E-Book, Deutsch, 286 Seiten
Quarch Zu sein, zu leben, das ist genug
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-96112-410-7
Verlag: Christoph Quarch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Warum wir Hölderlin brauchen
E-Book, Deutsch, 286 Seiten
ISBN: 978-3-96112-410-7
Verlag: Christoph Quarch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dr. phil. Christoph Quarch, geboren 1964, ist Philosoph, Autor, Sinnstifter und einer der weltweit innovativsten Platon- Spezialisten und Kenner des griechischen Geistes im deutschsprachigen Raum. Er lehrt Ethik und Wirtschaftsphilosophie, ist als Redner und Berater für Unternehmen tätig. Als Radio-Kolumnist ist er freitags in SWR Aktuell zu hören. Zuletzt sind vom ihm folgende Bücher erschienen: Aufbrechen. Philosophische Inspirationen für Reisende (legendaQ 2019)Wo die Seele singt. Über Kunst in Unternehmen (ReMedium 2019)Das große Ja. Ein philosophischer Wegweiser zum Sinn des Lebens (legendaQ 2019)Platon und die Folgen (J.B. Metzler 2019)Seit 20 Jahren veranstaltet er Philosophiereisen, im Jahr 2020 gründete er die akademie_3, die neue platonische Akademie. Christoph Quarch ist verheiratet und lebt mit seiner Frau und den gemeinsamen Kindern in Fulda. www.christophquarch.de
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I. Die Stimme des Gottes. Hölderlins Berufung
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Wer ist Friedrich Hölderlin? Viele schon haben sich an einer Antwort versucht. Manche, indem sie sein Leben minutiös rekonstruierten; andere, indem sie seine Werke sorgfältig interpretierten; wieder andere, indem sie sein Schaffen in den Zusammenhang der geistigen Strömungen seiner Zeit brachten. Alle diese Bemühungen haben eine Flut von Erkenntnissen und Einsichten über Hölderlin zutage gefördert. Und doch umweht den Dichter immer noch die Aura des Geheimnisvollen. Irgendetwas an ihm scheint sich beharrlich allen Deutungsversuchen zu entziehen. Irgendwie will es nicht recht gelingen, sich einen Reim auf diese Gestalt zu machen, deren Dichtung Tausende zutiefst berührt und ergriffen hat und die trotz ihrer oft enigmatischen Sprache noch heute ihre Leser begeistert. Was ist es mit dem Dichter, der als hoffnungsvoller Stiftszögling in Tübingen begann, seine Poesie an dem von ihm verehrten Schiller schulte, mit Hegel und Schelling den deutschen Idealismus aus der Taufe hob, in seinem einzigen Roman seine Liebesbeziehung mit der Frankfurter Bankiersgattin Susette Gontard verewigte, mit seinen späten Hymnen und Elegien zum Wegbereiter der modernen Lyrik wurde … und der zuletzt in geistiger Umnachtung die zweite Hälfte seines Lebens im Turm zu Tübingen fristete?
Tatsächlich sind im Falle Hölderlins das Leben und das Werk des Dichters nicht zu trennen. Die Dichtung ist ihm von Anfang an eine Lebensform, die gleichsam aus seinem Innersten aufkeimt und wächst. Sie ist ebenso Ausdruck der Seele Hölderlins wie sein gelebtes Leben. Will man Werk und Leben Hölderlins verstehen, ist man deshalb gut beraten, sich der Seele des Dichters zuzuwenden – was aber nur gelingt, wenn wir den Mut aufbringen, uns selbst ihm mit der Seele, nicht mit dem Verstand, zuzuwenden: in seine Worte hineinzufühlen, Resonanzen zu entdecken und das Wesentliche seiner Dichtung ebenso wie seines Lebens zu erspüren. Dafür ist es unabdingbar, den Winken zu folgen, die er uns gibt. Wer Friedrich Hölderlin ist, verstehen wir nur, wenn wir ernst nehmen, wie er sich selbst gesehen hat.
Hölderlin sah sich als Sprachrohr eines Göttlichen, das in ihm und durch ihn wirkte. Nicht sah er sich selbst als Urheber der Werke, die er schrieb; so wenig wie des Lebens, das er führte. Er wusste, dass ein Gott in ihm waltete, und wenn es überhaupt möglich ist, diesen Gott zu benennen, dann sah er sich als Stimme oder Sprachrohr des Apollon – jenes alten Griechengottes, dessen vornehmste Aufgabe es war, die Dichter und Sänger zu inspirieren, um durch sie das Sein dieser Welt als etwas Heiliges zur Sprache zu bringen; um durch die Rückbindung an die göttliche Tiefendimension der Wirklichkeit eine Ordnung zu gründen, die es den Menschen erlaubt, in Frieden, Freiheit und Schönheit lebendig zu sein – in Liebe zum Leben zu erblühen.
Hölderlin sah sich als Sänger der Götter. Er wusste um seinen ›spirituellen Auftrag‹, dem er immer treu blieb – bis zur Selbstzerstörung. Denn, wie er selbst bezeugt, zuletzt war er dem Andrang des Heiligen nicht mehr gewachsen: die Leier des Gottes zerbrach und der Dichter fiel in den ›göttlichen Wahnsinn‹, von dem er als junger Student in Platons Dialog erfahren hatte – also bei dem für ihn wohl prägendsten Autor, dem er am Ende der Vorrede zur vorletzten Fassung des die Worte zugerufen hatte: .
So löst sich zuletzt das Mysterium der geistigen Umnachtung, in der Hölderlin seine zweite Lebenshälfte zubrachte: Das Gefäß seines Ichs war unter dem übermächtigen Zustrom der Begeisterung durchs Göttliche zerbrochen. Diese geistige Dimension des Lebens ernst zu nehmen, ist eine wichtige Lektion, die wir heute von Hölderlin lernen können.
Im Arme der Götter. Die Kindheit
Was für ein Satz! Für sich alleine ist er ein Gedicht! Sieben Worte, in denen ein ganzes Leben verdichtet ist. Man muss sie sich auf der Zunge zergehen lassen. Sie schwingen nach. Wer sie einmal wirklich in sich aufnahm, wird sie nie mehr los.
Wie kann ein Mensch so etwas schreiben? Was hat er erfahren? Was ist ihm begegnet? Mit welchen Augen hat er in die Welt geblickt? Was hat seine Seele so gestimmt, dass es ihm möglich wurde, einen solchen Satz zu formulieren?
Wir leben zu Beginn des 21. Jahrhunderts – einer rationalen, säkularen Zeit, in der es nicht geläufig ist, dass man von Göttern spricht; auch nicht davon, dass man als Mensch wachsen könnte. Unsere Gegenwart ist geprägt von Wissenschaft und Technik. Ihren Rhythmus prägt die Wirtschaft. Junge Menschen wachsen heute mit Maschinen – aber nicht im Arm der Götter . Hölderlins Worte sprechen offenbar aus einer Welt, die längst vergangen ist. Aber trotzdem gehen sie uns etwas an. Ja, sie gehen uns nicht an, sondern sie betreffen uns in etwas Wesentlichem – etwas, das nur selten Nahrung findet; etwas, das sich nach Ansprache sehnt.
Was ist es, das durch diese Worte angesprochen und berührt ist? Etwas Zartes, etwas Stilles, das im lärmenden Getriebe dieser digitalisierten, technisierten und ökonomisierten Welt dauernd übertönt oder verleugnet wird. Etwas höchst Lebendiges, das bei aller tosenden Geschäftigkeit unbeirrt an einer echten Sehnsucht festhält: groß zu wachsen, zu gedeihen, zu erblühen, zu reifen, Frucht zu tragen, dann zu welken und zuletzt im Einklang und im Frieden mit der Welt zu sterben – groß zu sein als Mensch, der liebt und leidet, lacht und weint, singt und seufzt, vor allem aber ganz lebendig ist. Dieses Etwas kannten unsere Vorfahren als . Sie ist es, die durch die Worte angesprochen und geweckt wird: aus einer dumpfen Trance, die uns Menschen heute oft benebelt und die uns den Irrsinn dieser Tage dulden lässt.
Wer spricht diese Worte? Wer ruft hier aus welcher Zeit in unsere Welt hinein, um uns an all das zu erinnern, was wir längst vergessen haben? Es ist Friedrich Hölderlin, geboren am 20. März 1770 in Lauffen am Neckar. Er schrieb diese Zeile irgendwann um 1800, war also um die dreißig, als er wehmütig und sehnsuchtsvoll auf die Jahre seiner Kindheit blickte – einer Kindheit, die vom frühen Tod des Vaters überschattet und von Ortswechseln und Unruhe geprägt war, die sich aber gleichwohl tief in seine Seele eingeschrieben hatte: als die Zeit, da er sich aufgehoben fühlte. Das Gedicht, das er mit diesen Worten abschließt, hat er selber nie veröffentlicht. In den Ausgaben seiner Werke findet man es unter einem Titel, der die erste Zeile dieser Dichtung ist:
Diese Worte geben einen Hinweis darauf, wer es ist, der sich durch jene Schlussworte gemeint weiß: Es ist das Kind, das in der Tiefe einer Menschenseele waltet – das spielende, das unschuldige Kind, das Kind mit einem reinen Herzen, das noch ganz das ist, was es zu sein bestimmt ist: ein ein , wie Hölderlin es gerne nannte Ein solches reines, echtes und deshalb heiliges Herz schlägt in unser aller Brust. Und es weiß sich angesprochen, weil die Worte Hölderlins nichts anderes sind als eben dieses Echo, das aus seinem Herzen über 200 Jahre hinweg in unsere Welt tönt. Können wir es hören?
So beginnt ein Gedicht, das der Erinnerung gewidmet ist: an die lang vergangene Zeit der Kindheit – eine Zeit, deren heiterer Himmel schon bald durch dunkle Wolken überschattet wurde. Denn der junge Hölderlin litt unter dem Erziehungswesen seiner Zeit. Er begegnete ihm zunächst in Nürtingen, wo er die Lateinschule besuchte. 1784 absolvierte er mit Erfolg das württembergische Landesexamen. Seine Mutter drängte darauf, dass er, der Tradition ihrer Familie folgend, Pfarrer werden solle – ein Plan, dem er sich zeit seines Lebens tapfer widersetzen würde. Anfangs war das noch nicht abzusehen. Also schickte sie ihn nach Denkendorf, wo er in einem Internat zum Theologen ausgebildet werden sollte. Wie es ihm dort ergangen ist, hat er später in seinem Roman verraten: