E-Book, Deutsch, 298 Seiten
Quadflieg »Ich will lieber schweigen«
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-98568-172-3
Verlag: Kanon Verlag Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Das Tagebuch des Schauspielers aus den Jahren 1945/46 und die Fragen seiner Tochter
E-Book, Deutsch, 298 Seiten
ISBN: 978-3-98568-172-3
Verlag: Kanon Verlag Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
März 1945. Die Rote Armee rückt täglich näher an Berlin heran. Angst und Ver zweifllung grassieren unter der Zivilbevölkerung. Gibt es eine Möglichkeit, zu entkommen? Die Eltern von Roswitha Quadflieg trennen sich. Die Mutter flieht mit zwei Kindern in ihre Heimat Schweden. Der Vater, einer der berühmtesten Schau spieler seiner Zeit, zieht weiter durchs Land, rezitiert Gedichte vor Soldaten der Wehrmacht und fängt an, ein Tagebuch für seine Frau zu schreiben. Als ihre Mutter stirbt, findet Roswitha Quadflieg das Tagebuch zusammen mit zahlreichen Briefen des Vaters. Diese Dokumente zeugen nicht nur von Flucht, Angst, Liebe und der Behauptung einer richtigen deutschen Kultur. Sondern auch von Schuld, falscher Sprache, Lüge und Selbstlüge. Roswitha Quadflieg rekonstruiert 103 Tage im Leben ihres Vaters und konfrontiert ihn posthum damit. Eine beeindruckende Beweisaufnahme, ein erhellendes Zwiegespräch.
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19. März 1945
Heute will ich den Versuch machen, ein Tagebuch zu beginnen. Göttingen 19.III.45
Mitten im chaotischen Treiben der deutschen »Flüchtlingsvölkerwanderung« beginne ich nun in Nordhausen aufzuzeichnen, was mir so durch den Kopf geht. – Da alles, aber auch alles überfüllt ist, und heute kein Zug mehr weiter geht, verbringe ich die Nacht in einem Raum der N.S.V., mitten zwischen Flüchtlingen, die in langen Reihen auf der Erde und auf Stühlen schlafen. Ob ich morgen Dessau erreiche zu einer noch passenden Zeit, um die Vortragsstunde zu halten, ist sehr fraglich. Ich glaube, nun sind auch diese Einsätze bald unmöglich.
Meine Gedanken gehen oft und oft zu Benita und den Kindern in Lübeck. Wann kommen sie nach Schweden? da die Zeit doch so drängt? – Wie sind wir alle wunderlich getrennt! Und doch ist die ruhige Hoffnung in meinem Herzen, dass wir alle es überstehen und uns wiedersehen werden. – In ganz wenigen Tagen geht dieser Krieg zu Ende, das fühle ich stark. Was dann kommt, ist gar nicht zu ermessen. Ich bin langsam sehr müde – ich habe zu wenig Ruhe und Schlaf gehabt. – Die Goethe Stunde vor dem Ensemble des Göttinger Theaters war für mich eine große Freude; und der Aufenthalt bei der Familie Ernst sehr sympathisch. – Das Leid all der armen übermüdeten Kinder geht mir besonders zu Herzen. – Wie wird dieses Volk geprüft! Ich will mich auf einen zugedeckten Billardtisch legen und versuchen da etwas zu schlafen.
19.III.45, 23 Uhr
19. März 45
Ein Montag. Da das Göttinger Theater (ab 1950 Deutsches Theater Göttingen) bereits seit September 1944 wegen Verschärfung der Kriegslage geschlossen ist, muss die Goethe-Rezitation am Vorabend in einem anderen Rahmen stattgefunden haben. Vielleicht bei der erwähnten Familie Ernst? Unmöglich, etwas über sie herauszufinden. Und vielleicht auch nicht so wichtig? Das wird bei jedem Tag, bei jeder Eintragung abzuwägen sein, was dazu herauszufinden Sinn macht, um das Gesamtbild dieser Zeit deutlicher werden zu lassen. Diesen winzigen Ausschnitt großer Weltgeschichte, durch den du dich bewegst und den du hier festgehalten hast. Manchmal werde ich auch auf kleinen Nebenstecken das Gesamtbild umkreisen.
Laut deinen Erinnerungen bist du selbst Mitte Februar 1945, also erst einen Monat zuvor, unter abenteuerlichen Bedingungen mit dem Flüchtlingsstrom aus Breslau (heute Wroclaw in West-Polen) zurückgekommen, wo du angeblich vor ungarischen Soldaten und Zivilbevölkerung rezitieren solltest (wozu es aber nicht mehr gekommen war). Detailgenau schilderst du, wie du zwei Wochen lang einen Treck mit fünf Rollwagen und drei Kutschen bei minus 30 Grad bis Torgau geführt hast. Die letzte Strecke nimmt dich jemand im Auto mit, du gelangst unversehrt in die Reichsstraße 105 (nahe dem Theodor-Heuss-Platz), wo deine schwangere Frau und deine beiden Kinder auf dich warteten. Welch ein Glück! Ich wundere mich, dass dein Tagebuch ohne jedwede Erwähnung dieser gerade überstandenen Strapaze beginnt. Auch in keinem deiner drei Briefe, die du Anfang März 45 an Benita schreibst und mit deren Hilfe ich mich in eure damalige Lebenssituation einzufühlen versuche – Benita befindet sich bereits in Lübeck, der ersten Etappe ihrer Flucht –, ist die Rede davon. In deinen Erinnerungen hingegen belegt die Schilderung des Trecks mehrere Seiten und ist so kenntnisreich, dass sich mir die Frage aufdrängt, ob du dir das alles später aus Büchern oder Filmen gesogen und dich als Hauptfigur in diese Kulisse gestellt hast. Wolltest du wenigstens eine »Heldengeschichte« aus dem Krieg erzählen können, wenn du schon kein Soldat warst? Doch halt! Sowohl ein Brief von dir, geschrieben am 18. Januar 45 in Breslau – du warst dort am frühen Morgen, gemeinsam mit dem Pianisten Hellmut Hideghéti mit dem Nachtzug aus Wien angekommen –, als auch Tagebuch-Eintragungen späteren Datums zerstreuen diesen Gedanken:
18.1.45 Guten Morgen – mein Schatz! In aller Morgenfrühe auf dem chaotisch überfüllten Bahnhof angekommen. […] nun also heute Abend Auftreten in Breslau. […] Hier ist alles voller Flüchtlinge aus dem Osten. Die russische Offensive ist sehr bedrohlich und hat an vielen Stellen die Grenze erreicht. Man rechnet mit einer Evakuierung Breslaus.
Zum Auftritt im Breslauer Militärkrankenhaus kommt es wegen der immer näher rückenden Roten Armee nicht mehr. Und als Gauleiter Karl Hanke die Stadt am nächsten Tag, am 20. Januar 1945, zur Festung erklärte und die »nicht wehrtaugliche Bevölkerung« aufforderte, diese so schnell wie möglich zu verlassen, bist auch du in das Chaos des einsetzenden Flüchtlingsstroms gen Westen geraten. Ein Flüchtlingsstrom, der Familiengeschichten bis heute prägt. Ursprünglich hattest du wahrscheinlich vor, bereits am 22. Januar wieder in Berlin zu sein, um an der Uraufführung deines großen Films Solistin Anna Alt mit Anneliese Uhlig im Marmorhaus am Kurfürstendamm teilzunehmen. Doch es kommt anders.
Einen weiteren frappierenden Beleg für diesen tatsächlich von dir geführten Treck finde ich erst später in dem kleinen Stapel Briefe mit mir unbekannten Absendern. Lavinia zur Nedden, eine ganz offensichtlich »Betroffene«, schreibt am 21. Januar 1946 von London aus an Benita in Schweden: »Meine liebe Benita, gerade heute, ein Jahr nach Anfang des berühmt gewordenen Trecks, wo meine Gedanken sowieso bei der Familie Quadflieg sind, kommt dein Brief!« Die Zeilen zeugen von einer Vertrautheit der beiden Frauen. Also sind sie sich nach dem Ende des Trecks, bevor Benita Berlin verließ, noch begegnet? Schon in einem früheren Brief Lavinias (vom 13. Dezember 1945) ist diese Freundschaft spürbar. Sie dankt Benita auf Englisch dafür, die Verbindung zu ihrem Vater, York zur Nedden, in London hergestellt zu haben, zu dem sie zwischenzeitlich den Kontakt verloren hatte. Nach der Scheidung von York zur Nedden war Lavinias Mutter, eine Deutsche, nach Berlin-Lichterfelde gezogen, und Lavinia hatte offenbar gleich nach ihrer Schulzeit eine Arbeitsstelle in Breslau gefunden. Wie der Kontakt von Benita zu York zur Nedden, einem Angehörigen der British Army, zustande kam, ist unklar. Zwei Briefe von ihm (auf Englisch) vom Mai und September 1945 finden sich ebenfalls in der Kiste. Er übermittelt Benita – offensichtlich auf ihre Anfrage hin – den Namen des Lübecker Militärgouverneurs Cedric Coombewhite. »He is in his civilian profession an artist, has something to do with the artistic part of the theatres here in England. I dare say he might be able to be interested in your scheme.« Hatte Benita gehofft, von diesem der Kunst und Künstlern offensichtlich zugeneigten Gouverneur eine Ausreisegenehmigung für dich nach Schweden zu bekommen? Oder ging es um einen anderen Plan Benitas, ein Kinderhilfswerk, das sie gründen wollte, wie aus Briefen von dir hervorgeht? Warum habe ich sie nie danach gefragt?
Es dauert einige Monate, dann finde ich Lavinias Tochter, Elisabeth Kergorlay, in London, und sie schickt mir Kopien eines schmalen Schulhefts. Das Tagebuch ihrer Mutter, das diese, 18-jährig, während der »Treck-Tage« im Januar 1945 (auf Deutsch) führte. Außerdem stellt sie mir die Erinnerungen zur Verfügung, die ihre Mutter
Doppelseite aus Lavinia zur Neddens Tagebuch
1990, inzwischen 63-jährig, für sie, ihre Tochter, aufschrieb (auf Englisch). Sachlicher selbstverständlich, aber aufschlussreich. In ihr Schulheft schreibt Lavinia, dass sie dich, den berühmten Schauspieler, auf dem Plakat für die geplante Veranstaltung erkannt, im Monopol-Hotel Kontakt zu dir aufgenommen und dir angeboten habe, mit ihr und anderen die Stadt per Pferdewagen zu verlassen. 1990 notiert sie dazu: »It was completely crazy, crazy things you do when you are very young, living only for the day.« Du hattest bereits festgestellt, dass weder Autos noch Züge fuhren, und dieses Angebot als »Wink des Himmels« angenommen. Lavinia berichtet von acht Pferdewagen, die sie mit »Orientteppichen« auslegten, um sich gegen die Kälte zu schützen, von sechsundfünfzig Menschen, die sich anschlossen, und davon, dass du den Treck geleitet hast und sie neben dir auf dem Kutschbock saß. Zu viert – du, Hellmut Hideghéti, ihre Freundin Ilse und sie – fandet ihr Nachtlager im Stroh oder, wenn ihr Glück hattet, ein Zimmer in einem Gehöft. Die Kälte kroch euch in die Glieder – minus 20 Grad –, ihr wärmtet euch, ihr hattet Hunger, ihr mochtet euch. Am Abend des dritten Tages, in Bunzlau angekommen, rezitiertest du »moderne Gedichte«. Sie sei sehr bewegt gewesen, bei Hermann Hesse seien ihr die Tränen gekommen. Am 25. Januar brechen ihre Eintragungen – mitten auf einer der Tagebuchseiten – ab. Warum, ist in keiner Weise ersichtlich. Wie Lavinia damals nach Berlin gelangte, während du die letzte Strecke angeblich in einem Auto mitgefahren bist, ist unklar.
Später dolmetschte die junge Frau für die Amerikaner in Berlin, ging dann nach London und fand eine Stelle in der Schallplatten-Firma von Walter Legge, dem Mann ihrer Patentante Elisabeth Schwarzkopf. In zweiter Ehe heiratete sie Roland de Kergorlay in Brüssel, »European Commission’s Directorate-General for external relations«, bekam eine Tochter, kehrte in hohem Alter nach Berlin zurück und starb hier 2023. Ich hätte sie noch kennenlernen können!
Am 19. März 1945 spielt der...