Quindlen Ein Jahr auf dem Land
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-641-13697-0
Verlag: DVA
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-641-13697-0
Verlag: DVA
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Rebecca Winter steht an einem Wendepunkt: Von ihrem Mann ist sie geschieden, für ihren erwachsenen Sohn nicht mehr unentbehrlich, und als Künstlerin hat sie längst ihren Zenit überschritten. Jahrelang lebte die berühmte Fotografin sorglos von den üppigen Einkünften eines Schnappschusses. Aber nun ist der Geldstrom versiegt. Notgedrungen beschließt sie, ihr New Yorker Apartment zu vermieten und für ein Jahr in ein kleines Haus fernab der Stadt zu ziehen. Der unfreiwillige Landaufenthalt ist kein Spaziergang im Central Park - und doch beschert er Rebecca eine unverhoffte Liebe, neue Inspiration und den Mut, unbekannte Wege zu beschreiten ...
In 'Ein Jahr auf dem Land' zeigt sich Anna Quindlen auf der Höhe ihrer Kunst. Schon ihre früheren Romane überzeugten durch Wärme und Intellekt, doch dieser - so die New York Times - 'glänzt darüber hinaus noch mit Humor und Prägnanz'. Ein klug unterhaltender Roman, ein Plädoyer dafür, sein Leben in die Hand zu nehmen und sich immer wieder neu zu erfinden.
Anna Quindlen, Jahrgang 1952, gehört in den USA zu den wenigen ganz großen Autorinnen, die sowohl die Literaturkritik als auch das breite Publikum begeistern. Ihre Romane und Sachbücher erobern regelmäßig die amerikanischen Bestsellerlisten. Für ihre Kolumnen in der New York Times erhielt sie 1992 den Pulitzer-Preis. 'Die Seele des Ganzen' (1995) wurde unter dem Titel 'Familiensache' mit Meryl Streep verfilmt. Ihr Roman 'Ein Jahr auf dem Land' (2015) verkaufte sich eine viertel Million Mal in den USA und war auch in den deutschsprachigen Ländern ein Verkaufserfolg. 2016 folgte 'Unsere Jahre in Miller's Valley'. 'Ein Platz im Leben' (2018, erscheint 2019 auf Deutsch) ist ihr neuester Roman und stand wochenlang auf der New-York-Times-Bestsellerliste.
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ABGESCHNITTEN
Kurz nach zwei am frühen Morgen fuhr Rebecca Winter im Bett hoch. Ein Schuss hatte sie geweckt.
Genau genommen hatte sie natürlich keine Ahnung, wie spät es war. Nachdem sie das marode kleine Haus, das in einer Senke am Berghang stand, bezogen hatte, musste sie schon in den ersten zwei Tagen feststellen, dass der Küchenboden eine verdächtig weichliche Stelle aufwies, an dem Treppchen zum Garten hinunter eine Stufe wackelte und es im ganzen Schlafzimmer keine einzige Steckdose gab. Mit dem alten Wecker in der Hand, dessen nutzloses Kabel wie ein Schwanz über den Boden schleifte, stand sie da und drehte sich einmal um sich selbst, als könnte sie mit ein paar Drehungen und diversen leisen Verwünschungen doch noch eine Möglichkeit heraufbeschwören, ihn anzuschließen. Wie so vieles in Rebeccas Leben zu diesem Zeitpunkt begleitete auch der Wecker sie schon sehr viel länger, als er modern oder auch nur praktisch gewesen wäre.
Später sollte sie sich fragen, warum sie sich eigentlich nie einen batteriebetriebenen Digitalwecker mit Leuchtanzeige zugelegt hatte, wie es sie spottbillig in dem Walmart gab, der sich unweit des Highways, eine halbe Stunde Fahrt vom nördlichen Ortsrand entfernt, unübersehbar breitmachte. Aber das kam später.
Was nun den Schuss betraf: Rebecca Winter hatte eigentlich keine Ahnung, wie ein echter Schuss klingt. Sie hatte praktisch ihr ganzes Leben in New York verbracht, im westlichen Teil von Manhattan, mit Urlauben an der Küste von Long Island und gelegentlichen Ausflügen in die Provence oder in die Toskana. Das waren die üblichen Ferienziele in ihrem Bekanntenkreis. Alle redeten ständig darüber, wie herrlich es dort war, wie wunderschön die Strände, wie prächtig die Weinberge. »Herrrrlich«, sagten sie und schmeckten dem Wort dabei nach, so wie Peter, Rebeccas Mann, es immer mit dem ersten Schluck Wein machte, um mehr Kennerschaft vorzutäuschen, als er besaß; manchmal ließ er auch eine Flasche zurückgehen, schon aus Prinzip.
In ihrer Familie, die – wie sie als kleines Mädchen fand – diesen Namen kaum verdiente, weil sie ja nur aus Vater, Mutter und einem einzelnen Kind bestand, waren solche Reisen allerdings kein Vergnügen. Ihre Eltern waren zutiefst misstrauisch gegenüber allem, was auch nur entfernt nach »Natur« roch: Rebeccas Mutter fürchtete sich fast schon krankhaft vor Insekten, ständig musste der Portier kommen und Spinnen oder renitente Bienen entfernen, die sich vom Park hereingestohlen hatten. Ihr Vater litt unter zahllosen Pollenallergien und trug von März bis Oktober ein riesiges Taschentuch mit sich herum, als schwenkten seine Nebenhöhlen zum Zeichen der Kapitulation die weiße Fahne.
Von Zeit zu Zeit kam es natürlich vor, dass auf der Central Park West, dem Riverside Drive oder dem Broadway ein Geräusch ertönte und jemand fragte: »War das ein Schuss?« Besonders häufig passierte das zu der Zeit, als Rebecca gerade mit dem Studium fertig war und sich Leute, die nicht im Traum daran gedacht hätten, anderswo zu leben, plötzlich einig waren, die Stadt sei gefährlich und dreckig und werde zunehmend unbewohnbar. Am Ende kam man aber doch immer zu dem Schluss, dass der »Schuss« nur eine Fehlzündung gewesen war, eine zerschellte Flasche oder aber die Tür zum Keller, wo die Mülltonnen standen, die gegen die Wand geknallt war.
Was auch ausnahmslos jedes Mal der Fall war.
Trotzdem war Rebecca sich beinahe sicher, dass sie ein Schuss geweckt hatte, als sie jetzt in dem vom Stromnetz abgeschnittenen Zimmer stocksteif im Bett lag. Sie versuchte, auf ihre Armbanduhr zu schauen, doch die war klein und flach und golden wie ein ausgedientes Zehncentstück; sie hatte sie von ihren Eltern zur Hochzeit bekommen, als wäre die Ehe eine Art Ruhestand. Auf der Rückseite waren die Initialen R. W. S. eingraviert, ihr neues Monogramm, wie ihre Mutter sagte, ungeachtet der Tatsache, dass Rebecca ihren Namen behalten hatte. Trotzdem war die Uhr für Rebecca von großem sentimentalem Wert, vor allem, weil ihr Vater sie ausgesucht und es ihm so große Freude gemacht hatte, sie ihr zu schenken. »Eine richtige kleine Schönheit!«, hatte er gesagt, als Rebecca sie aus der Mahagonischatulle nahm. »Wasserdicht ist sie aber nicht«, ergänzte ihre Mutter.
Schon unter idealen Bedingungen konnte man auf dieser Uhr kaum etwas erkennen, geschweige denn jetzt, in einem von hohen Kiefern umstandenen Zimmer, unter der schweren Wolkendecke einer schwülen Mainacht, während sich am Himmel ein Gewitter zusammenbraute. Es war so dunkel, dass man kaum die Hand vor Augen sah. Rebecca hielt sich probehalber eine Hand vors Gesicht, wo sie schwach weißlich schimmerte. Sehen konnte sie sie, aber tatsächlich kaum.
Sie schlief nicht besonders gut in diesem fremden Bett mit dem Graben in der Mitte, in den sie jedes Mal rutschte, wenn sie sich umdrehte, fast wie die Abflussgräben draußen am Straßenrand. Rebecca wusste immer noch nicht, wie die Straße eigentlich hieß, an der das Haus lag. Es war die zweite Abzweigung von der 547, mehr wusste sie nicht. Danach nahm man die Einfahrt vorbei am Pumpenhaus. Was pumpte eigentlich das Pumpenhaus? Die Frage hatte sie beim Abbiegen laut gestellt. Geantwortet hatte keiner.
Wie kann man in einem Haus an einer Straße wohnen, deren Namen man nicht weiß? Wie kann man in ein Haus ziehen, das man nur von ein paar schmeichelhaften Fotos aus dem Internet kennt? Sie musste daran denken, wie sie einmal mit einem Kunstbuchverleger zum Lunch verabredet gewesen war und beim Warten hörte, was die Frau am Nebentisch ihrer Freundin erzählte. »Du gehst rein, und du kannst sie an der Bar nicht erkennen, weil sie völlig anders aussehen als auf dem Foto auf der Website«, sagte die Frau. »Völlig anders. Voll-kom-men anders.« Das Haus war die Immobilienversion eines Onlinedates: Auf Lügen gebaut, ging es unweigerlich steil bergab in die Ernüchterung. Oder in die Kapitulation. »Wir waren so glücklich dort«, hatte der Besitzer ihr gemailt und ein Foto angehängt, das zwei Männer Arm in Arm vor einem hohen Baum zeigte. Sie waren so glücklich dort, und dann waren sie fortgegangen und hatten die ganze gemütliche Einrichtung mitgenommen und durch zusammengewürfelten Kram aus dem Heilsarmeeladen ersetzt.
Als echtes Kind New Yorks glaubte Rebecca, die Bisse der Bettwanzen schon zu spüren.
Sie drehte sich um und rutschte in den Matratzengraben, der Schuss nur noch Erinnerung, vielleicht auch bloße Einbildung. Jetzt war es still. Aber es roch irgendwie. Es roch hier nach so vielem. Nach Schimmel, feuchtem Bettzeug, zertretenen Pflanzen. Nach den Bananen in der Glasschale neben der Spüle. Und darunter etwas anderes, vielleicht ein Stinktier oder Stinktierkohl. Draußen im Garten hatte Rebecca tief durchgeatmet. Es roch, als würde der ganze Wald ringsum nach und nach verfaulen.
Sie schnupperte hörbar – oder hätte hörbar geschnuppert, wenn jemand da gewesen wäre, um es zu hören. Rebecca war ganz allein. Sie redete sich ein, erstaunt zu sein, dass der Schuss sie nicht mehr erschreckt hatte. In Wahrheit hatte sie eine Heidenangst, doch das registrierte ihr Körper ohne Zutun ihres Bewusstseins, so wie sie nach der Scheidung plötzlich Rückenprobleme bekommen hatte, obwohl sie felsenfest überzeugt war, sich bestens zu schlagen. Statt eines Schlafanzugs trug sie ein altes T-Shirt, das an eine Ausstellung von Daguerreotypien in der New York Historical Society erinnerte, und eine noch viel ältere Baumwollunterhose. Ihre Beine unter der Wolldecke waren starr und steif wie Spazierstöcke. Die ländliche Stille zerrte an ihren Nerven. Sie empfand sie überhaupt nicht als friedlich, eher wie einen Fernseher, den man mit der Fernbedienung stumm geschaltet hat. Unvollständig. Das Handy funktionierte nicht im Haus, der Rechner genauso wenig. Sie hatte einen furchtbaren Fehler gemacht.
Zu dem Schluss war sie schon vor dem mutmaßlichen Schuss gekommen und vor den Geräuschen von oben, die auf ihn folgten.
Es hörte sich an, als raste über ihr eine U-Bahn viel zu schnell um die Kurve. Als leerte jemand eine Schublade mit schwerem Silberbesteck in einen großen Metallkübel. Oder als öffnete man in der Küche unbedacht die Tür zum Schrank mit dem Kochgeschirr, wenn drinnen alles wacklig ineinandergestapelt war. Benjamin hatte immer gern auf dem Fußboden gehockt und mit den Topfdeckeln gespielt. »Sind wir auch sicher, dass die ordentlich gespült wurden?«, erkundigte sich ihr Mann dann trocken. Peter war Engländer. Er kommentierte alles trocken. Natürlich erbot er sich nie, die Deckel selbst zu spülen, und Rebecca hätte ihm das auch nie vorgeschlagen. Sie war die Tochter ihres Vaters, die Friedfertigkeit in Person, und zwar um jeden Preis.
Die U-Bahn, das Silberbesteck, das Kochgeschirr oder was das da oben sonst sein mochte, polterte immer weiter. Auch der Geruch wurde stärker. Mühsam rappelte Rebecca sich etwas mehr auf und schaute hoch. Jeden Moment rechnete sie damit, dass die Decke auf sie herabstürzte, sie unter Putz und Dämmmaterial begrub, ein wahrer Schneesturm aus Zimmerwand. Sie sah es direkt vor sich, das kümmerliche blaue Plumeau, bedeckt von weißen Trümmern und Holzstückchen. »Voll ausgestattet«, hatte es in der Anzeige für das kleine Haus geheißen. Von wegen. Zwei Schlafzimmer, eine Bettdecke, und nicht mal eine besonders gute.
Dass ausgerechnet sie sich von ein paar Fotos hatte verführen lassen, im Grunde nur Schnappschüsse, kein einziges von Küche und Bad, dafür zwei von der Aussicht! Dieser Blick auf die Bäume und den kleinen Wasserlauf, der sich in der Ferne zwischen ihnen hindurchschlängelte, hätte doch Hinweis genug sein...