundert. Ebenso, wie darüber, dass es im Herbst noch derart sommerlich schwül sein konnte. Ohne bestimmtes Ziel war er müßig dahingeschlendert. So, als wolle er sich die Stadt zurückerobern. Sie hatte ihm gehört - erstarrt hatte sie in der Hitze dagelegen. Sich taumelig vom Hauch des Hurrikans erholend, der sie gestreift hatte und dann an ihr vorbeigebraust war. Unmittelbar vor der St.-Patricks-Kathedrale war es dann passiert. Ein Windstoß hatte ihm das winzige Persönchen fast in die Arme geweht. Ihr leuchtendblauer Mantel war vor ihr her geflattert. Langes, braunes Haar fiel ihr über das zarte Gesicht, nahm ihr die Sicht. Mit einer feingliedrigen, kleinen Hand versuchte sie vergeblich die ungehörigen Strähnen einzufangen. Sie schien es eilig zu haben. Ihre hohen Absätze klapperten ein schnelles Stakkato über das Pflaster. Es war ihr Schritt, ihr Gang, der die Erinnerung in ihm wachrief - eine verschwommene, höchst unscharfe Erinnerung, noch ehe er ihr halb abgewandtes, unter der wilden Haarmähne verborgenes Gesicht gesehen und erkannt hatte. Er war bereits ein Stück an ihr vorbeigegangen, als ihn die Erkenntnis plötzlich wie ein Blitz durchzuckte. »Alison!«, rief er aus. »Alison Kent!« Im ersten Augenblick hatte er das peinliche Gefühl, er müsse sich geirrt haben. Sie reagierte überhaupt nicht. Dabei konnte sie seinen überraschten Ausruf unmöglich überhört haben. Jeder, der unvermutet bei seinem Namen gerufen wird, schaut unwillkürlich auf. Ein reiner Reflex. Sie nicht! Dann aber zögerte sie doch, blieb stehen und wandte sich halb um. Ein Mann rannte in sie hinein, entschuldigte sich mit einem flüchtig gemurmelten »Pardon!« und eilte weiter. Auch er hatte sich umgewandt und sah ihr nun erwartungsvoll entgegen. Sie schüttelte ihr flatterndes Haar zurück, blickte ihn an, und in ihren Augen leuchtete ein jähes Erkennen auf. »Mein Gott!«, flüsterte sie. »Du!« »Ja, nach so langer Zeit«, gab er zurück. Und eigentlich hatten seine Worte nicht mehr zu bedeuten als das hastig hingeworfene Pardon des Mannes eben. »Ich dachte, du wärst begann er, brach aber ab. Denn im gleichen Augenblick sagte Alison Kent: »Aber ich glaubte, du wärst Auch sie beendete ihren Satz nicht. Sie standen, da und sahen sich gegenseitig an. Nach einigen Sekunden brachen sie gleichzeitig in helles Lachen aus. Er schaute von seiner stolzen Höhe von einsvierundneunzig auf. sie herunter, sie von ihren winzigen einsneunundfünfzig zu ihm auf. Leute stießen sie an oder kamen gerade noch mit einer raschen Schulterdrehung an ihnen vorbei. Je nach Naturell murmelten sie eine kurze Entschuldigung oder brummten eine unwirsche Verwünschung vor sich hin. Ein Pärchen, das wie festgewurzelt dastand und sich schweigend anstarrte, bildete mitten im dichtesten New Yorker Mittagsverkehr ein entschiedenes Verkehrshindernis. Nach einer Weile zuckte ein Lächeln um Alisons Mund. Und Evans erinnerte sich plötzlich wieder an dieses feine Lächeln, das von ihren Augen ausgehend schließlich das ganze Gesicht erhellte. Als ob er es nicht drei Jahre hindurch vollkommen vergessen hätte. Ein niedliches junges Ding, das ihm irgendwann einmal aufgefallen war. Wo war es eigentlich gewesen? Auf irgendeiner Party wahrscheinlich. Bei wem, wollte ihm im Augenblick nicht einfallen. Ein attraktives junges Mädchen, mit dem man zwei-, dreimal tanzen ging. Das man drei-, viermal zum Essen ausführte. Ein junges Mädchen, das noch sehr, sehr jung gewesen war und kurz vor dem Abschlussexamen der Dyckman Universität gestanden hatte. »Nun?«, meinte sie und wartete lächelnd ab. »Hübscher denn je«, ging er gehorsam auf die erwartungsvolle Frage in ihren Augen ein. »Aufmerksam wie immer«, wehrte sie ab, in der Hoffnung, er möchte ihr widersprechen und sein Kompliment möglichst noch einmal wiederholen. »Im Gegenteil, es war vollkommen ernst gemeint!« Sie strahlte. Ein Windstoß fuhr in ihre langen Locken und pustete sie ihr abermals ins Gesicht. Sie war so zierlich, dass sie fast unter diesem heißen Hauch zu schwanken schien. Er legte seine Hand auf ihre Schulter. Als wolle er sie stützen, vielleicht sogar beschützen. Die flüchtige Berührung rief eine andere Erinnerung in ihm wach. Es war wundervoll gewesen, mit Alison zu tanzen. Trotz ihres Größenunterschiedes. Eigentlich passen wir gar nicht zusammen«, hatte sie einmal geklagt. Wann war das doch gewesen? Ach ja, das letzte Mal, als sie zusammen ausgegangen waren! Am Abend bevor er nach Los Angeles abgeflogen war. Eigenartig, dass die Erinnerung jetzt so lebendig vor ihm stand. Nachdem er es all diese Jahre so vollständig vergessen gehabt hatte. Vergessen - nicht nur diesen letzten Abend - alles -, sogar das Mädchen selbst. Nicht, dass viel zum Erinnern dagewesen wäre! Ein wenig Tanzen, einige wenige Diners. Dass sie Alison Kent hieß und ein verteufelt hübsches Mädchen war, hübsch und unwahrscheinlich jung. Zu jung für einen Mann mit einem - zugegeben nagelneuen - Doktor der Naturwissenschaften der Technischen Hochschule in Boston und einem mit Gleichungen und Formeln vollgestopften Kopf. »Alison«, meinte er, »hier wehen wir ja fort! Wollen wir nicht irgendwo zusammen zu Mittag essen?« Seine Einladung überraschte ihn selbst ein wenig. Na, und wenn schon - er hatte ja sowieso nichts vorgehabt. Sie schüttelte jedoch den Kopf. Einen gut geschnittenen, kleinen Kopf - musste er denken. Feine, klare Züge. Damals war ihm das gar nicht so aufgefallen. Andererseits konnte sie sich doch nicht so sehr verändert haben? Und trotzdem: irgendetwas an ihr war verändert. Nun gut, sie war noch hübscher geworden, von einer etwas nichtssagenden, hohlen Schönheit. Und hübsch war sie heute auch, nur vielleicht ausgeprägter, charaktervoller in ihren Zügen und dabei noch genauso schlank und grazil. Aber jetzt ging noch etwas anderes von ihr aus, irgendwie Zwingenderes, grübelte Evans Parten. Diesmal würde er sie nicht mehr einfach sang- und klanglos vergessen. »Warum denn nicht?«, fragte er laut. Sie fuhr mit beiden Händen in die zerzauste Lockenfülle. »Kann nicht! Dauerwelle«, erklärte sie und wies auf die riesige Fassade des Saks-Kaufhauses der Fifth Avenue. Dann warf sie einen Blick auf ihre kleine, goldene Armbanduhr. »Ich bin sowieso schon zehn Minuten zu spät! Und ich...« »Dann morgen, ja?« Abermals schüttelte sie bedauernd den Kopf. »Nein, morgen geht es leider auch nicht.« »Dann nimm einmal an, ich wäre die ganze Woche durchgegangen, hätte dir jeden einzelnen Tag vorgeschlagen«, lächelte er. »Bis, sagen wir, nächsten Dienstag. Wann würde es dir einmal passen? Oder soll ich alle Tage für dich reservieren?« »Samstag«, erwiderte Alison. »Bis dahin werde ich auch wieder in meine Wohnung eingezogen sein. Aber wir können uns ebenso gut irgendwo, in der Stadt treffen. Was schlägst du »Ich pflege Damen, die ich zum Essen einlade, auch abzuholen«, scherzte er. »Also - wo?« Sie sah schon wieder auf die Uhr. Wahrscheinlich ganz unbewusst, überlegte Evans. »Komm, gehen wir«, sagte er und hakte sie unter. So gingen sie die Fifth Avenue entlang und überquerten die 50. Straße, denn das Kaufhaus lag auf der anderen Straßenseite. Auf der Kreuzung wandte Alison...




