E-Book, Deutsch, 176 Seiten
Quartier Bleiben
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7365-0469-1
Verlag: Vier Türme
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Umarmen, was man sich nicht ausgesucht hat
E-Book, Deutsch, 176 Seiten
ISBN: 978-3-7365-0469-1
Verlag: Vier Türme
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Prof. Dr. Thomas Quartier OSB ist Mönch der Benediktinerabtei Abtei Keizersberg in Leuven im niederländischen Doetinchem. An der Katholischen Universität Leuven doziert er Monastische Studien sowie Liturgie- und Ritualwissenschaft an der Radboud Universität Nijmegen und ist Gastprofessor der Benediktinischen Universität Sant' Anselmo in Rom.
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Stabilität: Vom Bleiben
Wenn wir den Sinn unseres Lebenswegs infrage stellen oder aus den Augen verlieren, verlieren wir leicht den Boden unter den Füßen. Die Stabilität verschwindet aus unserem Leben, weil uns eine Perspektive abhandengekommen ist oder häufig sogar das Fundament unseres Seins. Praktische Probleme, mit denen wir konfrontiert werden, wachsen dann zu überlebensgroßen Schwierigkeiten heran, die uns an allem zweifeln lassen, was zuvor selbstverständlich war. Durch diesen Zweifel verschwindet zuweilen die Hoffnung, die uns auch große Herausforderung meistern lässt. Der ständige Wettlauf, der unser Leben bestimmt und zuvor vielleicht etwas war, das uns angespornt hat, erweist sich als ziellos. Hoffnung wäre, dass all unser Tun und Lassen ein Ziel hat. Ansonsten sehen wir keinen Ausweg mehr aus dem Ausweglosen. Wir wollen nur noch weglaufen. Jeder Mensch kennt wohl solche Situationen, in denen einem alles zu viel wird und Irritationen im Alltag auf einmal zu realen Bedrohungen werden. Details, die uns zuvor bedeutungslos schienen, vermiesen plötzlich nicht nur den Tag, sondern werfen einen dunklen Schatten auf alles. Die Begeisterung ist uns verlorengegangen, alles gerät ins Wanken, und nichts scheint mehr eine verlässliche Grundlage zu haben.
Der alte monastische Wert der Stabilität (stabilitas) bedeutet nicht einfach, dass man auch in schweren Zeiten durchhalten muss, koste es, was es wolle. Vielmehr ist die Stabilität, was das Kloster und die Gemeinschaft als Lebensraum angeht, ein Stehen auf festem Grund. Das meint zum einen, dass man mit beiden Beinen auf dem Boden bleibt, nicht ins Wanken gerät, auch wenn der Gegenwind aus unterschiedlichen Richtungen heftig bläst, auch wenn die Lebensumstände und meine Zweifel mich aus dem Gleichgewicht zu bringen drohen. Zum anderen meint Stabilitas das Bleiben, das Aushalten von allem, was kommt, auch wenn das alles andere als einfach und häufig auch mit Schmerzen und Leid verbunden ist. In der Regel Benedikts lesen wir als Grund für dieses Bleiben: »Wir wollen uns Gottes Unterweisung niemals entziehen und in seiner Lehre im Kloster ausharren bis zum Tod. Wenn wir so in Geduld an den Leiden Christi Anteil haben, dann werden wir gewürdigt, auch mit ihm sein Reich zu erben« (RB Prolog 50). Die streng anmutende Sprache ist in Wahrheit ein Plädoyer dafür, trotz aller Schwierigkeiten einen Weg zu suchen, den man gehen kann, auch wenn er nicht einfach ist. Das Leben an sich ist auch in schwierigen Zeiten in vielen Kleinigkeiten so schön und so gut, dass es sich lohnt zu leben, dass man auch in den schwierigsten Situationen Schönheit finden kann und Freude, dass es immer »ein Stück Himmel« gibt, das man sehen kann.
Das hört sich schön an, doch was, wenn wir nicht in der Lage sind, den Himmel in den Blick zu nehmen, für den das »Reich Christi« im Regeltext steht? »Sein Reich erben« – auch in der Bibel ist immer wieder die Rede vom »Reich Gottes«, dem »Himmel auf Erden«, den es zu gewinnen gilt. Das klingt sperrig, aber wenn wir es ins Heute übersetzen, meint es vielleicht nichts anderes, als nicht aus den Augen zu verlieren, dass es immer ein »Mehr« gibt in unserem Leben. Also nicht nur die Schwierigkeiten und ausweglosen Situationen, sondern auch die Schönheit und die Freude, die Verbundenheit mit anderen Menschen, die Nähe und ihre Liebe. »Himmel«, das steht für Unendlichkeit und die Gegenwart Gottes. Zugleich ist er jedoch auch sichtbar und zum Greifen nah. Er versinnbildlicht die endgültige Zukunft am Ende der Zeit, aber auch alles, was uns schon jetzt und hier geschenkt wird. Der Himmel spricht viele Menschen an, auch jene, die keinen festen Glauben haben. In den Himmel zu blicken bedeutet, Kraft zu schöpfen, um weitergehen zu können und manches zu relativieren. Er ist die endgültige Bestimmung, die jeden Tag schon anbricht, mit jeder kleinen Entscheidung, die wir treffen.
Manchmal fällt es uns jedoch schwer, diesen »Himmel auf Erden« zu sehen, weil es so dunkel um uns scheint oder weil er verstellt ist durch alles, was an uns zerrt und zehrt. Wir fühlen uns wie in einem Gefängnis, einem tiefen Loch, schauen nur auf die nächste Wand, vor unsere Füße. Doch um den Himmel wieder in den Blick zu bekommen, brauchen wir oft nur den Kopf zu heben und damit die Perspektive zu ändern.
Wenn wir zu schnell unterwegs sind, verdunkelt er sich und unsere Stabilität gerät ins Wanken. In ausweglosen Situationen geht es darum, unsere Entscheidungen nicht nur nüchtern abzuwägen, sondern Inspiration zuzulassen, die sich nur ergibt, wenn wir zu Ruhe kommen: das »Reich Gottes« auf der Erde. Sollte ein Kloster ein Aussichtspunkt auf den Himmel sein? Gerade die Stabilität der dortigen Lebensform kann zu einem spirituellen Lebensweg beitragen. Das erfährt Bruder Paulus in der folgenden Geschichte, in der sich der Himmel zwar auch in seinem Klosterleben verdunkelt, er aber durch Unwegsamkeit und Hoffnungslosigkeit hindurch neuen Mut schöpft.
Bruder Paulus
»Wenn der Himmel sich zu schließen droht, kann ein kleiner Ort auf Erden genug sein, um die Welt zu retten.« So lautete die verrückte Hoffnung und der aberwitzige Glaube von Bruder Paulus. Nach einem Jahr, in dem er in Abgründe geblickt hatte, von denen er sich bis dahin kaum hatte vorstellen können, dass es sie überhaupt gibt, war er wieder zu Hause im Kloster seines Lebens. Vieles war passiert. In der Mitte seines Lebens, knapp vierzig Jahre alt, hatte er sich magisch vom Klosterleben angezogen gefühlt. Manche in seiner Umgebung nannten das »Midlifecrisis«. »Das geht vorbei«, unkten alte Freunde. Für ihn war es der Versuch, ein zügelloses Leben, dessen Sinn er immer weniger erkennen konnte, in geordnete Bahnen zu lenken. Warum eigentlich, so fragte er sich heute. Sein Leben war nicht schlecht gewesen. Sowohl im persönlichen als auch im beruflichen Bereich befand er sich immer auf der Überholspur. Müdigkeit war ihm fremd. Wohl hatte er das unbestimmte Verlangen gespürt, eben nicht sein Leben lang das Feld stets von hinten aufrollen zu müssen. Wenn man immer nur vorwärts rennt, ist irgendwann das scheinbare Ziel weder in Sicht noch erreichbar. Er sehnte sich nach einem stabilen Ort, der Bedeutung und Sinn hat und den Ausstieg aus dem auf die Dauer langweiligen Galopp seines bisherigen Lebens ermöglicht. Er hatte sich Stillstand gewünscht, Ankommen, Bleiben. Und genau dieses Verlangen hatte sich nicht stillen lassen, indem er immer weiter Richtung Horizont rannte und sich im Kleinklein verlor. Das Kloster hatte Tiefe und zugleich unendliche Höhe versprochen, aber vor allem: Beständigkeit.
Wie durch Zufall war er auf den Text der Regel des heiligen Benedikt gestoßen. Eine Passage hatte ihn nicht mehr losgelassen, nachdem er entgegen seiner Gewohnheit alle Kapitel mehr als nur einmal und nicht nur diskursiv gelesen hatte. Sie stand ganz am Ende des dünnen Büchleins: »Wenn du also zum himmlischen Vaterland eilst, wer immer du bist, nimm diese einfache Regel als Anfang und erfülle sie mit der Hilfe Christi. Dann wirst du schließlich unter dem Schutz Gottes zu den oben erwähnten Höhen der Lehre und der Tugend gelangen« (RB 73,8–9). Das hatte so wunderbar unprätentiös geklungen. Wenn er ehrlich war, hatten ihn seine eigenen Ansprüche schon lange mehr erschöpft, als er es wahrhaben wollte. Seine »Blutgruppe« war katholisch. Das heißt, dass er sich nie die Frage gestellt hatte, ob er sich vielleicht einer anderen Glaubensrichtung zugehörig fühlte. So wie man eben auch bei einer Blutgruppe nicht wirklich darüber nachdenkt, ob man eine andere oder gar keine haben könnte. Die »Hilfe Christi«, die die Regel hier in Aussicht stellte, hatte er in seinem Leben nie wirklich wahrgenommen, aber er zweifelte auch nicht daran, dass sie vielleicht latent wirksam gewesen war. Sollte es sich lohnen, einmal ganz unten anzusetzen, im Alltag, bei allem, was er tat und unterließ, um entspannt Raum für das Leben zu schaffen, das er mehr liebte als alles andere? Er glaubte an das Leben, ganz fest. Und er war sich sicher, dass jedes Leben sich lohnte.
Genug sollte ab jetzt für ihn in allem genug sein, und das hatte durchaus gut funktioniert. Die ersten Jahre nach seinem Klostereintritt hatten der begeisterten Suche nach Stabilität gegolten, ohne dass er das Gefühl gehabt hatte, auch nur irgendetwas zu verpassen. Im Gegenteil, die Ruhe und Regelmäßigkeit des Klosterlebens, der Sinn hinter allen kleinen Schritten des Alltags waren eine Quelle der Inspiration gewesen. Die Kraft, die ihm aus dem Klosterleben zuwuchs, lag darin, dass man jede noch so kleine Bewegung im Licht des »himmlischen Vaterlandes« verrichtete. Er dachte viel darüber nach, was mit diesem Vaterland gemeint sein könnte, las alte und neue Bücher voller Weisheit. Doch wissen tat er es nicht. Wohl fand er, dass es nicht nur um eine ferne Zukunft gehen konnte. Die Benediktsregel machte Mut. Schon im Prolog las er: »Wer ist der Mensch, der das Leben liebt und gute Tage zu sehen wünscht?« (RB Prolog 15). Es konnte nur um ihn gehen! Was es dann zu tun galt, folgte unmittelbar: »Willst du wahres und unvergängliches Leben, bewahre deine Zunge vor Bösem und deine Lippen vor falscher Rede! Meide das Böse und tu das Gute; suche den Frieden und jage ihm nach!« (RB Prolog 17). Die Ausrufezeichen versetzten ihn beinahe in Ekstase. Ja, das wollte er, ohne Wenn und Aber, und hier im Kloster wusste man, was zu tun war, jeden Tag und jede Stunde!
Bruder Paulus versäumte keines der Stundengebete in der Klosterkirche. Jeden Morgen stand er – entgegen seiner natürlichen Neigung – vor Tagesanbruch auf. Die Stille des Morgens, wenn alles noch schlief, hatte er tagaus, tagein...




