E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Quinn Ismael
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-641-16214-6
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-641-16214-6
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Daniel Quinn, ein ehemailger Trappistenmönch, hat fünfzehn Jahre an dem Roman "Ismael" gearbeitet und wurde 1991 dafür mit dem Ted Turner Award, dem höchstdotierten Literaturpreis Amerikas, ausgezeichnet. Er lebt in Houston, Texas.
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Eins
1
Als ich die Anzeige zum erstenmal las, blieb mir die Luft weg, und ich spuckte und fluchte und schleuderte die Zeitung auf den Boden. Als nicht einmal das genug schien, hob ich die Zeitung wieder auf, marschierte in die Küche und stopfte sie in den Müll. Einmal dort, machte ich mir eine Kleinigkeit zum Frühstück und versuchte, mich zu beruhigen. Ich aß und dachte an etwas völlig anderes. Jawohl. Dann fischte ich die Zeitung aus dem Müll und blätterte wieder zu den Kleinanzeigen. Ich wollte nur sehen, ob das blöde Ding noch da war und ob ich richtig gelesen hatte. Ich hatte.
Lehrer sucht Schüler
mit ernsthaftem Verlangen,
die Welt zu retten.
Persönliche Bewerbung erwünscht.
Mit ernsthaftem Verlangen, die Welt zu retten. Das war gut. Das war unfaßbar. Mit ernsthaftem Verlangen, die Welt zu retten – wirklich genial. Bis Mittag würden zweihundert Idioten, Trottel, Gimpel, Simpel, Schwachköpfe und andere Hornochsen an der angegebenen Adresse Schlange stehen, bereit, ihre sämtlichen irdischen Güter dem erlesenen Privileg zu opfern, zu Füßen irgendeines Gurus zu sitzen, der mit der Botschaft schwanger ging, alles würde gut werden, wenn nur jeder seinen Nachbarn in die Arme schloß.
Man fragt sich: Was regt der Mann sich so auf? Warum ist er so bitter? Eine berechtigte Frage. Ich habe sie mir übrigens selbst gestellt.
Die Antwort ist in der Vergangenheit zu suchen, denn vor zehn, zwanzig Jahren glaubte ich in meiner Einfalt noch, das Wichtigste, das ich überhaupt bräuchte, sei ... ein Lehrer. Jawohl. Ich glaubte, ich bräuchte einen Lehrer – und zwar ganz dringend. Einen, der mir zeigte, wie man ... na ja, wie man die Welt rettete.
Blöd, was? Kindisch, naiv, unreif. Oder einfach gottserbärmlich dumm. Bei jemandem, der sonst so offensichtlich normal ist, bedarf das der Erklärung.
Also das kam so.
Als in den sechziger und siebziger Jahren die Kinder revoltierten, war ich gerade alt genug, um zu verstehen, was sie wollten – sie wollten die Welt auf den Kopf stellen –, und gerade noch jung genug, um zu glauben, es könnte ihnen gelingen. Wirklich. Wenn ich am Morgen die Augen aufmachte, erwartete ich, daß das neue Zeitalter bereits begonnen hatte, daß der Himmel noch blauer leuchtete und das Gras noch grüner war. Ich erwartete, daß die Luft vor Lachen vibrierte und die Menschen auf der Straße tanzten, und zwar nicht nur die Kinder, sondern alle! Ich entschuldige mich nicht für meine Naivität. Wer sich die Lieder anhört, die damals gesungen wurden, weiß, daß ich mit meinen Träumen nicht allein war.
Dann eines Tages, ich war so um die fünfzehn, wachte ich auf und wußte, daß die neue Zeit nie anbrechen würde. Die Revolte war nicht niedergeschlagen worden, sondern war von selbst zu einer leeren Floskel verkümmert. War ich vielleicht der einzige Mensch auf der ganzen Welt, der dabei seine Illusionen verlor? Seine Orientierung? Anscheinend ja, denn alle anderen taten das Ganze mit einem zynischen Grinsen ab, das soviel sagte wie: »Was hast du denn erwartet? Es war nie mehr als das und wird auch nie mehr sein. Keiner will die Welt retten, denn keiner schert sich einen Dreck um die Welt. Das war alles nur das Gerede dummer Kinder. Such dir einen Job, verdiene Geld, arbeite, bis du sechzig bist, und beende dein Leben dann in Florida.«
Ich konnte es nicht wie die anderen mit einem Schulterzucken abtun, und in meiner Unschuld glaubte ich, irgendwo müsse es einen Menschen im Besitz einer geheimen Weisheit geben, der meine Desillusion und Orientierungslosigkeit vertreiben könne: einen Lehrer.
Natürlich gab es keinen solchen Lehrer.
Ich wollte keinen Guru oder Kung-Fu-Meister oder geistigen Führer. Ich wollte nicht Zaubern lernen oder die Kunst des Bogenschießens, ich wollte nicht lernen, wie man meditiert, seine Chakras ins Gleichgewicht bringt oder sich an frühere Inkarnationen erinnert. Solche Künste und Disziplinen sind im Grunde egoistisch, ihr Ziel ist der Nutzen des Schülers – nicht der Welt. Ich war hinter etwas ganz anderem her, aber ich konnte es weder im Branchenverzeichnis noch sonstwo finden.
In Hermann Hesses Morgenlandfahrt erfährt man nie, was Leos große Weisheit ausmacht. Hesse konnte es nicht sagen, weil er es selbst nicht wußte. Es ging ihm wie mir; er sehnte sich nach einem Menschen wie Leo, jemandem mit einer geheimen Weisheit und einem Wissen, das über sein eigenes hinausreichte. In Wirklichkeit gibt es ein solches Geheimwissen natürlich gar nicht; keiner weiß etwas, das man nicht auch in den Regalen einer öffentlichen Bücherei finden kann. Aber das wußte ich damals noch nicht.
Ich suchte also weiter, so blöd das heute auch klingt. Die Suche nach dem Gral wäre vergleichsweise sinnvoller gewesen; man stelle sich bloß vor, was der Gral an einem gutem Tag bei Sotheby hätte bringen können. Ich will nicht darüber reden, es ist mir peinlich. Ich suchte weiter, bis ich klüger war. Ich hörte auf, einen Narren aus mir zu machen, aber etwas in mir war tot – etwas, das ich irgendwie gern gehabt und bewundert hatte. Statt dessen war da jetzt eine Narbe – eine verhärtete Stelle, die aber zugleich auch empfindlich war.
Und jetzt, Jahre, nachdem ich das Ganze aufgegeben hatte, suchte hier ein Scharlatan über eine Zeitungsanzeige genau jenen jungen Träumer, der ich vor fünfzehn Jahren gewesen war.
Aber das erklärt eigentlich noch immer nicht meine Wut.
Versuchen wir es damit: Du liebst jemanden seit zehn Jahren – jemanden, der gerade mal weiß, daß es dich gibt. Du hast alles getan und alles versucht, diesem Jemand zu zeigen, daß du eine nette Person bist, die man gern haben muß, und daß deine Liebe etwas wert ist. Dann schlägst du eines Tages die Zeitung auf und überfliegst die Kleinanzeigen, und auf einmal siehst du, daß die von dir geliebte Person eine Anzeige veröffentlicht hat, in der sie jemanden sucht, der es wert ist, von ihr geliebt zu werden.
Ich weiß, es ist nicht genau dasselbe. Wie konnte ich erwarten, daß dieser unbekannte Lehrer sich ausgerechnet mit mir in Verbindung setzen würde, statt in einer Anzeige nach einem Schüler zu suchen? Und umgekehrt, wenn er ein Scharlatan war, wie ich vermutete, was hätte mir überhaupt daran liegen sollen, daß er sich mit mir in Verbindung setzte?
Wie auch immer, mein Verhalten ließ sich nicht erklären. So was kommt vor.
2
Natürlich mußte ich hin, mußte ich mich vergewissern, daß wieder nur alles Schwindel war. Verständlich, oder? Eine halbe Minute würde genügen, ein einziger Blick, zehn Worte aus seinem Mund. Dann würde ich Bescheid wissen. Dann würde ich heimgehen und die Sache vergessen.
Dort angekommen, stand ich zu meiner Überraschung vor einem ganz gewöhnlichen Bürogebäude, in dem zweitklassige Presseagenten, Anwälte, Zahnärzte, Reiseunternehmer, ein Chiropraktiker und ein oder zwei Privatdetektive ihre Praxen und Büros hatten. Ich hatte etwas mit mehr Atmosphäre erwartet – zum Beispiel ein Haus aus braunem Sandstein mit holzgetäfelten Wänden, hohen Decken und heruntergelassenen Jalousien. Ich suchte nach Suite Nr. 105 (obwohl davon in der Anzeige offen gesagt nicht die Rede gewesen war). Ich fand den Eingang auf der Rückseite des Hauses, wo die Fenster auf eine enge Gasse gingen. An der Tür stand nichts. Ich öffnete sie und betrat einen leeren Raum. Er war ungewöhnlich groß, weil man einige Zwischenwände herausgenommen hatte, deren Spuren noch auf dem nackten Holzfußboden zu sehen waren.
Das war mein erster Eindruck: Leere. Der zweite betraf den Geruch. Der Raum roch nach Zirkus, nein, nicht nach Zirkus, sondern nach Menagerie, unmißverständlich, aber nicht unangenehm. Ich sah mich um. Das Zimmer war nicht vollständig leer. An der Wand links befand sich ein kleines Bücherregal mit dreißig bis vierzig Büchern, die meisten über Geschichte, Frühgeschichte und Anthropologie. In der Mitte stand einsam ein Polstersessel, der Wand rechts zugewandt, wie ein Überbleibsel, das beim Umzug zurückgelassen worden war. Der Sessel war zweifellos für den Meister reserviert. Die Schüler würden im Halbkreis vor ihm auf Matten knien oder liegen.
Und wo waren die Schüler, die zu Hunderten kommen würden, wie ich prophezeit hatte? Waren sie vielleicht schon dagewesen und wie die Kinder von Hameln entführt worden? Die unberührte Staubschicht auf dem Boden sprach dagegen.
Irgend etwas an dem Raum war seltsam, aber ich mußte mich noch einmal umsehen, ehe ich draufkam, was es war. Die der Tür gegenüberliegende Wand wurde von zwei hohen Flügelfenstern unterteilt, durch die schwaches Licht von der Gasse hereindrang. Die Wand links, an die das benachbarte Büro grenzte, war fensterlos. In die Wand rechts war ein einzelnes Spiegelglasfenster eingelassen, das ganz offensichtlich nicht nach draußen führte, da es überhaupt kein Licht hereinließ. Es war ein Fenster in ein angrenzendes Zimmer, das noch dunkler war als der Raum, in dem ich stand. Ich überlegte, welche Reliquie dort wohl der Berührung neugieriger Hände entzogen war. Vielleicht ein einbalsamierter Yeti oder ein Schneemensch aus Katzenfell und Pappmache? Oder die Leiche eines Ufonauten, den ein Milizionär der Nationalgarde erschlagen hatte, bevor er seine erhabene Botschaft von den Sternen verkünden konnte (»Wir sind Brüder. Tut mir nichts.«)?
Da es hinter dem Fenster dunkel war, erschien das Glas der Scheibe schwarz, opak und reflektierend. Ich trat näher, versuchte aber nicht hindurchzusehen; schließlich war ich wahrscheinlich derjenige, der beobachtet wurde. Als ich vor der Scheibe stand, starrte ich einen Augenblick lang in meine...