E-Book, Deutsch, 245 Seiten
R. Lockridge DER GELBE MANTEL
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7554-2597-7
Verlag: BookRix
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Der Krimi-Klassiker!
E-Book, Deutsch, 245 Seiten
ISBN: 978-3-7554-2597-7
Verlag: BookRix
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Ein sonniger Nachmittag in New York... Loren Hartley erwacht auf einer Bank im Park. Bestürzt stellt sie fest, dass in ihrer Erinnerung ein paar Stunden fehlen. Wo war sie? Was hat sie getan? Und was bedeuten die dunklen Flecken auf ihrem Mantel? Die Antworten auf diese Fragen sind entscheidend für Loren. Denn während des verschwundenen Nachmittags wurde ihr reicher Onkel erstochen... Der Roman Der gelbe Mantel von F. R. Lockridge (eigentlich Richard Orson Lockridge; * 26. September 1898 in Missouri; ? 19. Juni 1982 in South Carolina) erschien erstmals im Jahr 1964; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1965. Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.
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Erstes Kapitel
Ihr war entsetzlich heiß, und ihr Kopf schmerzte, als wolle er zerspringen. Das war das erste, was sie empfand, als sie aufwachte, dann ein scheußliches Schwindelgefühl. Ich bin eingeschlafen, dachte sie. Es muss... Ja, was? Sie konnte sich an nichts erinnern. Es war, als träume sie immer noch einen verschwommenen, nebelhaften Traum. Alles entglitt sofort wieder, wollte sie es fassen. Sie versuchte zu denken: Ich träume, dass ich hier aufwache, benommen von der glühenden Sonnenhitze. Ich träume es nur, später, gleich werde ich richtig aufwachen, mich zwingen aufzuwachen, damit der Traum, der fürchterliche Traum ein Ende nimmt. Sie schlug die Augen auf, und das Schwindelgefühl wurde so übermächtig, dass sie zu fallen fürchtete. Sie lag auf einer Parkbank, fest an die Rückenlehne geklammert. Die Sonne stach unbarmherzig auf sie herab. Sie setzte sich auf, hob unwillkürlich die Hand vor die Augen, um sie vor der gnadenlosen Helligkeit zu schützen, und blieb einen Augenblick einfach so hocken. Dann ließ sie die Hand sinken, sah sich um und erkannte, wo sie sich befand. Im Bryant Park, unmittelbar hinter der Bibliothek. Auf der Bank gerade gegenüber, auf der anderen Seite des Weges, saß ein dicker Kerl. Den Mund halb offen, döste er im Sonnenschein vor sich hin. Er trug ein Sporthemd, am Hals weit offen, darüber einen Pullover. Sie konnte an ihm vorbei, über die weiten Rasenflächen hinweg bis zur 40. Straße sehen. Sogar das hohe, schmalbrüstige Bürohaus war von hier aus zu erkennen. Ich muss, überlegte sie, auf dem Nachhauseweg vom Büro aus durch den Park gegangen sein, vielmehr begonnen haben, den Park zu durchqueren, obwohl ich doch sonst gar nicht hier entlanggehe; ich muss mich hierher, auf diese Bank gesetzt haben und plötzlich eingeschlafen sein und mich im Schlaf ausgestreckt haben. Ja, so muss es gewesen sein. Eingeschlafen, wie der fette Mann dort drüben. Ein widerwärtiger Kerl; abstoßend hässlich, das Gesicht mit grauen Bartstoppeln überdeckt. Mir ist das alles unbegreiflich. Dass ich das getan haben soll! Ich muss krank sein. Ja, das wird es sein. Irgendetwas Furchtbares, Unerklärliches ist mit mir vorgegangen. In einem Anfall von Verzweiflung hob sie beide Hände und bewegte die Finger, als schreibe sie auf einer unsichtbaren Schreibmaschine in der Luft. Die Finger gehorchten ihr, die Arme auch. Sie blickte auf ihre Beine, und sekundenlang fürchtete sie sich davor, sie zu bewegen. Dann versuchte sie es. Es ist kein Schlaganfall. Ich bin nicht gelähmt, dachte sie weiter. Sie blickte auf ihre Armbanduhr. Zwanzig nach fünf. Zwanzig nach fünf am hellen Nachmittag. Ich muss fast zwei Stunden hier gelegen haben, überlegte sie weiter. Onkel Alex wollte so zeitig gehen, dass er bequem den Halb-Vier-Uhr-Zug nach Stamford erreichen konnte, um noch seine neun Löcher Golf zu spielen. Ich muss kurz nach ihm gegangen sein, und... Nein, rief sie sich zur Ordnung, daran erinnere ich mich ja gar nicht. So hätte es gewesen sein können, so hätte es sein sollen, aber ich kann mich nicht daran erinnern, nach dem Mittagessen ins Büro zurückgegangen zu sein. Und dann fiel es ihr plötzlich wieder ein... »Ich gehe heute etwas früher«, hatte ihr Onkel erklärt. »Du brauchst nachher nicht mehr zu kommen. Es ist nicht dringend, alles hat Zeit bis Montag.« »Ich habe noch ein paar Briefe zu erledigen, besser ich schreibe sie, solange ich mein Stenogramm noch lesen kann«, hatte sie entgegnet. Er hatte belustigt aufgelacht. Das könne sie halten, wie sie wolle, hatte er gemeint, aber nötig sei es wirklich nicht. »Kommst du zum Wochenende nach Hause?«, hatte er dann noch wissen wollen. Und in ihr war der Anflug von Aufsässigkeit aufgeflackert, den sie so häufig verspürte, der unter der ruhigen Oberfläche ihres Empfindens sprungbereit auf der Lauer zu liegen schien. Für ihren Onkel war sie nicht sie selbst, nicht das Wesen aus Fleisch und Blut, das vor ihm stand. Für ihn war sie das kleine Mädchen, das er und Tante Harriet großgezogen hatten. Mit Liebe und – oh, unendlicher Fürsorge! Mit behutsamer, schützender Fürsorge; Fürsorge, die einen zu ersticken schien und die kompromisslos besitzergreifend war. Nach Hause kommen, zum Wochenende? Zu Hause, das war ihre eigene kleine Wohnung. Zu Hause war, wo sie wohnte. Wo sie jetzt allein wohnte. Nicht das große Haus draußen in North Stamford, wo ein kleines Mädchen mit seinem Onkel und seiner Tante gelebt hatte, beide alt genug, um ihre Großeltern zu sein. Es ist dumm, ja unfair, es jemandem zu verübeln, dass er einen liebt, sagte sie sich reuevoll an diesem Freitagnachmittag Mitte Juni. Liebe gleichzustellen mit Besitzergreifen, das waren Backfisch-Vorurteile. Inzwischen sollte sie wirklich darüber hinaus sein. Es lag wohl daran, überlegte sie, dass ich mich nicht wirklich gelöst, mich nicht ganz selbständig gemacht habe; dass ich zur Sekretärin ohne tatsächliche Aufgaben und Pflichten geworden bin. Diese Briefe, die sie nach Tisch noch schreiben wollte, waren ja im Grunde genommen gar keine Geschäftsbriefe. Dieses Büro – das prachtvolle, geschmackvoll ausgestattete Büro – war ja nichts anderes als eine fromme Selbsttäuschung ihres Onkels; der Strohhalm, an den er sich klammerte, weil es die einzige Brücke zu dem geschäftigen Leben um ihn herum bildete. Die Stellung, die er ihr bot, hatte er ihr doch nur gegeben, um sie in seiner Nähe zu halten. Es war so leer dort draußen in dem großen Haus, seit Tante Harriets Tod. Es war schon am besten für ihn, jeden Morgen mit dem Halb-Zehn-Uhr-Zug in die Stadt zu fahren und meist nachmittags um vier Uhr siebenundvierzig wieder zurück. So war er nicht völlig ausgeschlossen von allem, nicht abgekapselt in seinem großen, leeren Haus, wie in einem luftleeren Raum. Der Mensch braucht Luft zum Atmen. Nötig hatte er es nicht gehabt, zu arbeiten. Er hätte sich auch so jeden Wunsch erfüllen können. »Ich weiß noch nicht, vielleicht komme ich«, hatte sie auf seine Frage geantwortet. »Kann ich dich morgen früh anrufen?« »Nicht nötig«, hatte er erwidert. »Wenn du Lust hast, komm einfach.« »Ich rufe in jedem Fall an«, hatte sie zurückgegeben, weil sie wusste, dass er es liebte, seine Zeit einzuteilen, Verabredungen festzulegen. »Wahrscheinlich komme ich. Aber ich melde mich vorher noch.« Alexander Hartley war ein hochgewachsener Mann Ende Sechzig. Sein dichtes weißes Haar unterstrich noch seine frische Gesichtsfarbe, den sonnengebräunten Teint des Golfspielers, der halbe Tage an der frischen Luft verbringt. Hätte man ihn charakterisieren wollen, man hätte nicht lange zu überlegen brauchen, dachte sie mit einer gewissen Zärtlichkeit. Onkel Alex war Vorsitzender verschiedener Aufsichtsräte. Er war ein Mann, der seinen Geschäften in einem repräsentablen Büro nachging, und außerdem stand er als Vorsitzender jederzeit für Anfragen zur Verfügung. Er hatte ihr wohlwollend zugenickt und damit gleichermaßen seiner Anerkennung für ihren Arbeitseifer Ausdruck gegeben, wie auch dem Dank für ihr halbes Versprechen, zu ihm hinauszukommen, oder wenigstens anzurufen. »Stelle doch bitte die Klimaanlage an, bevor du gehst, ja?«, bat er. Sie ging und ließ ihn hinter seinem Schreibtisch zurück. Als sie das Vorzimmer durchquerte, schaltete sie den Wärmeregler ein, und sofort ertönte das tiefe, gleichmäßige Summen der Anlage. Es muss herrlich sein heute draußen auf dem Land, dachte sie. Wenn der Wetterbericht recht behält, wird es morgen noch heißer. Ich habe nicht das Geringste zu tun in der Stadt, überlegte sie weiter, außer heute Abend natürlich. Zu dumm, dass Peter ausgerechnet dieses Wochenende nach Washington musste. Und in Washington wird die Hitze noch viel unerträglicher sein. Armer Peter! Sie zog den leichten Sommermantel über. Heute früh hatte sie noch geglaubt, dass sie ihn brauchte. Der Luftzug durch das offenstehende Schlafzimmerfenster war ziemlich kühl gewesen. Schon kurz darauf allerdings, als sie auf den Bus wartete, war ihr klargeworden, dass ihr der Mantel gegen Mittag ausgesprochen lästig sein würde, so leicht er auch war. Dabei liebte sie ihn sehr. Er war so fröhlich, mit seinem zarten und doch leuchtenden Gelb. Eigentlich geradezu frech, zumindest auffallend. Nun, jetzt war es jedenfalls immer noch bequemer, ihn anzuziehen, als ihn über dem Arm zu tragen. Der einzige Lift des Bürohauses mit der schmalen Vorderfront war, wie immer freitags, gedrängt voll, als sie einstieg. Die Leute wirkten irgendwie ganz anders als sonst. Strahlende Mienen, eine gewisse gespannte Erwartungsfreude umgab Lorie. Als seien es völlig andere Menschen. Man konnte ihnen deutlich anmerken, dass für die meisten von ihnen das Wochenende bereits begonnen hatte. Immer wieder fiel ihr auf, wie sehr sich dieses alte Bürohaus von den meisten anderen großen, modernen in New York unterschied. Es ging darin weniger emsig, hastig, atemlos zu. Dem Gebäude und den Angestellten haftete eine gewisse Würde an. Ich bin einfach noch zu jung für eine solche ehrbare, gelassene Würde, dachte sie. Sie wandte sich in Richtung der Fifth Avenue, der gelbe, leichte Mantel flatterte. Ungefähr auf der Höhe von Schrafft’s bog sie in die Fifth Avenue ein. Als sie eben die steinernen Löwen, diese beiden pompösen Dinger, erreicht hatte, hörte sie ihren Namen rufen. »Lorie! Lorie Hartley!« Eine Frauenstimme,...




